Im Zuge der Ermittlungen gegen Kanzler Kurz und Finanzminister Blümel ist die Justiz ins Zentrum der Debatte gerückt. Florian Keller analysiert.
„Es wäre sehr lehrreich, einen Film des modernen Parlamentarismus auch nur eines Jahres zu drehen: nur dürfte man den Aufnahmeapparat nicht neben den Sessel des Präsidenten des Parlaments, im Moment der Annahme einer patriotischen Resolution, placieren, sondern an ganz anderen Orten: in den Büros der Bankiers und der Industriellen, in den versteckten Redaktionswinkeln, bei den Kirchenfürsten, in den Salons politischer Damen, in den Ministerien, – und dabei das Auge der Kamera auch in die Geheimkorrespondenz der Parteiführer hineinblicken lassen.“
Das schrieb der russische Revolutionär Leo Trotzki 1929.
Die Segnungen der modernen Technik haben in den letzten Monaten dazu geführt, dass wir über beschlagnahmte Handys und daraus geleakte Privatnachrichten von Spitzenbeamten und -politikern zumindest einen kleinen Ausschnitt eines solchen Filmes abgespielt bekommen haben.
Einer davon ist der (mittlerweile suspendierte) „Mann fürs Grobe“ der ÖVP im Justizministerium, Christian Pilnacek. Als Sektionschef (oberster Beamter) jener Abteilung, die für alle Staatsanwaltschaften zuständig war, hatte er über ein Jahrzehnt lang eine enorme Machtposition, die er offensichtlich im Interesse von ÖVP-Politikern, Spitzenbeamten, Kapitalisten und Justiz nutzte.
In den Medien diskutiert wurde in den letzten Monaten über seine Verbindungen mit den Raiffeisen-Bänkern Rothensteiner und Pröll (seines Zeichens auch ehemaliger ÖVP-Vizekanzler und Finanzminister), dem jetzigen ÖVP-Finanzminister Blümel, sowie über eine Intervention im Sinne des Meinl-Bankiers Weinzierl. 2019 wurde auch gegen ihn ermittelt, weil er laut Anzeige von Staatsanwälten diese aufforderte, die Eurofighter-Bestechungs-Ermittlungen rasch und ergebnislos einzustellen. Die zuständige Oberstaatsanwaltschaft Linz entschied sich damals aber dafür, die Ermittlungen gegen ihren Chef einzustellen.
Letztendlich ist Pilnacek darüber gestolpert, dass er im Verdacht steht, eine anstehende Hausdurchsuchung beim österreichischen Multimilliardär Michael Tojner verraten zu haben. Dessen Anwalt ist Wolfgang Brandstetter, auch ein persönlicher Freund Pilnaceks, ehemaliger ÖVP-Justizminister und damaliger Richter am höchsten österreichischen Gericht, dem Verfassungsgerichtshof (VfGH). Auch er steht heute im Verdacht des Geheimnisverrats.
Die geleakten Nachrichten zwischen Brandstetter und Pilnacek zeichnen ein Sittenbild des bürgerlichen Filzes im Staatsapparat und die harten Bandagen, mit denen er seine Interessen unter der ehrwürdigen Oberfläche durchsetzt: Pilnacek beschwert sich über die „missratene StA“ (gemeint ist Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft WKStA), macht rassistische Witze darüber, dass man den VfGH nach Kuba exportieren solle, dort wären sie stolz auf die (schwarze) Vizepräsidentin und eine andere (über ein SPÖ-Ticket nominierte) Verfassungsrichterin gäbe eine gute Müllfrau ab. Brandstetter philosophiert, dass „die Demokratie halt nicht (mehr) zu bieten“ habe. Brandstetter ist mittlerweile als Verfassungsrichter zurückgetreten (worden).
Die Rolle der Justiz
Die ÖVP hat in den letzten Jahrzehnten ihre Dominanz in den zentralen Schaltstellen des Staatsapparats so weit zementiert, dass sie mehr oder minder ungestört schalten und walten konnte. Die Unverschämtheit von Pilnacek und Co. ist eine Folge ihrer langen Unantastbarkeit in den Behörden.
Das Innenministerium etwa ist seit über 20 Jahren in den Händen von ÖVP-Ministern, mit dem kurzen Intermezzo von Herbert Kickl (FPÖ): Nicht zufällig fällt der BVT-Skandal in dessen Amtszeit, der in Wirklichkeit ein Konflikt darüber war, wer die Kontrolle über die Behörde ausüben kann – das alte ÖVP-Netzwerk, oder neue, blaue Beamte. Letztendlich hat die ÖVP diesen Konflikt für sich entschieden, unter Innenminister Nehammer ist wieder „Ruhe eingekehrt“.
Auch das Justizministerium war von 2008 bis zum Ende der Regierung Kurz I durchgehend in ÖVP-Hand. Jetzt hat die Grüne Alma Zadic das Amt übernommen, die schwarzen Netzwerke agieren nicht mehr ungestört. Im Gegensatz zu Herbert Kickl, der offensiv versucht hat, der ÖVP die Kontrolle über Polizei und Geheimdienst zu entreißen, ist die grüne Ministerin nicht offensiv, sondern reagiert mit ihren Entscheidungen offensichtlich vor allem auf Dynamiken im Apparat selbst.
Wie die geleakten SMS zeigen, haben Pilnacek und sein Netzwerk den Beamtenapparat von Ministerium und Staatsanwaltschaften jahrelang wie ein ÖVP-Lehen betrachtet, Einfluss genommen, Unangenehme ins Abseits gestellt. Die schleppende Aufarbeitung der Korruptionsfälle der Ära Schüssel sprechen hier für sich. Besonders Beamte in der WKStA mussten sich wohl oft vor dem schwarzen Netzwerk beugen. Die Aussagen der „Ibiza-Staatsanwältin“ Jilek im Untersuchungsausschuss sind hier eindeutig: „Befreien Sie die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft aus ihrem politischen Korsett“. Unter neuer Führung im Ministerium wittern jetzt viele Spitzenbeamte im Abseits die Möglichkeit für einen Befreiungsschlag.
Dass Pilnacek und Brandstetter gehen mussten, ist eine Ausnahme. Der ÖVP-dominierte „Filz“ wehrt sich verbissen, unter anderem mit Anzeigen gegen die WKStA, Vorschlägen zu Gesetzesänderungen und einer Medienkampagne.
Diese Konflikte drohen, den Schleier der neutralen Instanz „Justiz“ unwiderruflich abzureißen. Das ist ein Problem für die Stabilität des bürgerlichen Systems. Daher warnen immer mehr gut-bürgerliche Kommentatoren die ÖVP davor, die „Unabhängigkeit der Justiz“ anzugreifen. Ihre Sorge ist dabei vor allem, dass die existierende, schmutzige Realität der Verknüpfung der Justiz mit den Interessen des Kapitals ins Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit gerufen wird. Wenn Pilnacek in seinen Chats mit einem Verfassungsrichter schreibt, „uns fehlt Trump“, dann lässt das bei der Mehrheit des österreichischen Bürgertums die Alarmglocken schrillen.
Der VfGH
Nach dem Rücktritt Brandstetters sagte der Präsident des VfGH Christoph Grabenwarter, er wolle jetzt einen „Schlussstrich“ unter die Causa ziehen. „Weitergehen, hier gibt es nichts zu sehen!“ Tatsächlich gibt es aber viel zu sehen.
Verfassungsrichter werden in Österreich vom Bundespräsidenten auf Vorschlag ernannt: zur Hälfte von der Bundesregierung, den Rest teilen sich Nationalrat und Bundesrat. Auf die Frage, ob das ein Problem sei, antwortete Grabenwarter, dass das auf der ganzen Welt so sei, wichtig sei aber, dass man Loyalitäten jenen gegenüber abstreift, von denen man gewählt wurde. Doch wie sich solche luftigen Ideale in der Realität schlagen, sieht man ja gerade am Beispiel Brandstetters.
Hier sei noch angemerkt, dass die Verfassungsrichter in Österreich diesem Amt nur „nebenberuflich“ nachgehen, und damit natürlich noch viel mehr „ideelle Kraft“ bräuchten, um den bürgerlichen Interessen etwas entgegenzusetzen, selbst wenn sie das wollten. Grabenwarter und seine Vizepräsidentin etwa sind z.B. beide Professoren an der Wirtschaftsuniversität Wien, wie auch zwei weitere Verfassungsrichter. Unter ihnen finden sich auch Partner großer Anwaltskanzleien, nicht selten mit Wirtschaftsschwerpunkt. Ein Verfassungsrichter wurde 2019 bekannt, weil er „hauptberuflich“ Strache und Kickl vor Gericht als Anwalt vertrat. Das Ersatzmitglied des VfGH Werner Suppan wird immer wieder als Vertrauensperson der ÖVP-Minister im Untersuchungsausschuss genannt, seine Kanzlei war es auch, die in den letzten Wochen Klagen gegen Personen verfasste, die Blümel in den sozialen Medien als korrupt bezeichnet oder das angedeutet haben.
Die Wahrheit ist, dass die Spitzen im bürgerlichen Staatsapparat immer, wie Lenin es in seinem Buch „Staat und Revolution“ ausdrückte, „über tausend Fäden“ mit dem Kapital verbunden sind.
Für die Arbeiterbewegung ist der Kampf gegen die ÖVP und ihre Machtnetzwerke von großer politischer Bedeutung. Doch sich dabei auf den bürgerlichen Staatsapparat zu stützen und insbesondere das Prinzip der „unabhängigen Justiz“ hochzuhalten, wie es die Spitzen der SPÖ tun, führt nur zur heillosen Verwirrung über den Klassencharakter der Justiz: Der ist und bleibt bürgerlich, auch wenn zur Abwechslung tatsächlich ÖVP-Politiker angeklagt werden sollten und wenn Weihnachten und Ostern zusammenfallen, vielleicht sogar vor einer Verjährung der Vorwürfe verurteilt werden.
(Funke Nr. 195/1.7.2021)