Buchkritik. Unter dem Titel „Was Linke denken“ legt Journalist Robert Misik, ein kleines Büchlein vor, das den Anspruch erhebt, die im Titel gestellte Frage umfassend zu beantworten. Eine Kritik von Sandro Tsipouras.
Misik beginnt seine Darlegung mit einer Einleitung, in der er zu klären versucht, was er mit „Linken im weitesten Sinne“ überhaupt meint und wessen Gedanken es mithin sind, die er vermitteln will. In seiner langen Liste finden sich „Leute, die aus einer gewissen Grundüberzeugung heraus linke Parteien wählen, seien das Sozialdemokraten, Grüne, andere ‚linkere’ Linksparteien … christliche Caritas-Funktionäre … Antifa-Demonstranten genauso wie viele Gewerkschaftsvertrauensleute im Betrieb … Leute, die für die Freiheit der Kunst sind und gegen einen Konformitätszwang … die Internationalität jedenfalls anziehender finden als Nationalismus und Rassismus, und die im Allgemeinen finden, dass Geld und Karriere nicht das Wichtigste im Leben sind“. Kurzum: „Die Linke ist natürlich extrem bunt und heterogen“.
Linkssein, das ist für Misik eine reine Willensentscheidung, ein wahrgenommenes Angebot aus dem Katalog der politischen Mode. Eine karitative Laune gepaart mit einem Gefühl für Weltoffenheit. Faszination am Exotischen und Ekel vor Armut.
Wir würden ihm bei dieser Einschätzung widersprechen. Unser „Linkssein“, der revolutionäre Marxismus, stützt sich nicht auf gefühlsbasierte Entscheidungen. Wir stützen uns auf die wissenschaftliche Analyse des Kapitalismus, die Marx vorgenommen hat, und die uns zur Einschätzung führt, dass die Menschheit in diesem System keine wünschenswerte Zukunft Perspektive hat und dass der Weg über den Kapitalismus hinaus über eine sozialistische Revolution führen wird. In unserer September-Ausgabe schrieben wir etwa: „Die Zeiten der Sozialpartnerschaft sind vorbei. Wie die unmittelbare Zukunft im Kapitalismus aussieht, sehen wir in Griechenland: Permanente Massenarbeitslosigkeit, Auflösung des Staatswesens zugunsten privater Investoren, Armut, Hunger und Krankheit als normale Erscheinungen in der ArbeiterInnenklasse. Die Staatsschuldenkrise, die der unmittelbare Auslöser für die griechischen Zustände war, hängt als Damoklesschwert über allen Ländern Europas und es gibt dafür keine andere Lösung als den Bruch mit dem Kapitalismus.“ Ob diese Einschätzung stimmt, darüber kann man streiten. Aber eins ist sie sicher nicht: Eine subjektive Präferenz oder eine zufällige Charaktereigenschaft. Entweder, wir haben damit Recht, und dann ist die Revolution die logische Konsequenz, oder wir haben eben Unrecht.
Es braucht keine Revolution
Misik würde unserer Einschätzung jedenfalls widersprechen, weswegen er sein zweites Kapitel auch mit „It doesn’t take a revolution“ überschrieben hat. Es beginnt mit einem ausschweifenden Lob an Eduard Bernstein, den „peniblen Forscher“, der „klug genug“ war, den „Utopismus“ derer, die aus einer „Radikalinski-Haltung“ heraus von „einem Sprung aus der kapitalistischen in die sozialistische Gesellschaft träumen“, als solchen zu erkennen.
Eduard Bernstein (+1932) legte das theoretische Fundament für den immer stärker werdenden Reformismus in der deutschen Arbeiterbewegung, die offiziell mit einer marxistischen Perspektive ausgestattet bis zu diesem Zeitpunkt wie selbstverständlich die Revolution zum Ziel hatte, also das Erkämpfen der politischen und wirtschaftlichen Macht durch die ArbeiterInnenklasse mittels der Enteignung der Bourgeoisie. Bernstein hatte sich schon in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts für eine Aufgabe des revolutionären Kampfes und eine Anpassung an das Bismarck-Regime eingesetzt. Nach dem Tod von Marx und Engels, die zu Lebzeiten erfolgreich verhinderten, dass er sich mit seinen Ansichten in der Partei durchsetzte, wuchs jedoch sein Einfluss immens. Rosa Luxemburg, die den revolutionären Flügel repräsentierte, hielt hier am stärksten dagegen. Bernstein gelangte, wie auch Misik, unter dem Eindruck der Aufschwünge und Boomphasen des Kapitalismus zur Idee, dass die Aufschwünge ewig dauern könnten, oder dass es möglich wäre, den Kapitalismus vor Krisen zu schützen. Für Bernstein war dies der Aufschwung am Ende des 19. Jahrhunderts, für Misik der Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg. Es ist wichtig zu verstehen, dass diese Perioden besonderen geschichtlichen Bedingungen geschuldet waren, die sich nicht wiederholen lassen. Misik hingegen vertritt wie Generationen kleinbürgerlicher Utopisten vor ihm die Auffassung, wenn man den Kapitalismus nur „klug managed“, könnte man jederzeit zu diesem Zustand zurückkehren.
Nachdem sich Misik in diese politische Tradition stellt, konstatiert er lapidar: „Revolution? Nun, die ist nicht unbedingt zu erwarten … Zudem: Die Verschärfung aller Klassengegensätze, bis irgendwann ein vollständig prekarisiertes Proletariat einer herrschenden Bourgeoisie gegenübersteht und dieses Proletariat dann die Revolution macht? Das sind doch nur mehr falsche Träume von gestern, die ohnehin nicht besonders schön waren … Das revolutionäre Proletariat ist gewissermaßen ausgestorben.“
Statt Revolution stehen also schrittweise Verbesserungen auf dem Programm. Nun beruht aber diese Meinungsverschiedenheit zwischen Reformismus und revolutionärem Marxismus nicht auf einer politischen Laune, die uns zu „Radikalinski“-Haltungen und ihn zum Realismus treibt, sondern auf dem, was man einen Klassenstandpunkt nennt – ein Begriff, der in Misiks Büchlein nicht umsonst kein einziges Mal vorkommt. Wir kommen zu anderen Resultaten als Misik, weil wir die Dinge aus der Sicht der Arbeiterklasse beurteilen. Es ist diese Klasse, für die die Überwindung des Kapitalismus eine „historische Notwendigkeit“ ist, wie Marx sagt.
Der Bernsteinsche Reformismus hingegen argumentiert aus der Perspektive von Menschen, die, wie Misik, im Leben „Wichtigeres“ kennen als „Geld und Karriere“, weil sie ohnehin genug Geld zum Leben und eine, wenn auch nicht allzu erfolgreiche, so doch immerhin stattfindende Karriere haben. Bernsteins Abweichungen vom Marxismus spiegeln dabei vor allem das Eigeninteresse der Bürokratie in der Arbeiterbewegung wider. Dieser Apparat braucht den Sozialismus nicht, weil er das gute Leben schon hat. Im Gegenteil hat er Angst vor dem Klassenkampf, in dem er nur allzu leicht zwischen die Fronten gerät. In diesem Sinne war Bernstein der ideologische Wegbereiter für die Lebensrealität von Werner Faymann und Alexis Tsipras.
Die Bürokratie der ArbeiterInnenbewegung, aber auch alle anderen, die im Kapitalismus das Sagen haben, halten deswegen natur- und berufsgemäß die Revolution in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eher für eine Utopie. Das ist aber kein Ausdruck für ihr Verständnis der Materie, sondern für ihre materiellen Interessen, die sie mit einer passenden Ideologie rechtfertigen. Das Sein bestimmt auch hier das Bewusstsein.
Was ist „die Linke“?
„Die Linke“ ist ein willkürlich gewähltes Spektrum, das vom revolutionären Marxismus, wie er von dieser Zeitung vertreten wird, bis zum kleinbürgerlichen Linksliberalismus eines Robert Misik reicht. Es gibt auch viel dazwischen, Mischformen und Übergänge, aber letzten Endes schließen sich diese Positionen gegenseitig aus: Entweder man will den Kapitalismus retten, oder man nützt die aufbrechenden gesellschaftlichen Widersprüche im kränkelnden Kapitalismus um die revolutionäre Option und damit eine sozialistische Gesellschaft vorzubereiten.
Insofern antworten wir Misik auch: Als Utopie hat sich nicht die Revolution, sondern die Vorstellung vom krisenfreien Kapitalismus erwiesen.
Misik und Bernstein behaupten, dass sie über Marx hinausgekommen sind, weil dieser behauptet habe, im Kapitalismus würde ganz linear, ohne gegenläufige Tendenzen, alles nur immer schlimmer werden, bis das Proletariat ihn stürzt. Dabei verschweigen sie, dass die periodisch auftretenden Krisen, ebenso wie die dazwischenliegenden Aufschwünge, ein zentraler Untersuchungsgegenstand von Marxens Kritik der politischen Ökonomie sind und Marx selbst gegen jeden heftigst polemisiert hätte, der einer Vorstellung von einem linear, am Ende gar automatisch sich auf seinen Untergang zubewegenden Kapitalismus das Wort geredet hätte.
Marx erklärt auch, dass der Kapitalismus sich nur als Folge von Aufschwüngen und Einbrüchen entwickeln kann, die mal weniger, mal mehr dramatisch ausfallen, wie es sich in den gut 150 Jahren seit der Veröffentlichung des ersten Bands des „Kapitals“ dann auch bestätigt hat. In einer Wirtschaft, die von einer Krise in die nächste taumelt, sind anhaltende Verbesserungen für die Arbeiterklasse, also ein schrittweiser Übergang zur besseren Welt, undenkbar und scheitern dann auch tatsächlich an der Verfasstheit des Kapitalismus. Selbst wenn die Arbeiterklasse Erfolge erzielen kann, haben diese im Rahmen der herrschenden Eigentumsverhältnisse einen temporären Charakter: So wurde das Rote Wien durch die österreichische Bourgeoisie im Februar 1934 rabiat vernichtet. Auf ökonomische Weise vernichtet gerade die venezolanische Bourgeoisie die Errungenschaften der bolivarischen Revolution unter Hugo Chavez. Auch die sozialen Errungenschaften des Nachkriegsaufschwungs werden in der derzeit stattfindenden kapitalistischen Krise entweder brutal (Griechenland) oder schichtweise (Österreich) abgetragen.
Kampf um die Hegemonie
Auf die theoretische Absage an die Revolution folgt die Absage an die revolutionäre Praxis im dritten Kapitel. Nachdem er einen Satz darauf verwendet, die russische revolutionäre Partei der Bolschewiki als PutschistInnen abzutun, beginnt Misik zu erklären, dass „reformorientierte Sozialisten“ im Gegensatz zu den PutschistInnen die Mehrheit der Leute gewinnen wollten und deshalb einen „Kampf um die Köpfe“, bzw. einen Kampf um die „Hegemonie“, das ist die ideologische Vorherrschaft in der Gesellschaft, zu führen hätten, um den hegemonialen „neoliberalen Konsens“ zu brechen. Als Teil dieses Versuchs sieht Misik sicher auch seine eigene schriftstellerische Tätigkeit.
Amüsant wird es, wenn er über die „Fragen“ referiert, die sich „die Linke“ angeblich stellen muss. Er zeigt Momente auf, an denen „die Linke“ auf beinahe unüberwindbare Widersprüche stößt. Ein Beispiel der Schwierigkeiten denen er auf seinem anti-hegemonialen Vorstoß begegnet: „Wenn höhere Löhne mit der Stabilisierung des Kapitalismus durch eine Stärkung der Massenkaufkraft begründet werden, wie verträgt sich das dann mit der Kritik am Konsumwahn?“
Hier stoßen wir zum Kern seines Denkens vor, seiner Schwierigkeit die Macht der herrschenden Klasse überhaupt erst konfrontieren zu können: „die Macht, die nicht nur unterdrückt, sondern die angeblich Unterdrückten sogar zu ihren Komplizen macht“. Und er stellt die Frage der Fragen: „Welche raffinierten‚ hegemonialen Strategien’ braucht da eine zeitgenössische Linke …?“
Das Problem an diesen Fragestellungen ist, dass es in der Arbeiterklasse, der umworbenen Mehrheit der Gesellschaft, tatsächlich keinen „neoliberalen Konsens“ gibt, sondern wenn es diesen überhaupt gibt, dann in der bürgerlichen Minderheit, die die Gesellschaft beherrscht. Es ist schon ziemlich grotesk: Misik meint offensichtlich, dass es die Hauptaufgabe der Linken sei, die Leute davon zu überzeugen, dass Sozialleistungen, Kündigungsschutz und funktionierende staatliche Unternehmen gut für sie sind. So schreibt er: „solange die Dominanz der wirtschaftsliberalen Doktrin besteht, werden auch Wahlsiege linker Parteien nicht viel ändern – weil sie sich dann auf die eine oder andere Weise unterwerfen müssen“. Schuld am Scheitern seiner reformorientierten Politik sind also einmal mehr die unaufgeklärten Massen. Welche banale Umkehrung der Realität: 63 % der GriechInnen stimmte gegen den Sparzwang, einer unterwarf sich ihm: Alexis Tsipras, dem Misik bis heute die Stange hält.
Man muss es dem Autor schon zugutehalten: Sein Buch zeigt wunderbar die Hilflosigkeit des kleinbürgerlichen Reformismus und im Besonderen derer auf, die heute maßgeblich mit ‚hegemonialen Strategien’ zu arbeiten versuchen.