Der menschenverachtende Terroranschlag auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ in Paris hat die Welt erschüttert. Alan Woods resümiert über die Ursachen und Folgen dieses Terrorakts.
Als MarxistInnen verurteilen wir diesen menschenverachtenden Anschlag ohne Wenn und Aber. Aber gleichzeitig werden wir nicht in den scheinheiligen Chor einstimmen, der nun von jenen orchestriert wird, die selbst zu einem nicht zu geringen Anteil verantwortlich dafür sind, dass sich dieser Terrorismus immer mehr ausbreiten kann.
Welche Maßnahmen wurden gesetzt, um die Redaktion von Charlie Hebdo zu beschützen? Es war wohlbekannt, dass dieses Satiremagazin im Visier islamistischer Terroristen ist. Immer wieder gab es Morddrohungen und 2011 wurde bereits einmal ein Brandanschlag auf das Redaktionsgebäude verübt. In der Stunde der Wahrheit konnten die Terroristen jedoch ohne ernsthafte Gegenwehr ihre Opfer heimsuchen.
Die beiden Attentäter waren keine Unbekannten für die Polizei und den Geheimdienst. Chérif Kouachi hatte sogar schon eine längere Gefängnisstrafe verbüßt, weil er für ein Terrornetzwerk neue Mitglieder in den Irak geschleust hat. Sie standen schon seit Jahren in Frankreich und den USA unter Terrorverdacht. Nichtsdestotrotz konnten sie ohne größere Probleme diese Wahnsinnstat begehen. Wer war also für die Überwachung dieser Männer verantwortlich? Der ganze Fall wirft viele Fragen auf, auf die es bisher keine Antworten gibt.
Die französische Regierung hat sich unmittelbar danach an die Spitze der Trauergemeinde gestellt und zur nationalen Einheit zur Verteidigung der republikanischen Werte aufgerufen. Präsident Hollande nannte die ermordeten Journalisten „Helden im Kampf für die Meinungsfreiheit“. Es ist nur schade, dass er und seine Männer in der Polizei und den Geheimdiensten vorher nichts getan haben, um diese Helden zu beschützen.
Warum diese Tat?
Was trieb diese Männer an einen solchen Anschlag zu verüben? Chérif Kouachi begründete seine politische Einstellung einmal damit, dass er die Folterungen seiner irakischen Kameraden im US-Gefängnis von Abu Ghraib in der Nähe von Bagdad verabscheue. Nun wurde er selbst zum dschihadistischen Racheengel. Dass es Verbindungen zwischen den Tätern von Paris und dem Dschihad im Nahen Osten gibt, ist ein offenes Geheimnis. Die Mitglieder der Terrorzellen, die es in Europa gibt, wurden meist in Syrien, Afghanistan, Pakistan oder Jemen ausgebildet.
In der jüngsten Zeit wurde Syrien zum wichtigsten Ziel der Möchtegern-Dschihadisten aus Europa. Die meisten von ihnen kommen aus Frankreich, wo es eine beachtliche muslimische Bevölkerungsgruppe gibt. Doch wer ist verantwortlich dafür? Es wird gern unter den Teppich gekehrt, dass der Westen die Dschihadisten in Syrien vor nicht allzu langer Zeit als „Freiheitskämpfer“ gegen die Diktatur von Assad darstellte. Was sich heute als IS bezeichnet, erhielt beachtliche Geldbeträge und Waffenlieferungen von Frankreich, den USA und ihren Verbündeten.
Plötzlich werden diese radikalen Islamisten als wilde Barbaren hingestellt. Warum? Weil sie einige westliche Geiseln enthaupteten. Als dieselben Leute in Syrien unter der Zivilbevölkerung wüteten und ähnliche Verbrechen begangen, schwiegen Washington und Paris. Waren die „freien“ westlichen Medien damals blind und taub? Wussten sie nichts von den damaligen Greueltaten? Es reicht die Frage zu stellen und schon ist die ganze Scheinheiligkeit des Imperialismus unübersehbar.
Vergessen wir nicht, dass Bush und Blair ihre Invasion im Irak damit begründeten, dass sie den „Krieg gegen den Terror“ führen müssen. Ihr erklärtes Ziel war es damals, Europa und die USA vor Terroranschlägen zu beschützen. Ein Jahrzehnt später ist diese Geisel schlimmer denn je zuvor. Mit dem Einmarsch im Irak sollte Al-Kaida bekämpft werden. Doch damals war Al-Kaida im Irak gar nicht vertreten. In den Nachkriegswirren aber konnten sich dieses Terrornetzwerk und andere im Irak eine Basis aufbauen, von der aus sie operieren können. Das menschenverachtende Vorgehen der Vertreter des „christlichen Abendlandes“ in Abu Ghraib z.B. hat wesentlich dazu beigetragen, dass sich junge Muslime den Dschihadisten zugewandt haben. Das entschuldigt nicht das Verbrechen gegen die Redakteure von Charlie Hebdo, aber wir sollten uns bewusst sein, dass der Imperialismus im Irak, in Afghanistan und in anderen Ländern noch weit größere Verbrechen begangen hat und begeht.
Auf diese Weise ist die imperialistische Außenpolitik von Washington, London und Paris die effizienteste Rekrutierungsmethode für den Dschihadismus. Ganz zu schweigen davon, dass die Taliban und Al-Kaida einst direkt von den USA und ihren Verbündeten finanziert und bewaffnet wurden.
Die Geister, die man selbst geschaffen hat, suchen den Westen nun heim. Das trifft nicht zuletzt auf Frankreich zu, dass in den letzten Jahren im Nahen Osten und in Afrika eine sehr aggressive Außenpolitik betrieben hat und so zu einem der vorrangigsten Ziele des fundamentalistische Terroristen geworden ist. „Der Nahe Osten ist jetzt nach Europa gekommen.“, wie eine Frau im französischen TV richtigerweise gesagt hat. Solche Terroranschläge sind kaum zu verhindern, und sie werden sich in erster Linie gegen zivile und nicht gegen militärische Ziele richten.
Clash der Kulturen?
Die Medien präsentieren diese Konflikte meist als „Clash der Kulturen“, sprich einen Konflikt zwischen den Werten der Aufklärung und dem Obskurantismus des Islam. Damit wird die Rechtfertigung für die Einschränkung von Bürgerrechten im Inneren und der „Krieg gegen den Terror“ geliefert. Die Dschihadisten stellen den Konflikt in genau denselben Kategorien dar, nur dass sie richtig liegen und der Westen das Böse repräsentiert.
Wir lehnen den islamistischen Fundamentalismus ab. Aber religiöser Fundamentalismus kommt bei weitem nicht nur im Islam vor. Die jüdischen Siedler rechtfertigen ihre Gewalt gegen die Palästinenser ebenfalls mit Zitaten aus religiösen Schriften. Blair und Bush beteten als gläubige Christen zu ihrem Gott, bevor sie Befehl gaben, den Irak zu bombardieren.
Die Medienhetze gegen Muslime ist in erster Linie Wasser auf die Mühlen der rechtsextremen, nationalistischen Parteien, wie der FN von Marie Le Pen in Frankreich. Der (antimuslimische) Rassismus verbreitet sich in ganz Europa wie giftige Dämpfe. Terroranschläge wie jener in Paris liefern zusätzlichen Stoff für diese gesellschaftliche Krankheit. Auch wenn die nationalistische Rechte und die Islamisten politische Gegner sind, so spielen sie sich mit ihrer jeweiligen Politik doch gegenseitig in die Hände. Sie sind zwei Seiten ein und derselben reaktionären Münze.
Die Krise des Kapitalismus hat eine Schicht von Jugendlichen mit Migrationshintergrund in die Arme des Islamismus getrieben. Die Ursache dafür ist nicht in der Religion zu finden, sondern hat vor allem etwas mit Armut, Perspektivlosigkeit und der Abneigung gegen eine sich im Niedergang befindliche Gesellschaft zu tun. Dies wird verschärft durch das Versagen der Linken, der Jugend eine politische Perspektive aufzuzeigen.
Nein zur „nationalen Einheit“!
Die westlichen Staats- und Regierungschefs wollen nun ein Zeichen setzen, dass „die Freiheit immer stärker sein wird als die Barbarei“. Alle Parteien des politischen Establishments sollen ungeachtet ihrer sonstigen Unterschiede gegen den „Extremismus“ auftreten und die „Demokratie“ im Namen der „nationalen Einheit“ verteidigen.
Doch die einzige Antwort, die die Regierungen anzubieten haben, ist eine Verschärfung der Repression. Die Trauerkundgebungen wurden umgehend genutzt, um Gesetze zur Einschränkung der Bürgerrechte und eine weitere Aufrüstung des Staatsapparats anzukündigen. Dem ohrenbetäubenden Ruf nach „Verteidigung der Meinungsfreiheit“ werden neue Gesetze zur Einschränkung der Meinungsfreiheit und anderer Freiheiten folgen, und zwar nicht nur für die Dschihadisten, sondern für die gesamte Bevölkerung und die Arbeiterklasse im Speziellen.
Die Parteien, die jetzt Hymnen auf die „nationale Einheit“ singen, sind dieselben, die für Sparpakete, Kürzungen und einen Anstieg der Arbeitslosigkeit verantwortlich sind. Die, die am lautesten von Demokratie reden, sind selbst für die Einschränkung demokratischer Rechte verantwortlich. Frankreich ist das beste Beispiel, wie das Burka-Verbot oder das Verbot von palästinensischen Solidaritätsdemos während des Massakers in Gaza letzten Sommer zeigen. Die Pressefreiheit bleibt so lange eine Fiktion, so lange die Medien von einer Handvoll wohlhabender Privateigentümer kontrolliert werden.
Es ist eine Schande, dass die Führung der KPF diesen reaktionären Slogan von der „nationalen Einheit“ offen unterstützt. Welche Einheit kann es geben zwischen Arm und Reich, zwischen Arbeit und Kapital, zwischen der Arbeiterklasse und der politischen Führungskaste? Es ist die Einheit zwischen Pferd und Reiter, der dem Pferd ständig die Sporen gibt.
Wenn es darum geht, das Vertrauen der Muslime, der MigrantInnen und der ärmsten und entfremdetsten Schichten der Gesellschaft zu gewinnen, dann braucht es das genaue Gegenteil von „nationaler Einheit“. Es braucht keine Demonstrationen einer falschen Einheit, sondern Mobilisierungen der Arbeiterklasse auf der Grundlage eines unabhängigen Klassenstandpunkts mit dem Ziel einer sozialistischen Umwälzung der Gesellschaft.
Hier liegt das Problem begraben. Die staatstragende Führung der Arbeiterbewegung bietet keine Perspektive zur Veränderung der Gesellschaft. Sie haben kein Vertrauen in die Arbeiterklasse, wen soll es da wundern, dass die Arbeiterklasse kein Vertrauen in sie hat. Das gilt besonders für die Jugend, die die Last der Krise voll zu tragen hat und sich von der heutigen Politik völlig entfremdet fühlt – nicht nur in Frankreich, sondern überall. Wen wundert es, dass die Entfremdung und Verzweiflung von großen Teilen der Jugend andere, nicht selten destruktive Kanäle findet?
Es ist die Pflicht der Arbeiterbewegung das Gift des Rassismus entschieden zu bekämpfen und die muslimische Gemeinde gegen sogenannte Racheakte zu verteidigen. Doch dazu muss die Arbeiterbewegung auf die eigene Stärke bauen, nicht auf den Staat und seine Gesetze. Es wäre ein Fehler zuzuschauen, wie die Regierungen Gesetze verschärfen, die schon bald gegen die Arbeiterbewegung eingesetzt würden. Heute richten die Massenmedien den Finger auf die Dschihadisten, doch morgen schon werden sie streikende ArbeiterInnen, die für ihre Rechte auf die Straße gehen, als „Feinde der Nation“ darstellen.
Das ganze Gerede von der Terrorgefahr lenkt in Wirklichkeit von den tatsächlichen Problemen ab. Der Hass auf die Banker und die Reichen wird auf einen mysteriösen äußeren Feind gelenkt. Das ist auch im Interesse der Polizei und der Armee, die sich zusätzliche Rechte versprechen. Der Islam ist der neue Vorwand für die innere Aufrüstung des Staatsapparats.
Die gegenwärtige Welle der Emotion kann eine Zeit lang die Aufmerksamkeit ablenken, doch die Folgen der kapitalistischen Krise sind zu stark und werden bald schon wieder im Mittelpunkt des Interesses stehen. Mit dem Ruf nach „nationaler Einheit“ können die Regierungen auf Dauer den Klassenkampf nicht zur Ruhe bringen.
Eine Gekürzte Fassung von Alan Woods, Some Reflections on the Events in France, www.marxist.com