Seit dem 1. Mai 1977 hatte die Türkei eine solche Demonstration nicht erlebt. Millionen von Menschen gingen in Ankara am 14. April erstmals auf die Straße, um der fundamentalistischen Regierung „Stopp“ zu sagen. Die Massenbewegung der folgenden Wochen und die Drohung des Militärs einzugreifen zwangen den Präsidentschaftskanditat Abdullah Gül nun zum Einlenken.
Millionen von DemonstrantInnen marschierten unter dem Slogan „Die Türkei ist laizistisch und wird es bleiben!“ Und die TeilnehmerInnen der Kundgebung riefen Parolen gegen die Präsidentschaftskandidatur von Abdullah Gül. Die Regierung wollte den Aufschrei von Millionen nicht wahrnehmen und stellte dennoch Abdullah Gül als Kandidaten auf. Sozialdemokratische und kemalistische Organisationen und verschiedene Gewerkschaften hatten zu den Demos aufgerufen. Darüber hinaus hatten die Universitätsrektoren den Studierenden für die Demo freigegeben.
Etwa 20 Organisationen und Vereine planten darauf eine Demonstration in der türkischen Metropole Istanbul. Auch dort gab es am 29. April eine Massendemo. Viele Menschen waren von außerhalb angereist, um endlich der Regierung die Stirn zu bieten. Die Menschen hatten teilweise ihre Ketten und viele andere Dinge verkauft um nach Istanbul zu kommen. Viele Buslinien waren stillgelegt worden, damit die Menschen nicht bei dieser Demonstration teilnehmen konnten.
Die DemonstrantInnen forderten den Rücktritt der Regierung und schrien Parolen gegen den US-Imperialismus. Die Masse rief, dass der Tayyib Erdogan eine Marionette von den USA sei. Linke Parolen und Freiheitslieder dominierten die Demos, Millionen Menschen haben sie dabei begleitet. Es wurde sogar ein Gedicht von Nazim Hikmet vorgelesen. Hikmet wurde von einer faschistischen Regierung vor Jahren ins Exil in die Sowjetunion von seinem Vaterland verbannt, weil er ein Kommunist war. Aber mittlerweile liest ein Großteil der Bevölkerung seine Gedichte) vorgelesen.
Durch den Boykott aller oppositioneller Parlamentsparteien kam die Wahl Güls zum Präsidenten nicht zustande. Das türkische Verfassungsgericht bestätigte dieses Vorgehen, nachdem die Armee auch nicht still geblieben war und mit einer Intervention gegen die jetzige Fundi-Regierung gedroht hatte. Auch die türkische Bourgeoisie sah als einzigen Ausweg vorgezogene Neuwahlen, um die Bewegung wieder in geordnete Bahnen zu lenken. Sie sollen nun am 22. Juli stattfinden.
Die Menschen bejubelten die Reaktion des türkischen General Büyükanit. Die Masse sieht die türkische Armee als Erbe Atatürks. Die türkische Armee hatte bis dato drei Regierungen gestürzt. Zweimal hatte es sich um faschistische Staatsstreiche gehandelt, welche nicht von der türkischen Bevölkerung unterstützt wurden.
Viele sind davon überzeugt, dass der General Büyükanit nicht so wie die zwei anderen Generäle ist: So war es das erste Mal in der türkischen Geschichte, dass sich ein General über den US-Imperialismus geäußert hat. Das türkische Militär gilt zwar als wichtige Stütze des US-Imperialismus in der Region, doch kam es in der Vergangenheit immer wieder zu Interessenskonflikten mit den USA rund um die Frage der kurdischen Autonomie im Nordirak.
Trotz der aktuellen Überschneidung der Interessen zwischen Armeeführung und Massenbewegung dürfen MarxistInnen aber kein Vertrauen in die Kräfte des Militärs legen. Nur durch die Selbstorganisation der ArbeiterInnenklasse, und mit ihr aller unterdrückten Schichten der türkischen Gesellschaft, wird sich die Türkei aus der Umklammerung des US- bzw. EU-Imperialismus einerseits und des Islamismus andererseits befreien können.
Die jüngsten Demonstrationen sind die erste Stufe des Erwachens einer sozialen Bewegung. Der unmittelbare Auslöser mag die Kandidatur eines Islamisten zum Präsidentenamt gewesen sein. Die wahren Gründe der Bewegung liegen allerdings tiefer: Die Wirtschaftskrise nach dem Crash des Jahres 2001, die Auswirkungen pro-kapitalistischen Reformen der AKP-Regierung – kurz: die allgemeine soziale Unzufriedenheit macht sich in dieser Bewegung Luft. Das zeigt sich u.a. darin, dass linke Slogans die Demonstrationen dominierten, obwohl auch rechts-nationalistische Kräfte zur Demo aufgerufen hatten.
Der schlafende Riese ist gerade erst erwacht. Für kommenden Sonntag sind weitere Proteste – diesmal in Ismir, der drittgrößten Stadt des Landes – angekündigt.
Umut A.
SJ Amstetten/Haag