Lenins Kritische Notizen zur Nationalen Frage, geschrieben Oktober-November 1913.
Dass die nationale Frage gegenwärtig unter den Fragen des öffentlichen Lebens Russlands einen hervorragenden Platz einnimmt, ist offensichtlich. Sowohl der streitbare Nationalismus der Reaktion, als auch der Übergang des konterrevolutionären bürgerlichen Liberalismus zum Nationalismus (namentlich zum großrussischen, aber auch zum polnischen, jüdischen, ukrainischen usw.) sowie die Zunahme der nationalistischen Schwankungen innerhalb der verschiedenen „nationalen“ (d. h. nicht großrussischen) sozialdemokratischen Parteien, die bis zur Verletzung des Parteiprogramms führten – das alles verpflichtet uns unbedingt, der nationalen Frage mehr Aufmerksamkeit als bisher zu widmen.
Der vorliegende Aufsatz verfolgt ein besonderes Ziel: diese Programmschwankungen der Marxisten und Auch-Marxisten in der nationalen Frage im allgemeinen Zusammenhang zu prüfen. Ich hatte Gelegenheit, in Nr. 29 der „Sewernaja Prawda“ (vom 5. September 1913: „Liberale und Demokraten in der Sprachenfrage“) vom Opportunismus der Liberalen in der nationalen Frage zu sprechen. Über diesen meinen Aufsatz fiel in einer Kritik des Herrn F. Libman1 die opportunistische jüdische Zeitung „Zait“ her. Von anderer Seite ist der ukrainische Opportunist Herr Lew Jurkewitsch mit einer Kritik des Programms der russischen Marxisten in der nationalen Frage hervorgetreten („Dswin“, Nr. 7–8, 19132), Diese beiden Kritiker haben so viele Fragen angeschnitten, dass es, um ihnen zu erwidern, notwendig ist, die verschiedensten Seiten unseres Themas zu erörtern. Mir scheint es daher am praktischsten, mit dem Abdruck des Aufsatzes aus der „Sewernaja Prawda“ zu beginnen.
I. Liberale und Demokraten zur Sprachenfrage
Die Zeitungen haben des öfteren auf den Bericht des kaukasischen Statthalters hingewiesen, der sich nicht durch den Geist der Schwarzhunderter, sondern durch einem schüchternen „Liberalismus“ auszeichnet. Der Statthalter spricht sich u. a. gegen die künstliche Russifizierung nichtrussischer Völkerschaften aus. Im Kaukasus seien die Vertreter der nichtrussischen Völkerschaften selbst bestrebt, den Kindern die Kenntnis der russischen Sprache beizubringen, z. B. im den armenischem Kirchenschulen, in denen der Unterricht in der russischen Sprache nicht obligatorisch ist.
Unter Hinweis auf diese Tatsache zieht eine der verbreitetsten liberalen Zeitungen in Russland, nämlich das „Russkoje Slowo“ (Nr. 198), den richtigen Schluss, dass das feindliche Verhalten gegenüber der russischen Sprache in Russland „lediglich“ durch die „künstliche“ (richtig sollte es heißen: gewaltsame) Verbreitung der russischem Sprache „bedingt“ sei.3
„Um das Schicksal der russischen Sprache braucht man nicht besorgt zu sein. Sie wird sich selbst die Anerkennung in ganz Russland erobern“, schreibt die Zeitung. Auch das ist richtig, da die Bedürfnisse des Wirtschaftsverkehrs die in einem Staat lebenden Nationalitäten (solange sie beisammen bleiben wollen) stets zwingen werden, die Sprache der Mehrheit zu erlernen. Je demokratischer die Staatsform Russlands sein wird, desto stärker, schneller und breiter wird sich der Kapitalismus entwickeln, desto zwingender werden die Bedürfnisse des Wirtschaftsverkehrs die verschiedenen Nationalitäten zum Erlernen der für die allgemeinen Handelsbeziehungen geeignetsten russischen Sprache drängen.
Aber die liberale Zeitung hat es eilig, sich selbst zu widerlegen und ihre liberale Inkonsequenz zu beweisen.
„Es wird“, schreibt sie, „sogar unter den Gegnern der Russifizierung kaum jemand bestreiten, dass in einem solchen Riesenstaat wie Russland eine allgemeine Staatssprache sein muss und dass diese Sprache … nur die russische sein kann.“
Eine verkehrte Logik! Für die kleine Schweiz ist es kein Verlust, sondern ein Gewinn, dass sie nicht eine allgemeine Staatssprache, sondern deren ganze drei besitzt: Deutsch, Französisch und Italienisch. In der Schweiz sind 70 Prozent der Bevölkerung Deutsche (in Russland 43 Prozent Großrussen), 22 Prozent Franzosen (in Russland 17 Prozent Ukrainer), 7 Prozent Italiener (in Russland 6 Prozent Polen und 4% Prozent Weißrussen). Wenn die Italiener im gemeinsamem Parlament der Schweiz oft französisch sprechen, so tun sie das nicht unter dem Zwang irgendeiner barbarischen Polizeiverordnung (so etwas gibt es in der Schweiz nicht), sondern einfach deshalb, weil zivilisierte Bürger eines demokratischen Staates eine der Mehrheit verständliche Sprache selbst vorziehen. Die französische Sprache flößt den Italienern keinen Hass ein, da sie die Sprache einer freien, zivilisierten Nation ist, die durch keine scheußlichen Polizeimaßnahmen aufgedrängt wird.
Warum soll nun das „riesengroße“, viel buntere und furchtbar rückständige Russland seine Entwicklung durch die Aufrechterhaltung irgendeines Privilegs für eine der Sprachen hemmen? Ist es nicht umgekehrt, meine Herren Liberalen? Soll nicht Russland, wenn es Europa einholen will, sobald wie möglich, so gründlich und so entschlossen wie möglich mit sämtlichen Privilegien aller Art Schluss machen?
Sobald sämtliche Privilegien wegfallen und die Aufdrängung einer der Sprachen aufhört, werden alle Slawen leicht und schnell einander verstehen lernen und vor dem „furchtbaren“ Gedanken, nicht zurückschrecken, dass im gemeinsamen Parlament die Reden in verschiedenen Sprachen zu hören sein werden. Die Bedürfnisse des Wirtschaftsverkehrs werden vom selbst diejenige Sprache des gegebenen Landes bestimmen, deren Kenntnis der Mehrheit im Interesse der wirtschaftlichem Beziehungen förderlich ist. Und diese Bestimmung wird um so zwingender sein, als die Bevölkerung der verschiedenen Nationen sie freiwillig annehmen wird, sie wird um so rascher erfolgen und um so umfassender sein, je konsequenter die Demokratie und je schneller infolgedessen die Entwicklung des Kapitalismus sein wird.
Die Liberalen treten auch an die Sprachenfrage, wie an alle politischen Fragen, wie heuchlerische Krämer heran, in der Weise, dass sie die eine Hand (offen) der Demokratie, die andere (hinter dem Rücken) den Fronherren und der Polizei entgegenstrecken. Wir sind gegen Privilegien, schreit der Liberale, aber hinter dem Rücken erhandelt er von den Fronherren für sich dieses oder jenes Privileg.
So ist jeder liberal-bürgerliche Nationalismus, nicht nur der großrussische (er ist infolge seines gewalttätigen Charakters und seiner Verwandtschaft mit den Herren von der Art Purischkjewitschs schlimmer als die anderen), sondern auch der polnische, jüdische, ukrainische, georgische und jeder andere. Die Bourgeoisie aller Nationen sowohl in Österreich als auch in Russland betreibt unter der Losung der „nationalen Kultur“ in Wirklichkeit die Spaltung der Arbeiter, die Schwächung der Demokratie und den Kuhhandel mit den Fronherren, denen sie die Volksrechte und die Volksfreiheit verschachert.
Die Losung der Arbeiterdemokratie heißt nicht „nationale Kultur“, sondern internationale Kultur der Demokratie und der Arbeiterbewegung der ganzen Welt. Mag die Bourgeoisie das Volk mit Hilfe allerhand „positiver“ nationaler Programme betrügen, der klassenbewusste Arbeiter wird ihr entgegnen: Es gibt eine einzige Lösung der nationalen Frage (so weit ihre Lösung in der Welt des Kapitalismus, in der Welt des Profits, des Haders und der Ausbeutung überhaupt möglich ist), und diese Lösung ist die konsequente Demokratie.
Die Beweise: in Westeuropa die Schweiz, ein Land mit alter Kultur, und in Osteuropa Finnland, ein Land mit junger Kultur.
Das Programm der Arbeiterdemokratie in der nationalen Frage: auf keinen Fall irgendwelche Privilegien für irgendeine Nation, für irgendeine Sprache; Lösung der Frage der politischen Selbstbestimmung der Völker, d. h. ihrer staatlichen Lostrennung auf durchaus freiem, demokratischem Wege; Erlass eines für den ganzen Staat geltenden Gesetzes, kraft dessen jedwede Maßnahme (der Semstwos, der Städte, der Gemeinden u. dergl.), die in irgendwelcher Hinsicht einer der Nationen ein Privileg gewährt und die Gleichberechtigung der Nationen oder die Rechte der Minderheiten verletzt, für ungesetzlich und nichtig erklärt wird, – und jeder Staatsbürger ist berechtigt, die Aufhebung einer solchen verfassungswidrigen Maßnahme und die gerichtliche Bestrafung desjenigen zu verlangen, der eine solche Maßnahme durchsetzen wollte.
Der nationalen Fehde der verschiedenen bürgerlichen Parteien in der Sprachenfrage usw. stellt die Arbeiterdemokratie im Gegensatz zu jedem bürgerlichen Nationalismus die Forderung entgegen: unbedingte Einheit und restlose Verschmelzung der Arbeiter aller Nationalitäten in allen Gewerkschafts-, Genossenschafts-, Konsum-, Bildungs- und anderen Arbeiterorganisationen. Nur eine solche Einheit und Verschmelzung kann die Demokratie und die Interessen der Arbeiter gegen das Kapital, das bereits international ist und immer internationaler wird, kann die Interessen der Entwicklung der Menschheit zu einer neuen, jedem Privileg und jeder Ausbeutung abholden Lebens-Gestaltung verteidigen.
II. Die „nationale Kultur“
Wie der Leser sieht, erläutert der Aufsatz in der „Sewernaja Prawda“ an Hand eines Beispiels, und zwar der Frage der allgemeinen Staatssprache, die Inkonsequenz und den Opportunismus der liberalen Bourgeoisie, die in der nationalen Frage den Fronherren und der Polizei die Hand reicht. Es ist für jedermann einleuchtend, dass die liberale Bourgeoisie so wie in der Frage der allgemeinen Staatssprache auch in einer ganzen, Reihe anderer, wesensverwandter Fragen ebenso verräterisch, heuchlerisch und stumpfsinnig (sogar vom Standpunkt der Interessen des Liberalismus) handelt.
Was ist daraus zu folgern? Dass jeder liberal-bürgerliche Nationalismus in die Reihen der Arbeiterschaft die größte Demoralisation hinein trägt und der Sache der Freiheit und des proletarischen Klassenkampfes den größten Schaden zufügt. Das ist um so gefährlicher, als die bürgerliche (und bürgerlich-feudale Tendenz mit der Losung der „nationalen Kultur“ bemäntelt wird. Im Namen der „nationalen Kultur“ – der großrussischen, polnischen, jüdischen, ukrainischen usw. – besorgen die Schwarzhunderter, die Klerikalen und dann auch Bourgeois aller Nationen ihr reaktionäres, schmutziges Geschäftchen.
So stellen sich die Tatsachen des gegenwärtigen nationalen Lebens dar, wenn man es marxistisch, d. h. vom Standpunkt des Klassenkampfes betrachtet und die Losungen auf Grund: der Interessen und der Politik der Klassen und nicht nach den leeren, „allgemeinem Grundsätzen“, Deklamationen, und Phrasen beurteilt.
Die Losung der nationalen Kultur ist ein bürgerlicher (und oft auch ein erzreaktionär-klerikaler) Betrug. Unsere Losung ist die internationale Kultur der Demokratie und der Arbeiterbewegung der ganzen Welt.
An dieser Stelle eröffnet der Bundist Herr Libman den Kampf und zermalmt mich mit der folgenden vernichtenden Tirade:
.Jeder, der nur einigermaßen mit der nationalen Kultur vertraut ist, weiß, dass die internationale Kultur keine unnationale Kultur (Kultur ohne nationale Form) ist; die unnationale Kultur, die weder russisch noch jüdisch, noch polnisch, sondern nur reine Kultur sein darf, ist ein Unding; die internationalen Ideen können der Arbeiterklasse nur dann nahe gebracht werden, wenn sie der Sprache, in der der Arbeiter spricht, und den konkreten nationalen Verhältnissen, in welchen er lebt, angepasst sind; der Arbeiter darf dem Stand und der Entwicklung seiner nationalen Kultur nicht gleichgültig gegenüberstehen, da er durch sie und nur durch sie die Möglichkeit bekommt, an der internationalen Kultur der Demokratie und der Arbeiterbewegung aller Länder teilzunehmen. Das ist längst bekannt, aber W. I. will von alldem nichts wissen …“
Man denke sich in diesen für einen Bundisten typischen Gedankengang ganz hinein, der – man höre – die von mir aufgestellte marxistische These zerstören soll. Mit der ungemein selbstbewussten Miene eines „mit der nationalen Frage vertrauten“ Menschen unterbreitet uns der Herr Bundist die üblichen bürgerlichen Ansichten als „längst bekannte“ Wahrheiten.
Jawohl, liebenswürdiger Bundist, die internationale Kultur ist nicht unnational. Das hat niemand behauptet. Niemand hat eine „reine“ Kultur – weder eine polnische noch eine jüdische noch eine russische usw. – proklamiert, so dass Ihr leerer Wortschwall nur ein Versuch ist, die Aufmerksamkeit des Lesers .abzulenken und das Wesen der Angelegenheit durch einen Schwall von Worten zu verschleiern
In jeder nationalen Kultur gibt es – wenn auch unentwickelte – Elemente demokratischer und sozialistischer Kultur, da jede Nation eine werktätige und ausgebeutete Masse besitzt, deren Lebensbedingungen unvermeidlich eine demokratische und sozialistische Ideologie erzeugen. Aber in jeder Nation gibt es auch eine bürgerliche Kultur (und in der Mehrzahl der Fälle eine noch erzreaktionäre und klerikale), und zwar nicht nur in der Form von „Elementen“, sondern als herrschende Kultur. Deshalb ist die „nationale Kultur“ im Allgemeinen die Kultur der Agrarier, der Pfaffen und der Bourgeoisie. Diese grundlegende, für den Marxisten, elementare Wahrheit hat der Bundist unbeachtet gelassen und mit seinem Wortschwall „aus der Welt geredet“, d. h. er hat den Abgrund zwischen den Klassen, anstatt ihn aufzudecken und aufzuhellen, in Wirklichkeit vor dem Leser verschleiert. Der Bundist ist in Wirklichkeit als Bourgeois aufgetreten, dessen ganzes Interesse die Verbreitung des Glaubens an eine über den Klassen stehende nationale Kultur verlangt
Wenn wir die Losung der „internationalen Kultur der Demokratie und der Arbeiterbewegung der ganzen Welt“ ausgeben, entnehmen wir jeder nationalen Kultur lediglich ihre demokratischen und sozialistischen Elemente; nur diese entnehmen wir und nur ausschließlich als Gegengewicht gegen die bürgerliche Kultur, den bürgerlichen Nationalismus jeder Nation. Kein Demokrat und erst recht kein Marxist verneint die Gleichberechtigung der Sprachen oder die Notwendigkeit, in der eigenen Sprache mit der „eigenen“ Bourgeoisie zu polemisieren, antiklerikale und antibürgerliche Ideen unter der „eigenen“ Bauernschaft und unter dem „eigenen“ Kleinbürgertum zu propagieren – das ist selbstverständlich, aber der Bundist verschleiert mit diesen unbestreitbaren Wahrheiten das Strittige, d. h. das, worin tatsächlich das Problem enthalten ist.
Die Frage ist die, ob es für Marxisten zulässig ist, direkt oder indirekt die Losung der nationalen Kultur auszugeben, oder ob sie unbedingt gegen sie in allen Sprachen, „in Anpassung“ an alle lokalen und nationalen Eigenschaften die Losung des Internationalismus der Arbeiter propagieren sollen.
Die Bedeutung der Losung der „nationalen Kultur“ wird nicht durch das Versprechen oder die gute Absicht des betreffenden Intellektuellen bestimmt, diese Losung „im Sinne der Verwirklichung der internationalen Kultur mittels der nationalen Kultur „auszulegen“. Es wäre kindischer Subjektivismus, die Dinge so zu sehen. Die Bedeutung der Losung der nationalen Kultur wird durch die objektiven Wechselbeziehungen zwischen allen Klassen des gegebenen Landes und aller Länder der Welt bestimmt. Die nationale Kultur der Bourgeoisie ist eine Tatsache (wobei, wie schon bemerkt, die Bourgeoisie überall mit den Grundherren und den Pfaffen Kompromisse eingeht). Der streitbare bürgerliche Nationalismus, der die Arbeiter stumpfsinnig macht, sie zum Besten hält und untereinander entzweit, um sie an der Leine der Bourgeoisie zu führen – das ist die Grundtatsache der Gegenwart.
Wer dem Proletariat dienen will, der muss die Arbeiter aller Nationen vereinigen und den bürgerlichen Nationalismus, sowohl den „eigenen“ als auch den fremden, standhaft bekämpfen. Wer die Losung der nationalen Kultur in Schutz nimmt, der gehört zu den nationalistischen Kleinbürgern und nicht zu den Marxisten.
Nehmen wir ein konkretes Beispiel. Kann ein großrussischer Marxist die Losung der nationalen großrussischen Kultur annehmen? Nein. Ein solcher Mensch gehört zu den Nationalisten und nicht zu den Marxisten. Unsere Aufgabe ist es, gegen die herrschende erzreaktionäre und bürgerliche nationale Kultur der Großrussen zu kämpfen und ausschließlich in internationalem Geiste und in engstem Kontakt mit den Arbeitern der anderen Länder diejenigen Keime zu entwickeln, die auch in unserer Geschichte der demokratischem und proletarischen Bewegung vorhanden sind. Unsere großrussischen Grundherren und Bourgeois und ihre „Kultur“ im Namen des Internationalismus und „in Anpassung“ an die Eigenheiten der Herren Purischkjewitsch und Struve zu bekämpfen, das ist unsere Aufgabe. Keinesfalls aber haben wir die Losung der nationalen Kultur zu verkünden und zu dulden.
Das gleiche gilt vom der am meisten unterdrückten und gehetztem Nation: der jüdischen. Die jüdische nationale Kultur ist die Losung der Rabbiner und Bourgeois, die Losung unserer Feinde. Aber es gibt in der jüdischen Kultur und in der ganzen Geschichte des Judentums auch andere Elemente. Von den 10½ Millionen Juden des Erdballs lebt etwas mehr als die Hälfte in Galizien und im Russland, in rückständigen, halb-barbarischem Ländern, wo die Juden mit Gewalt gezwungen werden, als Kaste zu leben. Die andere Hälfte lebt in zivilisierten Ländern, wo es keine kastenmäßige Absonderung der Juden gibt. Dort haben sich die großen universal-fortschrittlichen Züge der jüdischen Kultur: ihr Internationalismus, ihre Empfänglichkeit für die fortschrittlichen Bewegungen des Zeitalters (der Prozentsatz der Juden in den demokratischen und proletarischen Bewegungen ist überall höher als der Prozentsatz der Juden innerhalb der Gesamtbevölkerung) klar und deutlich gezeigt.
Wer direkt oder indirekt die Losung der jüdischen „nationalen Kultur“ aufstellt, der (mögen seine Absichten noch so gut gemeint sein) ist ein Feind des Proletariats, ein Anhänger des Alten und des Kastenmäßigen im Judentum und ein Helfershelfer der Rabbiner und der Bourgeois. Jene jüdischen Marxisten dagegen, die sich in den internationalen marxistischen Organisationen mit den russischen, litauischen, ukrainischen und anderen Arbeitern zusammenschließen und so ihr Teil (in russischer oder jüdischer Sprache) dazu beitragen, die internationale Kultur der Arbeiterbewegung zu schaffen – jene Juden setzen dadurch, dass sie die Losung der „nationalen Kultur“ bekämpfen, entgegen dem Separatismus des Bund die besten Traditionen des Judentums fort.
Der bürgerliche Nationalismus und der proletarische Internationalismus – das sind zwei unversöhnlich feindliche Losungen, die den zwei großem Klassenlagern der ganzem kapitalistischen Welt entsprechen und zwei Arten der Politik (mehr noch: zwei Weltanschauungen) im der nationalen Frage ausdrücken. Wenn die Bundisten die Losung der .nationalen Kultur verteidigen und auf ihr einen ganzen Plan und ein praktisches Programm der sogenannten „national-kulturellen Autonomie“ bauen, treten sie innerhalb der Arbeiterschaft in Wirklichkeit als Schrittmacher des bürgerlichem Nationalismus auf.
III. Das nationalistische Schreckgespenst des „Assimilantentums“
Die Frage des AssimilantentumsA, d. h. des Verlustes der nationalen Eigenarten, des Übergangs zu einer anderen Nation bietet die Möglichkeit, die Folgen der nationalistischen Schwankungen der Bundisten .und ihrer Gesinnungsgenossen in anschaulicher Weise darzustellen.
Herr Libman, der die üblichen Argumente, richtiger: die Praktiken der Bundisten getreulich weitergibt und wiederholt, nannte die Forderung nach Einheit und Zusammenschluss der Arbeiter aller Nationalitäten eines Staates im einheitlichen Arbeiterorganisationen (s. oben den Schluss des Aufsatzes in der „Sewernaja Prawda“) „altes Assimilantengerede“.
„Folglich“, sagt Herr F. Libman über den Schluss des Aufsatzes in der „S.P.“, „soll der Arbeiter auf die Frage, welcher Nationalität er angehört, antworten: Ich bin Sozialdemokrat.“
Das hält unser Bundist für den Gipfel der Witzigkeit. In Wirklichkeit entlarvt er sich endgültig durch solche Witze und durch das Geschrei über das „Assimilantentum“, das gegen die folgerichtig demokratische und marxistische Losung gerichtet ist.
Der in Entwicklung begriffene Kapitalismus kennt in der nationalen Frage zwei historische Tendenzen. Die erste Tendenz: Erwachen des nationalen Lebens und der nationalen Bewegungen, Kampf gegen jede nationale Unterdrückung, Gründung vom Nationalstaaten. Die zweite Tendenz: Entwicklung und Verdichtung der verschiedenerlei Beziehungen zwischen den Nationen, Niederreißen der nationalen Schranken, Bildung der internationalen Einheit des Kapitals, des Wirtschaftslebens überhaupt, der Politik, der Wissenschaft usw.
Beide Tendenzen sind das Universalgesetz des Kapitalismus. Die erste überwiegt im Anfangsstadium seiner Entwicklung, die zweite kennzeichnet dem reifen, der Umwandlung in die sozialistische Gesellschaftsform entgegengehenden Kapitalismus. Das marxistische Programm in der nationalen Frage rechnet mit beiden Tendenzen, da es erstens die Gleichberechtigung der Nationen und Sprachen, die Unzulässigkeit irgendwelcher sprachlicher oder nationaler Privilegien (sowie auch das nationale Selbstbestimmungsrecht, wovon noch weiter unten die Rede sein wird) und zweitens den Grundsatz des Internationalismus und des unversöhnlichem Kampfes gegen die Verseuchung des Proletariats mit dem bürgerlichen Nationalismus und sei es auch dem verfeinertsten, verficht.
Worum handelt es sich also bei unserem Bundisten, wenn er über das „Assimilantentum“ wehklagt? Von Gewalttaten gegen Nationen, von Privilegien einer der Nationen konnte er hier nicht reden, da der Ausdruck „Assimilantentum“ hier überhaupt nicht passt: denn alle Marxisten, sowohl einzeln wie auch als offizielles, einheitliches Ganzes, haben selbst die geringste nationale Gewalttat, Unterdrückung und Rechtsungleichheit bestimmt und unzweideutig verurteilt. Schließlich ist auch in den Aufsatz der „Sewernaja Prawda“, über den der Bundist herfällt, dieser allgemeine marxistische Gedanke mit unbedingter Entschiedenheit ausgesprochen.
Nein. Hier sind Ausflüchte unmöglich. Als Herr Libman das Assimilantantum“ verurteilte, verstand er darunter nicht Gewalttaten, nicht die Rechtsungleichheit, nicht Privilegien. Bleibt nun in dem Begriff des Assimilantentums nach Abstrich jeglicher Gewalt und jeglicher Rechtsungleichheit noch etwas Reales enthalten?
Unbedingt. Es bleibt jene welthistorische Tendenz des Kapitalismus zur Niederreißung der nationalen Schranken, zur Verwischung der nationalen Unterschiede, zur Assimilierung der Nationen bestehen, die mit jedem Jahrzehnt immer mächtiger hervortritt und eine der größten Triebkräfte darstellt, die den Kapitalismus in den Sozialismus verwandeln.
Derjenige, der die Gleichberechtigung der Nationen und Sprachen nicht anerkennt und verteidigt und nicht jede nationale Unterdrückung und Ungleichheit bekämpft, ist kein Marxist, er ist nicht einmal ein Demokrat. Das unterliegt keinem Zweifel. Aber ebenso zweifelsfrei ist, dass ein solcher Auch-Marxist der den Marxisten einer anderem Nation wegen „Assimilantentums“, was das Zeug hält, beschimpft, in Wirklichkeit nichts anderes als ein nationalistischer Kleinbürger ist. Zu dieser wenig achtbaren Menschensorte gehören alle Bundisten und (wie wir gleich sehen werden) die ukrainischen Nationalsozialisten vom Schlage der Herren L. Jurkewitsch, Donzow und Kompanie.
Um das Reaktionäre in den Anschauungen dieser nationalistischen Kleinbürger in vollem Umfange und konkret zu zeigen, werden wir einen dreifachen Beweis führen.
Am meisten wettern gegen das „Assimilantantum“ der russischen orthodoxen Marxisten die jüdischen Nationalisten in Russland überhaupt und unter ihnen besonders die Bundisten. Wie jedoch aus den oben angeführten Angaben, hervorgeht, lebt in den zivilisierten Staaten ungefähr die Hälfte der 10½ Millionen Juden der Welt in einer Atmosphäre des größten „Assimilantentums“, während nur die unglücklichen, eingeschüchterten und rechtlosen, von den (russischen und polnischen) Purischkjewitsch zu Boden gedrückten Juden Russlands und Galiziens in Verhältnissen des geringsten „Assimilantentums“, unter größter, bis zu „Ansiedlung in bestimmten Gebieten“ sowie zum „Numerus clausus“ und anderen Purischkjewitsch-Herrlichkeiten gehender Absonderung leben.
Die Juden sind in den zivilisierten Ländern keine Nation; sie haben sich dort am meisten assimiliert, sagen K. Kautsky und O. Bauer. Die Juden in Galizien und in Russland sind keine Nation; sie sind hier leider (u. zw. nicht durch ihre, sondern durch die Schuld der Herren Purischkjewitsch) noch eine Kaste. Das ist das unbestrittene Urteil unleugbarer Kenner der jüdischen Geschichte, die die oben angeführten Tatsachen in Betracht ziehen.
Was besagen diese Tatsachen? Dass gegen das „Assimilantantum“ nur die reaktionären jüdischen Kleinbürger ein Geschrei erheben können, die das Rad der Geschichte zurückdrehen und es nicht von den Zuständen in Galizien und Russland, zu den Zustanden in Paris und New York, sondern umgekehrt laufen lassen wollen.
Die besten Männer des Judentums, Leute von Weltruf, die der Welt Führer der Demokratie und des Sozialismus gegeben haben, waren nie gegen das Assimilantentum. Gegen das Assimilantentum wettern nur die andächtigen Beschauer des jüdischen „Rückwärts“.
Eine annähernde Vorstellung davon, in welchem Umfang sich der Assimilationsprozess der Nationen unter den modernen Verhältnissen des vorgeschrittenen Kapitalismus vollzieht, kann man sich z. B. auf Grund der Einwandererzahlen der Ver. Staaten machen. Im Laufe von zehn Jahren (1891-1900) sind dort aus Europa 3,7 Millionen Personen und in der Zeit von neun Jahren (1901–1909) 7,2 Millionen Personen eingewandert. Bei der Volkszählung in den Ver. Staaten vom Jahre 1900 wurden über 10 Millionen Ausländer gezählt. Der Staat New York, der nach dieser Volkszählung vom über 78.000 Österreichern, 136.000 Engländern, 20.000 Franzosen, 480.000 Deutschen, 37.000 Ungarn, 425.000 Iren, 182.000 Italienern, 70.000 Polen, 166.000 aus Russland .Eingewanderten (größtenteils Juden), 43.000 Schweden usw. bewohnt wird, ähnelt einer Mühle, die die nationalen Unterschiede vermahlt. Und was im großem, internationalen Ausmaß in New York vor sich geht, geschieht in jeder großen Stadt und in jeder Fabriksiedlung.
Wer nicht in nationalem Vorurteilen steckt, der kann nicht umhin, in diesem Prozess der Assimilation, der Nationen durch dem Kapitalismus einen gewaltigen geschichtlichen Fortschritt, die Zerstörung der nationalen Verknöcherung verschiedener entlegener Gegenden, namentlich in den rückständigen Ländern vom der Art Russlands, zu erblicken.
Nehmen wir Russland und das Verhältnis der Großrussen zu den Ukrainern. Selbstredend wird jeder Demokrat, von dem Marxisten gar nicht zu reden, die unerhörte Erniedrigung der Ukrainer entschieden bekämpfen und für sie die volle Gleichberechtigung verlangen. Aber es wäre ein glatter Verrat am Sozialismus und eine törichte Politik sogar vom Standpunkt der bürgerlichem „nationalen Aufgaben“ der Ukrainer aus, den jetzt innerhalb eines Staates bestehenden Zusammenhang und das Bündnis des ukrainischen und großrussischen Proletariats zu schwächen.
Herr Lew Jurkewitsch, der sich auch einem „Marxisten“ nennt (armer Marx!), stellt ein Musterbeispiel dieser törichten Politik dar. Im Jahre 1906, schreibt Herr Jurkewitsch, haben Sokolowski (Bassok) und Lukaschewitsch (Tutschapski) behauptet, dass das ukrainische Proletariat gänzlich russifiziert sei und einer besonderem Organisation, nicht bedürfe. Ohne den Versuch zu machen, auch nur eine einzige Tatsache in Bezug auf das Wesen der Angelegenheit anzuführen, fällt Herr Jurkewitsch über beide her und jammert hysterisch, ganz im Geiste des niedrigsten, stumpfsinnigsten und reaktionärsten Nationalismus, dass das „nationale Passivität“, „nationale Entsagung“ sei, dass diese Leute „die ukrainischen Marxisten gespalten (!!) haben“ usw. Bei uns sei jetzt ungeachtet des „Aufschwungs des ukrainischen Nationalbewusstseins unter den Arbeitern“ die Minderheit der Arbeiter „nationalbewusst“, während die Mehrheit – versichert Herr Jurkewitsch – „noch unter dem Einfluss der russischen Kultur steht“. Unsere Aufgabe, ruft der nationalistische Kleinbürger aus, sei es, „nicht dem Massen zu folgen, sondern sie zu führen und ihnen die nationalen Aufgaben klarzumachen“ („Dswin“, S. 89.).
Dieser ganze Gedankengang des Herrn Jurkewitsch ist durch und durch bürgerlich-nationalistisch. Aber sogar vom Standpunkte der bürgerlichen Nationalisten aus, von denen die einen die volle Gleichberechtigung und Autonomie der Ukrainer, die anderen einen unabhängigen ukrainischen Staat verlangen, hält diese Auffassung der Kritik nicht stand. Gegner der Freiheitsbestrebungen der Ukrainer sind die Klasse der großrussischen und polnischen Grundherren sowie die Bourgeoisie dieser beiden Nationen. Welche soziale Macht ist zur Abwehr gegen diese Klassen fähig? Das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hat eine faktische Antwort auf diese Frage gegeben: diese Macht ist einzig und allein die Arbeiterklasse, welche die demokratische Bauernschaft anführt. Durch sein Bestreben, die wirklich demokratische Macht, bei deren Sieg die nationale Vergewaltigung unmöglich wäre, zu spalten und somit zu schwächen, verrät Herr Jurkewitsch die Interessen nicht nur der Demokratie überhaupt, sondern auch die seiner Heimat, der Ukraine. Bei einheitlicher Aktion der großrussischen und der ukrainischem Proletarier ist eine freie Ukraine möglich, ohne eine solche Einigkeit kann von einer freien Ukraine keine Rede sein.
Die Marxisten beschränken sich jedoch nicht auf dem bürgerlich-nationalen Standpunkt. Schon seit mehreren Jahrzehnten vollzieht sich entschieden der Prozess einer rascheren wirtschaftlichen Entwicklung des Südens, d. h. der Ukraine, die Hunderttausende von Bauern und Arbeitern aus Großrussland zur Arbeit in den kapitalistischen landwirtschaftlichem Betrieben, in den Bergwerken und im den Städten heranzieht. Die Tatsache der „Assimilation“ – innerhalb dieser Grenzen – des großrussischen und ukrainischen Proletariats ist zweifelsfrei. Und diese Tatsache ist entschieden eine fortschrittliche Tatsache. Der Kapitalismus setzt an die Stelle des stumpfsinnigen, verknöcherten, sesshaften und bärenhaft-ungeschlachten großrussischen und ukrainischen Bauern den beweglichen Proletarier, dessen Lebensbedingungen die spezifisch nationale Enge, sowohl die großrussische wie die ukrainische, sprengen. Nehmen wir an, dass es mit der Zeit zwischen Großrussland und der Ukraine eine Staatsgrenze geben wird, – auch in diesem Falle wird die geschichtliche Fortschrittlichkeit der „Assimilation“ der großrussischen und ukrainischen Arbeiter eine ebenso zweifelsfreie fortschrittliche Tatsache sein wie die Vermischung der Nationen in Amerika. Je freier die Ukraine und Großrussland sein werden, desto umfassender und schneller wird die Entwicklung des Kapitalismus sein, der dann die Arbeiter sämtlicher Nationen aus sämtlichem Gebieten des Reiches und aus allen Nachbarländern (für den Fall, dass Russland der Nachbarstaat der Ukraine werden sollte) in noch stärkerem Maße in die Städte, in die Bergwerke und in die Fabriken hereinziehen wird.
Herr Lew Jurkewitsch handelt wie ein echter Bourgeois und obendrein wie ein kurzsichtiger, beschränkter und stumpfsinniger Bourgeois, d. h. wie ein Spießbürger, wenn er die Interessen der Vereinigung, der Verschmelzung und der Assimilation des Proletariats zweier Nationen um eines vorübergehenden Erfolges der ukrainischen nationalen Sache willen verwirft. Zuerst die nationale Sache und dann erst die proletarische, sagen die bürgerlichen Nationalisten, und ihnen folgen die Herren Jurkewitsch und Donzow und ähnliche Jammer-Marxisten. Die Sache des Proletariats allem voran, sagen wir, denn sie sichert nicht nur die dauernden Grundinteressen der Arbeit und die Interessen der Menschheit sondern auch die Interessen der Demokratie, ohne die Demokratie aber ist weder die Autonomie noch die unabhängige Ukraine denkbar.
Schließlich muss aus der an nationalistischen Perlen so ungemein reichen Betrachtung des Herrn Jurkewitsch noch das Folgende erwähnt werden. Die Minderheit der ukrainischen Arbeiter, sagt er, sei nationalbewusst, während „die Mehrheit noch unter dem Einfluss russischer Kultur steht“.
Wenn es sich um das Proletariat handelt, so ist diese Gegenüberstellung der ukrainischen Kultur in ihrer Totalität und der großrussischen Kultur ebenfalls in ihrer Totalität der schamloseste Verrat an den Interessen des Proletariats zugunsten des bürgerlichen Nationalismus.
Es gibt in jeder modernen Nation zwei Nationen, sagen wir allen Nationalsozialisten. Es gibt in jeder nationalen Kultur zwei nationale Kulturen. Es gibt eine großrussische Kultur der Purischkjewitsch, Gutschkow und Struve, es gibt aber auch eine großrussische Kultur, die in den Namen Tschernyschewski und Plechanow verkörpert ist. Diese zwei Kulturen gibt es ebenso im Ukrainertum wie in Deutschland, Frankreich, England, bei den Juden usw. Wenn die Mehrheit der ukrainischen Arbeiter unter dem Einflusse der großrussischen Kultur steht, so wissen wir bestimmt, dass neben den Ideen der großrussischen pfäffischen und bürgerlichen Kultur auch die Ideen der großrussischen Demokratie und der Sozialdemokratie zur Geltung kommen. Wenn der ukrainische Marxist die erstgenannte „Kultur“ bekämpft, nimmt er stets die zweite Kultur aus und sagt zu seinen Arbeitern: „Jede Möglichkeit des Verkehrs mit dem großrussischen klassenbewussten Arbeiter, mit seiner Literatur, seinem Ideenkreise unbedingt mit allen Kräften aufgreifen, verwerten, befestigen – dies verlangen die Grundinteressen sowohl der ukrainischen als auch der großrussischen Arbeiterbewegung“.
Wenn sich ein ukrainischer Marxist von dem ganz berechtigten und natürlichen Hass gegen die großrussischen Unterdrücker so weit hinreißen lässt, dass er auch nur einen Teil dieses Hasses oder auch nur den Geist der Entfremdung auf die proletarische Kultur und die proletarische Sache der großrussischen Arbeiter überträgt, so wird dieser Marxist dadurch in den Sumpf des bürgerlichen Nationalismus hinab gleiten Ebenso wird ein großrussischer Marxist in den Sumpf nicht nur des bürgerlichen sondern auch des Nationalismus der Schwarzhunderter hinab gleiten, wenn er auch nur für eine Minute die Forderung der vollen Gleichberechtigung der Ukrainer oder ihr Recht auf die Bildung eines selbständigen Staates vergessen wird.
Die .großrussischen und ukrainischen Arbeiter müssen gemeinsam und, solange sie in einem Staate leben, in engster organisatorischer Einheit und Verschmelzung die gemeinsame oder internationale Kultur der proletarischen Bewegung verteidigen und die Frage der Sprache, ihrer Propaganda sowie die Frage der Berücksichtigung der lokalen und rein nationalen Besonderheiten mit absoluter Duldsamkeit behandeln. Das ist eine unbedingte Forderung des Marxismus. Jede Befürwortung der Trennung der Arbeiter der einen Nation von denen der anderen, jeder Angriff auf das marxistische „Assimilantentum“, jede Gegenüberstellung einer nationalen Kultur in ihrer Gesamtheit und einer anderen angeblich ein Ganzes darstellenden nationalen Kultur in Fragen, die das Proletariat betreffen usw., ist bürgerlicher Nationalismus, gegen den ein erbarmungsloser Kampf geführt werden muss.
IV. Die „national-kulturelle Autonomie“
Die Frage der Losung der „nationalen Kultur“ hat für die Marxisten eine enorme Bedeutung nicht nur deshalb, weil sie den ideellen Inhalt unserer ganzen Propaganda und Agitation in der nationalen Frage zum Unterschied von der bürgerlichen Propaganda bestimmt, sondern auch deshalb, weil die ganze Propaganda der berüchtigten national-kulturellen Autonomie auf dieser Losung basiert.
Das Grundübel dieses Programms, seine Sünde gegen das Prinzip besteht darin, dass es bestrebt ist, den raffiniertesten, absolutesten und zu Ende geführten Nationalismus zu verwirklichen. Das Wesen dieses Programms besteht im Folgenden: jeder Staatsbürger bekennt sich zu irgendeiner Nation, jede Nation aber bildet eine juristische Person mit dem Recht zwangsweiser Besteuerung ihrer Mitglieder, mit einem nationalen Parlament (Landtag) und nationalen „Staatssekretären“ (Ministern) .
Eine solche Idee hat, auf die nationale Frage angewendet, eine Ähnlichkeit mit der Idee Proudhons, angewendet auf den Kapitalismus. Den Kapitalismus und seine Grundlage, die Warenerzeugung, nicht vernichten, sondern diese Grundlage von Missbräuchen, Auswüchsen usw. reinigen; den Tausch und den Tauschwert nicht abschaffen, sondern, im Gegenteil, „konstituieren“, allgemeingültig, absolut, „gerecht“ machen und von Schwankungen, Krisen und Missbräuchen befreien – das war Proudhons Gedanke.
Ebenso kleinbürgerlich wie Proudhon und seine Theorie, die den Tausch und die Warenzeugung zu etwas Absolutem macht und zur Perle der Schöpfung erhebt, sind die Theorie und das Programm der „national-kulturellen Autonomie“, die den bürgerlichen Nationalismus zu etwas Absolutem, zur Perle der Schöpfung erheben und ihn von Gewaltherrschaft, Ungerechtigkeit usw. befreien.
Der Marxismus ist unvereinbar mit dem Nationalismus, mag dieser noch so sehr „gerecht“, „reinlich“, verfeinert und zivilisiert sein. Der Marxismus setzt an die Stelle jeglichen Nationalismus den Internationalismus, die Verschmelzung aller Nationen zu einer höheren Einheit, die mit jedem Eisenbahnkilometer, mit jedem internationalen Trust, mit jedem (in seiner wirtschaftlichen Tätigkeit, aber auch in seinen Ideen und in seinen Bestrebungen internationalen) Arbeiterverband wächst.
Der Grundsatz der Nationalität ist in der bürgerlichen Gesellschaft historisch unvermeidlich, und der Marxist, der mit dieser Gesellschaft rechnet, erkennt die geschichtliche Gesetzmäßigkeit der nationalen Bewegungen durchaus an. Aber wenn diese Anerkennung nicht in eine Apologie des Nationalismus ausarten soll, muss sie sich strengstens auf das beschränken, was in diesen Bewegungen fortschrittlich ist, ist es notwendig, darauf zu achten, dass diese Anerkennung nicht zur Verdunkelung des proletarischen Klassenbewusstseins durch bürgerliche Ideologie führe.
Das Erwachen der Massen aus ihrem feudalen Schlaf, ihr Kampf gegen jede nationale Unterdrückung, für die Souveränität des Volkes, für die Souveränität der Nation – das ist fortschrittlich. Daraus ergibt sich für den Marxisten die unbedingte Pflicht, auf sämtlichen Teilgebieten der nationalen Frage die entschiedenste und folgerichtigste Demokratie zu verfechten. Das ist in der Hauptsache eine negative Aufgabe. Weiter kann aber das Proletariat in der Unterstützung des Nationalismus nicht gehen, da dann die „positive“ Tätigkeit der nach Befestigung des Nationalismus strebenden Bourgeoisie beginnt.
Jedwedes feudale Joch, jede nationale Unterdrückung, jedwede Privilegien einer Nation oder einer Sprache abzuschütteln, ist die unbedingte Pflicht des Proletariats als demokratischer Macht, ist das unbedingte Interesse des proletarischen Klassenkampfes, der durch die nationale Fehde verdunkelt und aufgehalten wird. Aber den bürgerlichen Nationalismus über diese streng gezogenen, in einen bestimmten historischen Rahmen gestellten Grenzen hinaus fördern, heißt das Proletariat verraten und sich auf die Seite der Bourgeoisie schlagen. Hier gibt es eine Grenze, die oft sehr schwer sichtbar zu sein pflegt und die die bundistischen und ukrainischen Nationalsozialisten gänzlich vergessen.
Kampf gegen jede nationale Unterdrückung – jawohl, unbedingt. Kampf für jedwede nationale Entwicklung, für die „nationale Kultur“ überhaupt – keinesfalls. Die wirtschaftliche Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft liefert uns in der ganzen Welt Beispiele nicht voll entwickelter nationaler Bewegungen, Beispiele der Bildung großer Nationen aus einer Reihe kleiner oder auf Kosten einiger kleiner Nationen, Beispiele der Assimilierung von Nationen. Das Prinzip des bürgerlichen Nationalismus ist die Entwicklung der Nationalität überhaupt, daher die Ausschließlichkeit des bürgerlichen Nationalismus, daher die endlose nationale Fehde. Das Proletariat aber ist nicht nur nicht geneigt, die nationale Entwicklung jeder Nation zu verteidigen, sondern warnt im Gegenteil die Massen vor solchen Illusionen. Es setzt sich für die vollste Freiheit des kapitalistischen Wirtschaftsverkehrs ein und begrüßt jede Assimilierung von Nationen mit Ausnahme der gewaltsam durchgeführten oder der auf Privilegien gestützten.
Den Nationalismus in einer bestimmten, „gerechterweise“ abgegrenzten Sphäre zu befestigen, den Nationalismus zu „konstituieren“ und alle Nationen mit Hilfe einer besonderen staatlichen Institution fest und dauernd voneinander abzusondern – das ist die ideologische Grundlage und der Inhalt der national-kulturellen Autonomie. Dieser Gedanke ist durch und durch bürgerlich und durch und durch verlogen. Das Proletariat kann keinerlei Befestigung des Nationalismus unterstützen, im Gegenteil, es unterstützt alles, was dazu beiträgt, die nationalen Unterschiede zu verwischen, die Scheidewände zwischen den Nationen niederzureißen, alles, was die Beziehungen der Nationalitäten zueinander immer enger gestaltet, alles, was zur Verschmelzung der Nationen führt. Anders handeln, heißt sich auf die Seite des reaktionären nationalistischen Kleinbürgertums stellen.
Als das Projekt der national-kulturellen Autonomie auf dem Parteitag der österreichischen Sozialdemokraten in Brünn (1899) zur Sprache kam, wurde der theoretischen Bewertung dieses Projektes fast gar keine Aufmerksamkeit geschenkt. Es ist aber immerhin lehrreich festzustellen, dass auf zwei Argumente gegen dieses Programm hingewiesen wurde: erstens, dass dieses Programm zur Stärkung des Klerikalismus führen würde, zweitens, dass „sein Ergebnis die Verewigung des Chauvinismus und dessen Verpflanzung im jede kleine Gemeinde, in jede kleine Gruppe“ wäre (S. 92 des offiziellen Protokolls des Brünner Parteitags in deutscher Sprache; es gibt davon eine russische Übersetzung, herausgegeben von der jüdischen nationalistischen Partei „Serp„).
Es unterliegt keinem Zweifel, dass die „nationale Kultur“ in der üblichen Bedeutung des Wortes, d. h. des Schulwesens usw., gegenwärtig in allen Ländern der Welt unter dem überwiegenden Einfluss der Klerikalen und der bürgerlichen Chauvinisten steht. Wenn die Bundisten bei ihrem Eintreten für die national-kulturelle Autonomie behaupten, dass die Konstituierung der Nationen den Klassenkampf innerhalb derselben von allen nebensächlichen Einflüssen befreien würde, so ist das eine offenkundige und lächerliche Sophistik. Der wirkliche Klassenkampf wird in jeder kapitalistischen Gesellschaft vor allen Dingen auf wirtschaftlichem und politischem Gebiete geführt. Das Schulwesen aus diesem Gebiete heraus zu nehmen, ist erstens eine sinnlose Utopie, weil man die Schule (sowie auch die „nationale Kultur“ überhaupt) von der Wirtschaft und der Politik nicht trennen kann; zweitens zwingt gerade das wirtschaftliche und politische Leben eines kapitalistischen Landes, die sinnlosen und veralteten nationalen Schranken und Vorurteile auf Schritt und Tritt niederzureißen, während die Absonderung des Schulwesens usw. den „reinen“ Klerikalismus und den „reinen“ bürgerlichen Chauvinismus gerade konservieren, verschärfen und stärken würde.
In den Aktiengesellschaften sitzen Kapitalisten verschiedener Nationen ganz einträchtig nebeneinander. In den Fabriken arbeiten Arbeiter verschiedener Nationen zusammen. In jedweder wirklich ernsten und tief greifenden politischen Frage erfolgt die Gruppierung nach Klassen und nicht nach Nationen. Das Schulwesen usw. „der Kompetenz des Staates zu entziehen“ und den Nationen zu übergeben, stellt gerade den Versuch dar, das sozusagen am meisten ideologische Gebiet des sozialem Lebens, wo die „reine“ nationale Kultur oder die nationale Kultivierung des Klerikalismus und des Chauvinismus am leichtestem ist, vom der die Nationen miteinander verschmelzenden Ökonomie zu trennen.
Der Plan einer „exterritorialen“ (nicht gebietsweisen, an das Gebiet, auf dem diese oder jene Nation wohnt, nicht gebundenen) oder „national-kulturellem“ Autonomie würde bei seiner praktischen Verwirklichung nur das eine bedeuten: Trennung des Schulwesens nach Nationalitäten, d. h. Einführung nationaler Kurien im Schulwesen, Es genügt, sich das wirkliche Wesen dieses berühmten bundistischen Planes zu vergegenwärtigen, um seinen ganzen rückständigen Charakter selbst vom Standpunkte der Demokratie, geschweige denn von dem des Klassenkampfes des Proletariats für den Sozialismus zu erfassen.
Ein Beispiel und ein Projekt der „Nationalisierung“ des Schulwesens werden deutlich zeigen, worauf es ankommt. In den Vereinigten Staaten Nordamerikas ist bis auf den heutigen Tag die Einteilung in Nord- und Südstaaten erhalten geblieben; jene mit den meisten Traditionen der Freiheit und des Kampfes gegen die Sklavenhalter, diese mit den meisten Traditionen der Sklaverei, mit Überresten der Negerverfolgungen, mit den wirtschaftlichen Bedrängnissen der Neger und ihrem kulturellen Tiefstande (44% Analphabeten unter den Negern und 6% unter den Weißen) usw. In den Nordstaaten lernen die Negerkinder in Einheitsschulen zusammen mit den weißen, während es im Süden besondere „nationale“ oder, wenn man will, Rassenschulen für Neger gibt. Dies scheint in Wirklichkeit das einzige Beispiel einer „Nationalisierung“ der Schule zu sein.
In Osteuropa gibt es ein Land, wo bis auf den heutigen Tag Affären in der Art des Falles Beilis möglich sind, wo die Juden von den Herren Purischkjewitsch dazu verurteilt sind, ein Dasein, schlimmer als das der Neger, zu fristen. In der Regierung dieses Landes ist jüngst das Projekt der Nationalisierung der jüdischen Schule aufgetaucht. Zum Glück wird sich diese reaktionäre Utopie kaum verwirklichen, ebenso wenig wie die der österreichischem Kleinbürger, die die Hoffnung auf die Verwirklichung der konsequentem Demokratie, auf die Beseitigung der nationalen Fehde verloren und nun besondere Futterale für die Nationen auf dem Gebiete des Schulwesens erfunden haben, damit sie sich wegen der Teilung der Schulen nicht befehden … sondern sich zum Zwecke der ewigen Fehde der einen .nationalem Kultur“ gegen die andere „konstituieren“.
In Österreich blieb die national-kulturelle Autonomie in der Hauptsache eine Literatenerfindung, die selbst von den österreichischen Sozialdemokraten nicht ernst genommen wurde. Dagegen wurde sie in Russland von sämtlichen bürgerlichen Parteien des Judentums und einigem spießbürgerlichem, opportunistischem Elementen verschiedener Nationen, z. B. von den Bundisten, den kaukasischen Liquidatoren, der Konferenz der russischen nationalen Parteien der linken Narodniki-Richtung in ihr Parteiprogramm aufgenommen. (Diese Konferenz, wollen wir in Klammern bemerken, fand im Jahre 1907 statt und ihre Entschließung wurde bei Stimmenenthaltung der russischen Sozialrevolutionäre und der polnischen Sozialpatrioten, der PPS, angenommenem – Stimmenenthaltung ist eine erstaunlich charakteristische Art des Verhaltens der Sozialrevolutionäre und der PPS-Leute im einer überaus wichtigen grundsätzlichen Frage auf dem Gebiete des nationalen Programms!)
In Österreich hat gerade Otto Bauer, der Haupttheoretiker der „national-kulturellen Autonomie“, ein besonderes Kapitel seines Buches dem Nachweis der Unmöglichkeit der Anwendung dieses Programms auf die Juden gewidmet. In Russland haben gerade innerhalb des Judentums sämtliche bürgerlichen Parteien und ihr Nacheiferer, der Bund, dieses Programm angenommen.B Was bedeutet das? Das bedeutet, dass die Geschichte durch die politische Praxis eines anderen Staates die Sinnlosigkeit der Erfindung Bauers enthüllt hat, ebenso wie die russischen Bernsteinianer (Struve, Tugan-Baranowski, Berdjajew und Konsorten) durch ihre rapide Entwicklung vom Marxismus zum Liberalismus den wirklichen Ideengehalt der deutschen Bernsteiniade enthüllt haben.
Weder die österreichischen noch die russischen Sozialdemokraten haben die „national-kulturelle“ Autonomie in ihr Programm aufgenommen. Aber die bürgerlichen Parteien des Judentums in dem rückständigsten Lande und eine Anzahl kleinbürgerlicher, angeblich sozialistischer Gruppen haben sie angenommen, um die Ideen des bürgerlichen Nationalismus in verfeinerter Form in die Arbeiterschaft zu tragen. Diese Tatsache spricht für sich.
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Da wir nun einmal das österreichische Programm in der nationalen Frage berührt haben, können wir nicht umhin, die von den Bundisten oft entstellte Wahrheit zu berichtigen. Auf dem Brünner Parteitag wurde das reine Programm der „national-kulturellen Autonomie“ präsentiert. Es war das Programm der südslawischen Sozialdemokraten, dessen § 2 lautete:
„Jedes in Österreich lebende Volk ist, ohne Rücksicht auf die von seinen Mitgliedern bewohnten Territorien, eine autonome Gruppe, welche alle ihre nationalen (sprachlichen und kulturellen) Angelegenheiten ganz selbständig regelt und besorgt.“
Dieses Programm verteidigte nicht nur Kristan sondern auch der einflussreiche Ellenbogen. Aber es wurde von der Tagesordnung zurückgezogen, nachdem sich sonst niemand dafür eingesetzt hatte. Angenommen wurde dagegen das territoriaIistische Programm, d. h. ein Programm, das keine Bildung nationaler Gruppen „ohne Rücksicht auf die von den Mitgliedern einer Nation bewohntem Territorien“ zum Ziele hat.
§ 3 des angenommenen Programms lautet:
„Sämtliche Verwaltungsgebiete ein und derselben Nation bilden zusammen einen national-einheitlichen Verband, der seine nationalen Angelegenheiten völlig autonom besorgt“ (s. „Prosweschtschenije“, 1913, Nr. 4, S. 28).
Es ist klar, dass auch dieses Kompromissprogramm nicht richtig ist. Wir wollen dies durch ein Beispiel erläutern. Eine deutsche Kolonistengemeinde im Gouv. Saratow plus die deutsche Arbeitervorstadt in Riga oder in Łódź plus eine deutsche Siedlung bei Petersburg usw. bilden einen „national-einheitlichen Verband“ der Deutschen im Russland. Es ist offensichtlich, dass die Sozialdemokraten so etwas nicht fordern, einen solchen Verband nicht festigen können, obwohl sie selbstverständlich die Freiheit verschiedener Verbände, darunter beliebiger Gemeinden einer beliebigen Nation innerhalb eines Staates, nicht ablehnen. Aber mit der Absonderung der Deutschem usw. aus verschiedenen Gebieten und Klassen Russlands durch ein staatliches Gesetz in einem einheitlichen nationalen deutschen Verband können sich Pfaffen, Bourgeois, Spießbürger und wer sonst, aber nicht Sozialdemokraten befassen.
V. Die Gleichberechtigung der Nationen und die Rechte der nationalen Minderheit
Die verbreitete Taktik der russischen Opportunisten bei Erörterung der nationalen Frage besteht in der Berufung auf das Beispiel Österreichs. In meinem Aufsatz in der „Sewernaja Prawda“ („Prosweschtschenije“, Nr. 10, S. 96–98), über den die Opportunisten (Herr Semkowski in der ,„Nowaja Rabotschaja Gaseta“ und Herr Libman in der „Zait“) hergefallen sind, behaupte ich, da es nur eine einzige Lösung der nationalen Frage, soweit eine solche in der Welt des Kapitalismus überhaupt möglich ist, gibt und dass diese Lösung die konsequente Demokratie ist. Zur Begründung dieser Behauptung berufe ich mich u. a. auf die Schweiz.
Diese Berufung auf die Schweiz missfällt den beiden oben genannten Opportunisten, die sich bemühen, sie zu widerlegen oder ihre Bedeutung abzuschwächen. Kautsky, seht ihr, sagte, dass die Schweiz eine Ausnahme sei; die Schweiz besitze eine ganz besondere Dezentralisation, eine besondere Geschichte, besondere geographische Bedingungen, eine außerordentlich eigenartige Siedlungsverteilung der verschiedensprachigen Bevölkerung usw. usw.4
Das alles ist nichts anderes als der Versuch, dem Wesen des Streites auszuweichen. Die Schweiz ist freilich insofern eine Ausnahme, als sie kein einheitlicher Nationalstaat ist. Aber eine gleiche Ausnahme (oder Rückständigkeit, wie Kautsky hinzufügt) bilden Österreich und Russland. Gewiss haben in der Schweiz nur die besonders eigentümlichen historischen und Lebensbedingungen mehr an Demokratie gesichert als in der Mehrzahl der mit ihr benachbarten, europäischen Länder.
Allein, was soll das alles, wenn die Rede von einem Musterbeispiel ist, das als Vorbild dienen soll? In der ganzen Welt bilden unter den heutigen Verhältnissen jene Länder, in denen diese oder jene Institution auf folgerichtiger demokratischer Grundlage verwirklicht ist, eine Ausnahme. Hindert uns das etwa, in unserem Programm die konsequente Demokratie für alle Institutionen zu verfechten?
Die Eigentümlichkeiten der Schweiz sind ihre Geschichte, ihre geographischen und übrigen Verhältnisse. Die Eigentümlichkeiten Russlands sind die in der Epoche der bürgerlichen Revolution noch nie dagewesene Macht des Proletariats sowie die schreckliche allgemeine Rückständigkeit des Landes, die objektiv, bei sonst drohenden Nachteilen und Niederlagen, die Notwendigkeit einer ungemein raschen und entschiedenen Vorwärtsbewegung hervorruft.
Wir arbeiten das nationale Programm vom Standpunkte des Proletariats aus. Seit wann empfiehlt es sich aber, die schlechtesten Beispiele .anstatt die besten als Vorbilder zu nehmen?
Bleibt es nicht auf jeden Fall eine zweifelsfreie und unbestreitbare Tatsache, dass der nationale Friede unter der Herrschaft des Kapitalismus (soweit er überhaupt realisierbar ist) ausschließlich in den Ländern mit konsequenter Demokratie verwirklicht ist?
Steht dies einmal fest, dann sind die beharrlichen Berufungen der Opportunisten auf Österreich anstatt auf die Schweiz echte Kadettentaktik, da die Kadetten stets die schlechtesten und nicht die besten europäischen Verfassungen abzuschreiben pflegen
In der Schweiz gibt es drei Staatssprachen, aber die Gesetzentwürfe werden bei einem Volksentscheid in fünf Sprachen, d. h. außer in den drei Staatssprachen noch in zwei „romanischen“ Dialekten gedruckt. Diese beiden Dialekte sprechen nach der Volkszählung vom Jahre 1900 38.651 von 3.315.443 Einwohnern, d. i. etwas mehr als ein Prozent. Im Heere wird den Offizieren und Unteroffizieren „die weitestgehende Freiheit des Gebrauchs der Muttersprache im Verkehr mit den Soldaten eingeräumt“. In den Kantonen Graubünden und Wallis (jeder hat etwas mehr als 100.000 Einwohner) genießen die beiden Dialekte volle Gleichberechtigung.C
Nun fragt es sich, sollen wir diese aus dem Leben eines fortschrittlichen Landes geschöpfte Erfahrung propagieren und verfechten, oder bei den Österreichern die nirgends ausprobierten (und von den Österreichern selbst noch nicht angenommenen) Erfindungen in der Art der „exterritorialen Autonomie“ entlehnen?
Die Propagierung dieser Erfindung ist die Propagierung der Trennung das Schulwesens nach Nationalitäten, d. h. eine direkt schädliche Propaganda. Und doch zeigt die Erfahrung der Schweiz, dass die Sicherung des (relativ) größten nationalen Friedens bei (wiederum relativ) konsequenter Demokratie des ganzen Staates praktisch möglich und verwirklicht ist.
„Eine Nationalitätenfrage im osteuropäischen Sinne“, sagen diejenigen, die diese Frage untersucht haben, „gibt es in der Schweiz nicht. Schon das Wort ist hier unbekannt…“ „Die Schweiz hat ihren Nationalitätenkampf schon hinter sich: er steckte … in den Umwälzungen der Jahre 1797 rund 1803.“D
Das will sagen, dass das Zeitalter der Großen Französischen Revolution, dass die demokratischste Lösung der zur Debatte stehenden Fragen des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus gab, nebenbei, unter anderem, auch die nationale Frage zu lösen verstanden, hat.
Mögen nun die Herren Semkowski, Libman und andere Opportunisten versuchen, zu behaupten, dass diese „ausschließlich schweizerische“ Lösung nicht anwendbar sei auf einen beliebigen Kreis oder sogar auf einen Teil eines Kreises Russlands, wo es bei 200.000 Einwohnern nur zwei Dialekte gibt, die von 40.000 Staatsbürgern gesprochen werden, welche in ihrem Gebiete die volle sprachliche Gleichberechtigung fordern!
Die Propagierung der vollen Gleichberechtigung der Nationen und der Sprachen sondert in jeder Nation lediglich die konsequent demokratischen Elemente (d. h. nur die Proletarier) aus und vereinigt sie nicht nach Nationalitäten sondern in dem Bestreben nach einer tiefen und ernsthaften Verbesserung der gesamten Staatsordnung. Die Propagierung der „national-kulturellem Autonomie“ dagegen trennt, ungeachtet der gutem Absichten einzelner Personen und Gruppen, die Nationen voneinander und bringt faktisch die Arbeiter einer Nation ihrer Bourgeoisie nahe (Annahme dieser „national-kulturellen Autonomie“ durch sämtliche bürgerlichen Parteien des Judentums).
In unlösbarem Zusammenhang mit dem Grundsatz der vollen Gleichberechtigung steht die Sicherung der Rechte der nationalen Minderheit. In meinem Aufsatz in der „Sewernaja Prawda“ ist dieses Prinzip fast genau so wie in dem späteren offiziellen und exakteren Beschluss der Konferenz der Marxisten ausgedrückt. Diese Entscheidung verlangt „die Aufnahme eines Grundgesetzes, das sämtliche Privilegien einer Nation und jedwede Schmälerung der Rechte einer nationalen Minderheit für unzulässig erklärt, in die Verfassung“.
Herr Libman versucht, sich über diese Formulierung lustig zu machen, wenn er fragt: „Woher ist denn bekannt, worin die Rechte einer nationalen Minderheit bestehen?“ Gehört beispielsweise zu diesen Rechten das Recht auf ein „eigenes Programm“ in den nationalen Schulen? Wie groß muss eine nationale Minderheit sein, um das Recht auf eigene Richter, Beamte, Schulen mit eigener Unterrichtssprache zu besitzen? Herr Libman will aus diesen Fragen die Notwendigkeit eines „positiven“ nationalen Programms demonstrieren.
Tatsächlich aber zeigen diese Fragen anschaulich, welche reaktionären Dinge unser Bundist unter dem Deckmantel eines Streites um angeblich geringfügige Details und Einzelheiten durch schmuggelt.
„Ein eigenes Programm“ in einer eigenen nationalen Schule! … Die Marxisten, mein lieber Nationalsozialist, besitzen ein. allgemeines Schulprogramm, das z. B. unbedingt die weltliche Schule fordert. Vom Standpunkt der Marxisten ist in einem demokratischen Staate nirgends und niemals eine Abweichung von diesem allgemeinen Programm zulässig (seine Vervollständigung durch irgendwelche „lokalen“ Fächer, Sprachen usw. erfolgt durch Beschluss der lokalen Bevölkerung), Aus dem Grundsatz der „Entziehung des Schulwesens aus der Kompetenz des Staates“ und seine Übergabe an die Nationen folgt jedoch, dass wir Arbeiter in unserem demokratischen Staate es den „Nationen“ anheimstellen, Volksgelder für die klerikale Schule zu verwenden! Herr Libman hat, ohne es selbst bemerkt zu haben, das Reaktionäre der „national-kulturellen Autonomie“ in anschaulicher Weise demonstriert!
„Wie groß muss eine (nationale Minderheit sein?“ Darüber enthält sogar das bei den Bundisten so beliebte österreichische Programm keine Bestimmung, Dieses Programm lautet (noch kürzer und weniger klar als bei uns):
„Das Recht der nationalen Minderheiten wird durch ein eigenes, vom Reichsparlament zu beschließendes Gesetz gewahrt.“ (§ 4 des Brünner Programms.)
Warum hat niemand die österreichischen Sozialdemokraten mit der Frage belästigt, wie dieses Gesetz aussehen soll? Nämlich, welcher Minderheit und welche Rechte es sichern, soll?
Weil jeder vernünftige Mensch begreift, dass es unangebracht und unmöglich ist, in einem Programm Einzelheiten zu bestimmen. Das Programm fixiert lediglich die grundlegenden Prinzipien. Im gegebenen Fall wird das Grundprinzip von den Österreicher stillschweigend vorausgesetzt, während es in der Entschließung der letzten russischen Konferenz der Marxisten direkt ausgesprochen wird. Dieses Grundprinzip lautet: keine Zulassung irgendwelcher nationalen Privilegien und irgendeiner nationalen Rechtsungleichheit.
Nehmen wir ein konkretes Beispiel, um dem Bundisten die Frage klarzumachen. In der Stadt St. Petersburg gab es nach der Schulzählung vom 18. Januar 1911 in den Elementarschulen des Ministeriums für Volks„aufklärung“ 48 076 Schüler. Davon entfielen auf die Juden 396, d. h. weniger als ein Prozent. Ferner gab es unter den Schülern zwei Rumänen, einen Georgier, drei Armenier usw. Kamm man ein solches „positives“ nationales Programm aufstellen, das die Mannigfaltigkeit dieser Verhältnisse und Bedingungen einbezieht? (Nun ist aber Petersburg selbstverständlich bei weitem noch nicht die „bunteste“ Nationalitäten-Stadt in Russland.) Es scheint, dass sogar die Spezialisten auf dem Gebiete der nationalen „Feinheiten“ in, der Art der Bundisten ein solches Programm nicht aufstellen werden.
Und doch könnte, wenn es in der Staatsverfassung ein Grundgesetz über die Unzulässigkeit irgendeiner die Rechte einer Minderheit verletzenden Maßnahme gäbe, jeder beliebige Staatsbürger die Aufhebung einer Verordnung verlangen, die beispielsweise die Anstellung besonderer Lehrer der jiddischen Sprache, der jüdischen Geschichte usw. auf Staatskosten oder die Bereitstellung von staatlichem Räumen für jüdische, rumänische, armenische Schulkinder oder gar für ein einziges georgisches Kind untersagen würde. Jedenfalls ist nichts Unmögliches daran, auf Grund der Gleichberechtigung alle vernünftigen und gerechten Wünsche der nationalen Minderheiten zu befriedigen, und niemand wird behaupten können, dass die Propaganda der Gleichberechtigung schädlich sei. Dagegen würde die Propaganda der Trennung des Schulwesens nach Nationen, die Propaganda beispielsweise einer besonderen jüdischen Schule für die jüdischen Kinder in Petersburg unbedingt schädlich und die Bildung nationaler Schulen für jede nationale Minderheit, für ein, zwei, drei Kinder direkt unmöglich sein.
Ferner ist es unmöglich, in irgendeinem allgemeinen staatlichen Gesetz zu bestimmen, wie groß eine nationale Minderheit sein muss, um ein Recht auf eine besondere Schule oder besondere Lehrer in den Ergänzungsfächern usw. zu haben.
Dagegen kann ein allgemein-staatliches Gesetz über die Gleichberechtigung ganz gut detailliert ausgearbeitet und in besonderen Gesetzesbestimmungen, Verordnungen der Provinzlandtage, Städte, Semstwos, Gemeinden usw. weiter ausgeführt werden.
VI. Zentralisation und Autonomie
Herr Libman schreibt in seiner Erwiderung:
„Nehmt bei uns Litauen, die baltischen Provinzen, Polen, Wolhynien, Südrussland usw., und ihr werdet überall eine gemischte Bevölkerung vorfinden; es gibt dort keine einzige Stadt ohne eine große nationale Minderheit. Mag man die Dezentralisierung noch so weit durchführen, stets wird man in verschiedenen Ortschaften (hauptsächlich in den Stadtgemeinden) verschiedene Nationalitäten vorfinden. Und gerade die Demokratie liefert die nationale Minderheit der nationalen Mehrheit aus. Aber bekanntlich verhält sich W. I. einer solchen föderativen Staatsform und einer weitestgehenden Dezentralisation gegenüber, wie sie im Schweizer Bundesstaat bestehen, feindlich. Es fragt sich, warum er die Schweiz als Beispiel angeführt hat.“
Warum ich das Beispiel der Schweiz angeführt habe, ist bereits oben erläutert worden. Ebenso wurde erläutert, dass das Problem des Schutzes der nationalen Minderheitsrechte nur auf dem Wege der Schaffung eines allgemein-staatlichen Gesetzes in einem folgerichtig demokratischen, von dem Prinzip der Gleichberechtigung nicht abweichenden Staate lösbar ist. Aber in dem angeführten Zitat wiederholt Herr Libman noch eine der häufigsten (und unrichtigsten) Entgegnungen (oder skeptischen Bemerkungen), die gewöhnlich gegen das marxistische nationale Programm gemacht werden und die deshalb eine Erörterung verdienen.
Die Marxisten verhalten sich der Föderation und der Dezentralisation gegenüber selbstredend feindlich, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil der Kapitalismus für seine Entwicklung möglichst große und möglichst zentralisierte Staaten verlangt. Bei sonst gleichen Bedingungen wird das klassenbewusste Proletariat stets für den größeren Staat sein. Es wird stets gegen den mittelalterlichen Partikularismus ankämpfen und stets den möglichst engen wirtschaftlichen Zusammenschluss großer Gebiete, in denen sich der Kampf des Proletariats mit der Bourgeoisie auf breiter Grundlage entfalten kann, begrüßen. Die breite und rasche Entwicklung der Produktivkräfte des Kapitalismus verlangt große, staatlich zusammengeschlossene und vereinigte Gebiete, auf denen allein die Klasse der Bourgeoisie – und mit ihr ihr unvermeidlicher Antipode, die Klasse der Proletarier – sich zusammenfügen kann, wobei sie alle alten, mittelalterlichen, beschränkt-lokalen, eng-nationalen sowie die Standes-, Glaubens- und anderen Schranken niederreißt.
Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, d. h. das Recht auf Lostrennung und Bildung eines selbständigen Nationalstaates werden wir noch besonders sprechen. Aber solange und soweit verschiedene Nationen einen einheitlichen Staat bilden, werden die Marxisten weder das föderative Prinzip noch die Dezentralisation in irgendeinem Falle propagieren. Der zentralisierte große Staat ist ein gewaltiger historischer Schritt vorwärts auf dem Wege von der mittelalterlichen Zersplitterung zur künftigen sozialistischen Einheit der ganzen Welt, und einen anderen Weg zum Sozialismus .als über einen solchen (mit dem Kapitalismus unlösbar verknüpften) Staat gibt es nicht und kann es nicht geben.
Es wäre aber unverzeihlich, zu vergessen, .dass wir, wenn wir den Zentralismus verfechten, ausschließlich den demokratischen Zentralismus verfechten. Das Kleinbürgertum im Allgemeinen und das nationalistische Kleinbürgertum (darunter der verstorbene Dragomanow) im Besonderen haben da in die Frage eine solche Verwirrung hineingetragen, dass man immer wieder von neuem gezwungen ist, Zeit auf ihre Entwirrung zu verwenden.
Der demokratische Zentralismus schließt die lokale Selbstverwaltung mit einer Autonomie der Gebiete, die sich durch besondere Wirtschafts- und Lebensbedingungen, durch eine besondere nationale Zusammensetzung des Bevölkerungsbestandes usw. auszeichnen, nicht nur nicht aus, sondern verlangt im Gegenteil sowohl das eine wie das andere. Bei uns wird fortwährend der Zentralismus mit Willkür und Bürokratie verwechselt. Die Geschichte Russlands musste naturgemäß eine solche Verwechslung verursachen, für einen Marxisten jedoch bleibt sie trotzdem, unbedingt unzulässig.
Dies lässt sich am besten an einem konkreten Beispiel erläutern.
Rosa Luxemburg macht in ihrem ausführlichen Aufsatz: „Die nationale Frage und die Autonomie“E unter zahlreichem anderen drolligen Fehlern (darüber weiter unten) den besonders drolligen Fehler, dass sie die Forderung der Autonomie lediglich auf Polen zu beschränken versucht.
Sehen wir jedoch zunächst, wie sie die Autonomie definiert.
Rosa Luxemburg gibt zu – als Marxistin ist sie selbstredend verpflichtet, das zuzugeben –, dass alle für die kapitalistische Gesellschaft wichtigen und wesentlichen wirtschaftlichen und politischen Fragen keinesfalls zu dem Kompetenzbereich der autonomen Landtage einzelner Gebiete sondern ausschließlich zu dem des zentralen allgemein-staatlichen Parlaments gehören müssen. Zu diesen Fragen gehören: die Zollpolitik, die Industrie und Handelsgesetzgebung, die Verkehrswege und Verkehrsmittel (Eisenbahn, Post, Telegraph, Telephon usw.), Militärwesen Steuersystem, Straf- und ZivilrechtF, die allgemeinen Grundsätze des Schulwesens (z. B. Gesetze über die ausschließlich weltliche Schule, die allgemeine Schulpflicht, das Minimal-Lehrprogramm, die demokratischen Schulorganisationen usw.), die Gesetzgebung über den Arbeiterschutz, die politischen Freiheiten (Koalitionsrecht) usw. usw.
Zu dem Kompetenzbereich der autonomen Landtage gehören auf Grund der gesamtstaatlichen Gesetzgebung Fragen rein lokaler, territorialer oder rein nationaler Bedeutung. Indem Rosa Luxemburg diesen Gedanken sehr weit – um nicht zu sagen: übermäßig – ins einzelne gehend entwickelt, verweist sie beispielsweise auf die Eisenbahnbauten von lokaler Bedeutung (Nr. 12, S. 149), auf das lokale Straßenwesen (Nr. 14-15, S. 376) usw.
Selbstverständlich kann man sich einen modernen, wirklich demokratischen Staat ohne eine solche Autonomie jedes Gebietes von nur einigermaßen wesentlicher Eigenart der wirtschaftlichen, der ganzen Lebensverhältnisse, mit besonderem nationalen Bevölkerungsbestand usw. nicht vorstellen. Das Prinzip des im Interesse der Entwicklung des Kapitalismus unentbehrlichen Zentralismus wird durch eine solche (Orts- und Gebiets-) Autonomie nicht nur nicht erschüttert, sondern im Gegenteil dank ihr demokratisch und nicht bürokratisch verwirklicht. Die umfassende, freie und rasche Entwicklung des Kapitalismus wäre ohne eine solche Autonomie, die sowohl die Kapitalkonzentration als auch die Entwicklung der Produktivkräfte und den Zusammenschluss der Bourgeoisie einerseits und des Proletariats anderseits im allgemein-staatlichen Maßstab erleichtert, unmöglich oder zumindest äußerst erschwert. Denn die bürokratische Einmischung in rein lokale (einzelne Gebiete angehende, nationale usw.) Angelegenheiten ist eines der größten Hindernisse für die wirtschaftliche und politische Entwicklung überhaupt und ein Hindernis für die Zentralisation in den ernsthaften, umfassenden und wesentlichen Fragen im besonderen.
Deshalb kann man kaum ein Lächeln unterdrücken, wenn man liest, wie unsere prachtvolle Rosa Luxemburg durchaus ernst und in „rein-marxistischen“ Ausdrücken nachzuweisen bemüht ist, dass die Forderung der Autonomie einzig und allein auf Polen: und zwar nur als Ausnahme anwendbar sei! Selbstverständlich gibt es hier nicht einen Tropfen Lokalpatriotismus sondern lediglich „sachliche“ Erwägungen …, z. B. in Bezug auf Litauen.
Rosa Luxemburg nimmt vier Gouvernements: Wilna, Kowno, Grodno und Suwalki und versichert den Lesern und sich selbst, dass in diesem Gouvernements „hauptsächlich“ Litauer leben, wobei sie nach Zusammenzählung der Bevölkerung dieser Gouvernements 23 Prozent der Gesamtbevölkerung für die Litauer und zusammen mit den schmudischen Litauern 31 Prozent herausbekommt, d. h. weniger als ein Drittel. Die Schlussfolgerung lautet selbstverständlich, dass der Gedanke einer Autonomie Litauens „willkürlich und konstruiert“ sei (Nr. 10, S. 807).
Der mit den allbekannten Mängeln unserer russischen amtlichen Statistik vertraute Leser wird sofort den Fehler Rosa Luxemburgs entdecken. Wozu war es nötig, das Gouvernement Grodno dazuzunehmen, das von nur zwei Zehntel Prozent Litauern bewohnt ist? Wozu war es nötig, das ganze Gouvernement Wilna und nicht bloß den Kreis Troki zu nehmen, in dem die Litauer die Mehrheit der Bevölkerung bilden? Wozu war es nötig, das ganze Gouv. Suwalki mit 52 Prozent Litauern und nicht die litauischem Kreise dieses Gouvernements, d. h. fünf Kreise von sieben zu nehmen, in denen die Litauer 79 Prozent der Bevölkerung bilden?
Es ist lächerlich, von den Bedingungen und Forderungen des modernem Kapitalismus zu sprechen und sich dabei an die weder „moderne“ noch „kapitalistische“, sondern mittelalterliche, feudale, amtlich-bürokratische administrative Einteilung Russlands und noch dazu in ihrer gröbsten Form (Gouvernements und nicht Kreise) zu halten. Es ist sonnenklar, dass in Russland ohne Beseitigung dieser Einteilung und ohne ihre Ersetzung durch eine wirklich „moderne“, nicht den Forderungen des Fiskus, der Bürokratie, der Verknöcherung, der Grundherren und der Pfaffen, sondern denen des Kapitalismus wirklich entsprechende Einteilung von irgendeiner einigermaßen ernsten lokalen Reform in der Provinz keine Rede sein kann, wobei zu den modernen Forderungen des Kapitalismus zweifelsohne die Forderung der größtmöglichen Einheit des nationalen Bestandes der Bevölkerung gehören wird, da die Nationalität, die Identität der Sprache ein wichtiger Faktor der vollen Eroberung des inneren Marktes und der vollen Freiheit des wirtschaftlichen Umsatzes ist.
Sonderbar, dass der Bundist Medem, der nicht die „außergewöhnlichen“ Eigentümlichkeiten Polens sondern die Untauglichkeit des Prinzips der nationalen Territorialautonomie (die Bundisten sind für die national-exterritoriale Autonomie!) beweisen will, diesen augenscheinlichen Fehler Rosa Luxemburgs wiederholt. Unsere Bundisten und Liquidatoren sammeln in der ganzen Welt sämtliche Fehler und alle opportunistischen Schwankungen der Sozialdemokraten verschiedener Länder und verschiedener Nationen und stecken unbedingt das Schlimmste der Sozialdemokraten aller Länder in ihr Rüstzeug: die Ausschnitte aus den bundistischen und liquidatorischen Schreibereien könnten, zusammengefasst, ein mustergültiges sozialdemokratisches Museum des schlechten Geschmacks bilden.
Die Gebietsautonomie – räsoniert belehrend Medem – eignet sich für ein Gebiet, für .einem „Gau“ und nicht für dem lettischem, estnischem usw. Distrikt mit einer Bevölkerung vom einer halben Million bis zwei Millionen und mit dem Flächengehalt eines Gouvernements: „Das wäre keime Autonomie sondern ein einfaches Semstwo… Dieses Semstwo müsste man einer wirklichen Autonomie unterstellen…“, und der Verfasser verurteilt die „Durchbrechung“ der .altem Gouvernements und Kreise.G
Tatsächlich aber bedeutet die Erhaltung der mittelalterlichen, aus der Zeit der Leibeigenschaft stammenden ärarischen administrativen Einteilungen die „Durchbrechung“ und Verkrüppelung der Bedingungen des modernen Kapitalismus. Nur vom Geist dieser Einteilungen durchtränkte Menschen können ,mit Kennermiene“ über die Gegenüberstellung vom „Semstwos“ und „Autonomie“ räsonieren und daran festhalten, dass schablonenmäßig die „Autonomie“ für die großen Gebiete und das Semstwo für die kleinen Gebiete sein müsse. Der moderne Kapitalismus verlangt gar nicht diese bürokratischen Schablonen. Warum kann es keine autonomen nationalen Distrikte mit einer Bevölkerung von nicht nur einer halben Million sondern auch schon von 50.000 Einwohnern geben? Warum können solche Distrikte sich nicht auf verschiedenste Art mit den Nachbardistrikten verschiedener Größe zu einem einheitlichen autonomen „Gau“ vereinigen, wenn das zweckmäßig und für den wirtschaftlichen Umsatz erforderlich ist? Das alles bleibt ein Geheimnis des Bundisten Medem.
Wir wollen nebenbei bemerken, dass das Brünner nationale Programm der Sozialdemokratie sich gänzlich auf den Boden der nationalen Territorialautonomie stellt, wobei es Österreich „an Stelle der historischen Kronländer“ in „national abgegrenzte Selbstverwaltungskörper“ (§ 2 des Brünner Programms) einzuteilen vorschlägt. So weit würden wir nicht gehen. Zweifellos ist die einheitliche nationale Zusammensetzung der Bevölkerung einer der wichtigsten Faktoren des freien, ausgedehnten, wirklich modernen Handelsverkehrs. Zweifelsohne wird kein Marxist und sogar kein entschiedener Demokrat die österreichischen Kronländer und die russischen Gouvernements und Kreise (diese sind zwar nicht so schlimm wie die österreichischen Kronländer, aber immerhin sehr schlecht) verteidigen und die Notwendigkeit des Ersatzes dieser veralteten Einteilungen durch möglichst nach der nationalen Zusammensetzung der Bevölkerung vorgenommene bestreiten. Schließlich ist es zur Beseitigung jedweder nationalen Unterdrückung ohne Zweifel außerordentlich wichtig, autonome Distrikte, wenn auch von ganz geringer Größe, mit geschlossener, einheitlicher nationaler Bevölkerung zu schaffen, wobei auch die freien Verbände jeder Art, die Mitglieder der gegebenen Nationalität, die an allen Ecken des Landes oder sogar des Erdballs verstreut sind, zu diesen Distrikten „tendieren“ und zu ihnen Beziehungen anknüpfen könnten. Das alles ist zweifelsfrei, das alles kann nur vom verknöcherten bürokratischen Standpunkt aus bestritten werden.
Aber die nationale Zusammensetzung der Bevölkerung ist nur einer der wichtigsten wirtschaftlichen Faktoren, jedoch nicht der einzige und nicht der wichtigste von ihnen. Die Städte spielen beispielsweise unter dem Kapitalismus eine überaus wichtige wirtschaftliche Rolle, und die Städte zeichnen sich überall – sowohl in Polen als auch in Litauen, in der Ukraine wie in Großrussland usw. – durch die bunteste nationale Zusammensetzung der Bevölkerung aus. Es ist sinnlos und unmöglich, die Städte aus „nationalen“ Gründen von den zu ihnen tendierenden Marktflecken und Distrikten zu trennen. Deshalb dürfen sich die Marxisten nicht ganz und ausschließlich auf den Boden des „national-territorialen“ Prinzips stellen.
Eine viel wichtigere als die österreichische ist die von der letzten Beratung der Marxisten Russlands in Vorschlag gebrachte Lösung der Aufgabe. Diese Beratung hat in dieser Frage die folgende These aufgestellt:
„Besonders notwendig ist dabei eine großzügige Gebietsautonomie“ (selbstverständlich nicht nur für Polen allein, sondern für sämtliche Gebiete Russlands) „und eine völlig demokratische lokale Selbstverwaltung bei Bestimmung der Grenzen der sich selbst verwaltenden und autonomen Gebiete“ (nicht gemäß den Grenzen der gegenwärtigen Gouvernements, .Kreise usw., sondern) „auf Grund der durch die örtliche Bevölkerung selbst vorzunehmenden Berücksichtigung der wirtschaftlichen und Lebensverhältnisse, der nationalen Zusammensetzung der Bevölkerung usw.“
Die nationale Zusammensetzung der Bevölkerung steht hier in einer Reihe mit anderen Bedingungen (allen voran die wirtschaftlichen, dann die allgemeinen Lebensbedingungen usw.), die als Grundlage der zu schaffenden neuen, dem modernen Kapitalismus, nicht dem Amtsschimmel und dem Asiatentum entsprechenden Grenzen dienen sollen. Nur die örtliche Bevölkerung selbst kann diese Bedingungen ganz genau „berücksichtigen“ und auf Grund dieser Berücksichtigung wird das zentrale Parlament des Staates die Grenzen der autonomen Gebiete und den Kompetenzbereich der autonomen Landtage bestimmen.
Es bleibt noch die Frage des .Selbstbestimmungsrechts der Nationen zu erörtern. In dieser Angelegenheit ist eine ganze Kollektion von Opportunisten aller Nationalitäten, und zwar sowohl der Liquidator Semkowski als auch der Bundist Libman und der ukrainische Nationalsozialist Leo Jurkewitsch, im Sinne der „Popularisierung“ der Fehler Rosa Luxemburgs tätig. Den nächsten Aufsatz werden wir dieser durch die ganze „Kollektion“ ganz und gar verwirrten Frage widmen.
1 Lenin meint hier den Artikel von F. Libman in der Zeitung „Di Zait“, Nr. 28 vom 30. (17.) Oktober 1913: „Ein alter Fehler in neuer Auflage“.
2 Lenin meint hier den Artikel von L. Jurkewitsch „Die Marxisten Russlands und die ukrainische Arbeiterbewegung“ in Nr. 7 und 8 des „Dswin„.
3 Lenin meint hier den Leitartikel „Die russische Sprache“ im „Russkoje Slowo“ vom 10. September (28. August) 1913.
A Buchstäblich: Verähnlichung, Angleichung
B Dass die Bundisten mit ungewöhnlichem Eifer die Tatsache der Annahme der „national-kulturellen Autonomie“ durch alle bürgerlichen Parteien des Judentums oft bestreiten, ist begreiflich. Diese Tatsache deckt die wirkliche Rolle des Bund allzu augenfällig auf. Als einer der Bundisten, Herr Manin, im „Lutsch“ den Versuch machte, seine Ableugnung zu wiederholen, wurde er von N. Skop. (s. „Prosweschtschenije“, Nr. 3) gänzlich entlarvt. Wenn aber Herr Leo Jurkewitsch im „Dswin“ (1913, Nr. 7–8, aus „Prosweschtschenije“ (Nr. 3, S. 78) den Satz von N. Sk. zitiert: „Die Bundisten verfechten .schon lange – gemeinsam mit allen bürgerlichem jüdischen Parteien und Gruppen – die „national-kulturelle Autonomie“, und dieses Zitat in der Weise entstellt, dass er das Wort ,Bundisten‘ streicht und die Worte ,national-kulturelle Autonomie‘ durch ,nationale Rechte‘ ersetzt, so bleibt einem nichts anderes übrig, als bass erstaunt zu sein!! Herr Leo Jurkewitsch ist nicht nur ein Nationalist, nicht nur ein erstaunlicher Nichtwisser auf dem Gebiete der Geschichte der Sozialdemokratie und ihres Programms, sondern auch geradezu ein Zitatenfälscher zugunsten des Bund. Schlecht muss es um die Sache des Bund und der Herren Jurkewitsch bestellt sein! [L. Jurkewitsch kritisierte in seinem Artikel „Die Marxisten Russlands und die ukrainische Arbeiterbewegung“ in Nr. 7/8 des „Dswin“ die von Sinowjew in Nr. 3 des „Prosweschtschenije“ ausgesprochenen Ansichten und zitierte dabei den von Lenin angeführten Auszug aus dem Artikel Sinowjews in der folgenden Weise: „Ohne sich in das Wesen der nationalen Frage hineinzudenken, ohne ihre politische Seite zu berücksichtigen, suchen sie (die Marxisten Russlands. Die Red.) die Schädlichkeit der Teilnahme der Arbeiterklasse an der nationalen Bewegung mit dem nicht durchdachten Argument zu begründen, dass die Arbeiter in diesem Falle gemeinsam mit allen bürgerlichen Parteien und Gruppen die nationalen Rechte verfechten.“]
4 Gemeint ist die Broschüre Kautskys „Nationalität und Internationalität“, die als Ergänzungsheft zu Nr. 1 der „Neuen Zeit“ am 18. Januar 1908 erschien.
C Siehe René Henry: „La Suisse et la question des langues“, Bern 1907.
D Siehe Ed. Blocher, „Die Nationalitäten in der Schweiz“. Berlin 1910.
E „Przegląd Socjal-Demokratyczny„, Krakau 1908 und 1909.
F Rosa Luxemburg geht bei der Entwicklung ihres Gedankens ins Einzelne und erwähnt z. B. mit Recht die Ehescheidungsgesetzgebung (Nr. 12, 162 der genannten Zeitschrift).
G Medem, Zur nationalen Frage in Russland, „Wjestnik Jewropy“ 1919r. Nr. 8 und 9.
[„Prosweschtschenije„, Nr. 10-12, Oktober–Dezember 1913. Gez.: W. Iljin. Nach Sämtliche Werke Band 17, Moskau-Leningrad 1935, S. 155-194]