Die Entwicklung des russischen Imperialismus, sein Verhältnis zum Westen und die Auswirkungen auf Österreich analysiert Patrick Mellacher.
Die Berichterstattung der letzten Zeit legt nahe, dass der Kalte Krieg wieder ausgebrochen sei. Auf der einen Seite wird Russland verteufelt und Putin als der letzte Kriegstreiber Europas dargestellt, der den mühsam erkämpften Frieden auf dem Kontinent in Frage stellt. Auf der anderen Seite zeigt der russische Sender „Russia Today“, der sich mittlerweile auch in Westeuropa einer großen Beliebtheit erfreut, fast jeden Tag den Test eines neuen russischen Waffensystems oder neue Hinweise darauf, dass das malaysische Flugzeug MH17 vom ukrainischen Militär abgeschossen wurde.
Doch jede Analogie hat ihre Grenzen. Statt eines Systemwettstreits zwischen den kapitalistischen Marktwirtschaften im Westen und den bürokratisch deformierten Planwirtschaften im Osten stehen sich heute mehrere imperialistische Blöcke gegenüber. Die friedliche Koexistenz der Raubtiere ist dadurch gefährdet, dass die Beute immer geringer ausfällt. Die aktuellen Konflikte können daher nur verstanden werden, wenn die wirtschaftliche Entwicklung mitbedacht wird. Während der Westen unmittelbar in einer Überproduktionskrise steckt und die Unternehmen große Probleme haben, ihre Waren zu verkaufen, hat Russland andere Schwierigkeiten: Die einstige Industriemacht wurde durch die Privatisierungswellen in den 1990er Jahren stark deindustrialisiert. Der Höhenflug des Ölpreises in den 2000er Jahren konnte die ökonomische Misere stoppen. Öl und Gas machen rund 75 Prozent der russischen Exporte und die Hälfte der Budgeteinnahmen aus. Doch der Ölpreis befindet sich mittlerweile seit einem halben Jahr im freien Fall (siehe S. 5). Die russische Zentralbank rechnet 2015 mit einem Einbruch des Bruttoinlandsproduktes zwischen 4,5 und 4,7 Prozent, auch 2016 soll einen weiteren Rückgang der Wirtschaftskraft bringen. Dieser negative Ausblick auf der einen und die prekäre außenpolitische Situation auf der anderen Seite ließen die traditonell hohe Kapitalflucht sintflutartig anschwellen. Allein im vergangenen Jahr sollen 100 Mrd. Dollar aus dem russischen Markt abgezogen worden sein.
Die panikartige Flucht aus den russischen Märkten entwertete 2014 den Rubel gegenüber dem US-Dollar um 50 Prozent. Das bedeutet, dass die Auslandsschulden des russischen Staates in der Höhe von über 60 Milliarden und die der russischen Unternehmen und Banken in der Höhe von 600 Milliarden US-Dollar in diesem Zeitraum, gemessen in Rubel, doppelt so viel wert geworden sind. Die russische Zentralbank versucht den Absturz aufzufangen. Doch das wird außer dem massiven Abschmelzen von staatlichen Devisenreserven und dem Profit von Spekulanten und Kapitalflüchtlingen nur eines bringen: ein bisschen mehr Zeit.
Die Krise in Russland hat mehrere Elemente: der fallende Ölpreis drückt das Staatsbudget und die Investitionstätigkeit. Der russische Finanzmarkt hat in den letzten Jahren stark expandiert und ist dadurch vom Kapitalzufluss aus dem Westen abhängig. Die Refinanzierung des russischen Finanzmarktes ist durch die westlichen Sanktionen im Zuge der Ukraine-Krise jedoch massiv gestört. Die Zentralbank reagierte darauf mit einer drastischen Erhöhung der russischen Zinssätze, die nun bei 17,5 % liegen. Die Regierung wiederum musste Ende Dezember eine Reihe von Banken und Industriekonzernen mittels Staatsgeldern retten. Für die erste Runde an Bankenrettungen sind 14 Mrd. € Staatsgelder vorgesehen. Die allgemeine Ausweitung des Kredits vor der aktuellen Krise, verbunden mit der Wirtschaftskrise und dem Rubelzerfall, wird die Konjunktur zusätzlich abwürgen und den russischen Finanzsektor über die Klippe ziehen. Die Zentralbank rechnet für 2015 mit einer Verdopplung der Kreditausfälle auf 8% des Gesamtkreditvolumens. Welch drastische Wendung! Der russische Finanzmarkt galt noch bis Mitte des vergangenen Jahres als höchst-profitabel, der österreichische Raika-Konzern etwa machte 2103 mit der russischen Tochterbank fast 70 Prozent des Gesamtprofits.
Der russische Bär brüllt wieder
Die neugewonnene außenpolitische Initiative Russlands kommt nicht von einer neugewonnen Stärke, sondern aus einer Position der Defensive heraus. Vor zehn Jahren, als die baltischen Staaten der NATO beitraten und die Ukraine sich im Zuge der „Orangen Revolution“ zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg aus der russische Einflusssphäre entfernte, war Russland noch zum Zuschauen verdammt. Im vergangenen Jahrzehnt versuchte der Westen mittels der „bunten Revolutionen“ in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion (Kirgisien 2005, Weißrussland 2006, Georgien 2007) neue politische und wirtschaftliche Einflusszonen zu etablieren. Lokale Politiker berichten, dass die EU die Ausdehnung ihrer Freihandelszone in die ehemalige Sowjetunion sehr aggressiv und unilateral betrieb. Obwohl diese Länder stark mit dem russischen Markt verbunden sind, bestand die EU-Außenpolitik auf privilegierten Beziehungen der jeweiligen Länder mit der EU unter Ausschluss Russlands. Da dies den Ruin ganzer lokaler Wirtschaftszweige bedeuten würde, kann sich die Gegeninitiative Russlands auf Teile der herrschenden Klasse in den ehemaligen Nachfolgerepubliken stützen. Spätestens der Georgienkrieg 2008, in dem Russland innerhalb von fünf Tagen die georgische Armee besiegte, markierte aber einen Wendepunkt in der russischen Außenpolitik. Putin war nicht länger bereit, mit gezwungenem Lächeln zuzusehen, wie sich ein Land nach dem anderen von Russland abwendet und gegenüber EU und NATO öffnet. Aus diesem Grund zögerte er nicht lange, als sich die auf der Krim stationierte russische Schwarzmeerflotte aufgrund des pro-westlichen Umsturzes in Kiew quasi über Nacht in feindlichem Territorium befand. Seine Rhetorik, mit der er an das russische Nationalgefühl und die berechtigte Angst der russischen Minderheit der Ukraine vor den Neonazis appellierte, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der „Volksaufstand“ auf der Krim von russischen Truppen angeleitet und durchgeführt wurde, wie Putin später auch zugab.
Damit haben die EU und die USA nicht gerechnet. Hatte man Russland nicht schon mit Nachdruck gezeigt, dass nur der Westen militärisch intervenieren darf, wenn seine Interessen in Gefahr sind? Doch am Ende zählt für jedes imperialistische Land nur die militärische und wirtschaftliche Durchsetzungskraft, und diese wandte sich nach 20 Jahren US-amerikanischer Offensive in ihr Gegenteil. Der US-geführte Krieg in Afghanistan wurde verloren, die USA schafften es nicht mal mehr ihre Armeen heil aus dem Land zurückzuziehen. Die Lage im Irak und in Libyen ist völlig außer Kontrolle geraten. Im Fall des Iraks ist der US-Imperialismus sogar auf eine militärische Zusammenarbeit mit dem Erzfeind Iran angewiesen, um die Regierung in Bagdad zu stabilisieren. Dies droht die USA völlig von ihrem langjährigen Bündnispartner, dem Fundamentalistenregime Saudi-Arabiens, zu entfremden. Im Irak und in Syrien unterstützen Saudi-Arabien und die USA jeweils unterschiedliche Kriegsparteien. Unter Ausnützung dieser Widersprüche gelang es Putin bislang in Syrien Assad an der Macht und damit seinen einzigen Flottenstützpunkt im Mittelmeer zu halten. Die Gegenoffensive Russlands basiert also auch auf den schwindenden Kräften des US-Imperialismus in der Region.
Die EU hat Russland bereits gezeigt, dass sie eine falsche Freundin ist und nur eine solche sein kann. Doch Moskau braucht nicht die Freundschaft aller EuropäerInnen, es reicht eine zum wirtschaftlichen und politischen Zentrum Berlin und zu seinen traditionellen Einflusszonen etwa am Balkan. Zwar machte Putin nie einen Hehl daraus, dass ihn mit seinem Männerfreund Gerhard Schröder mehr verband als mit Kanzlerin Merkel, die sich laufend Provokationen ihres russischen Amtskollegen gefallen lassen muss. Doch beide wissen, dass an einer Fortsetzung intakter Beziehungen kaum ein Weg vorbei führt. Aus diesem Grund klingt der deutsche Ruf nach Wirtschaftssanktionen heute auffallend gedämpft. Anfangs Teil der amerikanischen Offensive in der Ukraine, verschreibt sich Deutschland zunehmend einer Lösung unter Ausschluss der USA. Wirtschaftsminister Gabriel warnt heute vor „Kräften in den USA und Europa, die Russland jetzt wirtschaftlich und politisch noch mehr destabilisieren wollen“. Deutschland braucht, um eine von den USA unabhängige Rolle spielen zu können, Zugang zum russischen Öl und vor allem Erdgas und damit ein Bündnis mit Russland. Gleichzeitig schloss Russland zwar im Mai 2014 ein Abkommen über Gaslieferungen an China und im Dezember des gleichen Jahres eines über die Lieferung von Öl und Gas an Indien. Doch die Nachfrage in Asien ist nicht groß genug, um das riesige russische Angebot abzudecken. Daher ist Russland weiterhin auf Handelspartner im Westen angewiesen.
Für den Süden nimmt seit kurzem die Türkei diese Rolle ein. Ankara wollte sich ursprünglich der EU anschließen, wurde jedoch von dieser stets stiefmütterlich behandelt. Spätestens seit der Krise der EU scheint jede Hoffnung auf einen Beitritt dahin. Die dadurch neugewonnene Freiheit nützt Erdogan, um eine selbständige Außenpolitik auf eigene Rechnung zu betreiben. Mit seiner repressiv-konservativen Innenpolitk („Geburtenkontrolle ist Verrat“, Zensur, Verhaftungswellen und Polizeiterror…) bewies er bereits seit langem seine Ablehnung des Liberalismus hinlänglich. Moskau kann mit der Politik Ankaras zwar in vielen Fällen wenig anfangen. Im Syrien-Konflikt unterstützen sie sogar feindliche Konfliktparteien: Russland stützt Assad, während die Türkei auf einen Faust’schen Pakt mit dem Islamischen Staat (IS) gegen Assad und die KurdInnen setzt. Auch in Zentralasien gilt die Türkei als Konkurrentin Russlands. Doch in Fragen der Wirtschaft und Energieversorgung rücken die beiden Outlaws immer näher und stärken ihre internationale Position dadurch gegenseitig gegenüber den USA und der EU.
Die Türkei setzt in ihrem Energieverbrauch zu 89 Prozent auf fossile Brennstoffe und ist der zweitwichtigste europäische Importeur von russischem Gas. Nach einem Besuch Putins und zehn seiner MinisterInnen am 1. Dezember 2014 sprach Erdogan von einem jährlichen Handelsvolumen zwischen Russland und der Türkei von 32 Milliarden US-Dollar pro Jahr, das bis 2023 auf 100 Milliarden gesteigert werden solle. Putin macht die Türkei damit zum größten Gasverteilerzentrum der Region, was strategische Macht bedeutet. Der Gashahn für den Balkan (inklusive Griechenland) liegt durch diese strategische Umorientierung Russlands nun in der Türkei, dies wird die zentrifugalen Kräfte in der EU, die aufgrund der tiefen Wirtschaftskrise in Südeuropa bereits jetzt sehr stark sind, weiter befeuern.
Auswirkungen auf Österreich
Welche Auswirkungen haben diese Entwicklungen auf Österreich? Richten wir unseren Blick zunächst auf die Achillesferse des österreichischen Kapitals, den Bankensektor: Der Absturz des Rubels ohne Aussicht auf Verbesserungen und die Sanktionen der EU bedeuten eine massive Gefahr für die Zahlungsfähigkeit russischer KreditnehmerInnen, die hohe Verbindlichkeiten gegenüber europäischen Banken aufweisen. Nach den französischen Banken, bei denen die RussInnen mit 54 Mrd. US-Dollar in der Kreide stehen, folgen bereits die österreichischen mit 52 Mrd. Das sind ungefähr 12,5 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung, die im schlimmsten Fall wohl gänzlich verloren wären. Da es einen Konsens zwischen der SPÖ und den meisten bürgerlichen Parteien darüber gibt, dass die Banken ohne Rücksicht auf Verluste gerettet werden sollen, stellt die Möglichkeit eines solchen Schocks eine massive Gefahr für das fragile soziale Gleichgewicht des Landes dar, zumal in einem solchen Fall mit Kettenreaktionen in ganz Europa zu rechnen wäre.
Mit der Einstellung des Nabucco-Pipeline-Projekts und der Orientierung Russlands auf Gaslieferungen an die Türkei und Deutschland wird Österreichs Stellung am Energiemarkt mittelfristig bedroht. Als erstes westeuropäisches Land schloss Österreich schon 1968 einen Erdgasliefervertrag mit der Sowjetunion. Über die Drehscheibe Baumgarten an der Mach wird etwa ein Drittel des westeuropäischen Erdgasbedarfs geliefert (47 Milliarden Kubikmeter jährlich). Die Pipelines nach Österreich führen aber über die Ukraine. Bereits während des Gasstreits zwischen der Ukraine und Russland 2009 standen die Leitungen komplett still. Ein solches Szenario könnte sich angesichts der angespannten Situation jederzeit wiederholen. Die OMV verfügt zwar noch bis 2027 über Verträge mit der russischen Gazprom. Ob Österreich danach noch eine Rolle spielen können wird, ist allerdings ungewiss. Die hochfliegenden Pläne der OMV und der Bundesregierung lösen sich, Rote Teppiche für Putin in Wien hin oder her, in Luft auf.
Die Krise in Osteuropa schlägt also direkt auf die Perspektiven des österreichischen Kapitals durch. In dieser Situation werden wir – wie immer – den Ruf nach dem Staat hören, damit dieser den in den Dreck gefahrenen Karren wieder herauszieht. Möglich wäre eine solche Anstrengung nur mit dem Blut, dem Schweiß und den Tränen der ArbeiterInnen und der Jugend dieses Landes. An der grundlegenden Problematik werden solche Anstrengungen nichts ändern. Der einzig gangbare Weg aus der kapitalistischen Krise liegt in der Überwindung des Kapitalismus. Die Gewerkschaftsbewegung und die Linke müssen gegen jeden Versuch kämpfen, die Politik des Zusammenschlusses hinter den österreichischen Banken und Konzernen umzusetzen. Statt auf Faymann, Merkel oder Putin zu vertrauen, gilt es in jedem Land den Kampf gegen die AusbeuterInnen zu führen und sich dabei nur auf die eigene Stärke zu verlassen. Raus aus dem nationalen Schulterschluss, verteidigen wir unsere sozialen Rechte ohne Rücksicht auf das Profitinteresse des heimischen Kapitals.