Im Teil 4 des Dokuments behandeln wir die Perspektiven der Venezolanischen Revolution.
Die Venezolanische Revolution
Jede Revolution durchschreitet mehrere Phasen. Dies kann anhand der französischen, der russischen und sogar der englischen Revolution des 17. Jahrhunderts betracht werden. Vielleicht ist die spanische Revolution von 1931-1937 jene, die man am ehesten mit der venezolanischen vergleichen kann. Am Anfang steht immer eine Phase der Euphorie, die Massen stehen auf, werden sich ihrer Macht bewusst. Man kann dies mit einer Art riesigem Straßenfest vergleichen, ein Fest überschwänglicher Freude und Brüderlichkeit. Darauf folgt eine Phase, in der die Massen, allen voran die fortschrittlichsten und aktivsten Elementen unter ihnen, zu verstehen beginnen, dass die fundamentalen Probleme nicht gelöst wurden, dass im Grunde genommen nichts gelöst wurde.
Die Wurzeln der venezolanischen Revolution liegen im Februar 1989 – während des „Caracazo“-Aufstandes, als der bürgerliche Demokrat Carlos Andres Perez, ein treuer Diener Washingtons, sich nicht scheute, seine eigenen Landsleute durch ein Massaker im Blut zu ertränken. Diese Niederlage erzeugte eine gärende Unzufriedenheit in der Gesellschaft, was sich auch in einem Teil der Armeeoffiziere widerspiegelte. Der fehlgeschlagene Putsch von Hugo Chávez von 1992 führte abermals zu einer neuen Niederlage und zu Verhaftungen. Allerdings benötigt – wie Marx schon erklärte – die Revolution die Peitsche der Konterrevolution. Eine gewaltige Bewegung rund um die Person Hugo Chávez entstand, eine eigentümliche Bewegung als Ergebnis der Ereignisse von 1989. Die Massen strömten unter dem Banner des für sie neuen und unbefleckten „Chavismus, zusammen.
Der Sieg von Chávez bei der Wahl 1998 stellte einen historischen Einschnitt dar. Die Massen revanchierten sich an der herrschenden Klasse für die Niederlage des „Caracazo“. Er bildete ein Ereignis vergleichbar mit der Februarrevolution in Russland oder genauer mit der Deklaration der Republik Spanien 1931. Nach dem ersten Sieg von Chávez kam es zur üblichen Welle der Euphorie, die sich in der ersten Phase der Revolution breit macht. Aber bald darauf folgte mit dem Putsch im April 2002 das unsanfte Erwachen. Vom ersten Augenblick der bolivarischen Revolution traf diese auf Feindschaft, Widerstand und Sabotage durch die Oligarchie, welche vom US-Imperialismus gestützt wurde. Den Ereignissen 2002 war noch nie etwas Vergleichbares vorangegangen. Zum aller ersten Mal in der Geschichte gelang es den Massen, ohne eine Partei oder einer Führung die schon an der Macht sitzende Konterrevolution zu stürzen. Seit damals gibt es einen andauernden Kampf zwischen den revolutionären und konterrevolutionären Kräften.
Die wahre Triebfeder der Revolution sind die Massen. Drei Mal gelang es ihnen, die Konterrevolution zu schlagen. Das letzte Mal geschah dies anlässlich des Abwahlreferendums im August 2004. Wir konnten den außergewöhnlichen Instinkt der Massen beobachten, als diese der Oligarchie eine Niederlage beim Referendum zufügten – und das, obwohl sie dieses Referendum zunächst nicht wollten. Durch diesen Sieg erklomm die Bewegung eine höhere Stufe. Angefangen bei den fortschrittlichsten Teilen, vor allem unter den AktivistInnen der ArbeiterInnenklasse, begann man zu verstehen, dass sich nichts Bedeutendes verändert hatte und dass die entscheidenden Schlachten in der Zukunft stattfinden werden. Besonders seit dem Abwahlreferendum gärt es verstärkt in der Gesellschaft.
Nach dem Referendum vom August 2004 wurde der Prozess auf eine höhere Ebene gehoben. Das Kräfteverhältnis innerhalb der Gesellschaft ist sehr zu Gunsten der Arbeiterklasse. Das Selbstbewusstsein der ArbeiterInnen steigt. Die Debatte rund um die „cogestión, (die Arbeitermitbestimmung) beschleunigt diesen Prozess. Dieser verwirrte Ausdruck drückt nichts anderes aus als das Verlangen der ArbeiterInnen nach Arbeiterkontrolle – und diese kann nur dann eine bleibende Bedeutung erlangen, wenn sie direkt zur Enteignung und zu einer sozialistischen Planwirtschaft führt. Dies aber stößt auf den härtesten Widerstand der Bürokratie und des pro-kapitalistischen Flügels der bolivarischen Bewegung. Es gibt eine zunehmend kritische Haltung unter den Massen gegenüber der bolivarischen Bürokratie (allerdings nicht gegenüber Chávez). Die Arbeiterklasse spielt zunehmend eine unabhängige Rolle. Die ersten Enteignungen fanden bereits statt. Bei Venepal und CNV spielte die CMR eine führende Rolle – und die ArbeiterInnen wissen das.
Chávez sagte, Venepal sei eine Ausnahme. Mittlerweile spricht er von hunderten Firmen, welche unter Arbeitermitbestimmung(„cogestión“) verstaatlicht werden sollen. Er hat eine Liste von 1149 Firmen, welche von ihren Besitzern geschlossen wurden, vorgelegt. Er machte klar, dass diese entweder unter ArbeiterInnenkontrolle wieder geöffnet werden sollten oder enteignet würden. Es gab zahlreiche Deklarationen im Sinne des Sozialismus, und es besteht ein unglaublicher Druck von unten zur Weiterführung dieser Linie. Dass die Bewegung der Fabriksbesetzungen und der Arbeiterkontrolle im öffentlichen Sektor noch nicht weiter vorangeschritten ist, liegt einfach an der schwachen Führung der Arbeiterbewegung – im Besonderen der UNT.
Wie auch auf jeder anderen Ebene gibt es einen erbitterten Kampf zwischen den ArbeiterInnen und BürokratInnen, der im Grunde genommen nichts anderes als ein Klassenkampf ist, ein Kampf zwischen Revolution und Konterrevolution, zwischen ArbeiterInnenklasse und Bourgeoisie, welche die bolivarische Revolution infiltriert hat und nun versucht, sie von innen zu zerstören. Diesen Kampf kann man sogar im Regierungskabinett beobachten, wo die Spaltung zwischen dem linken und dem rechten Flügel sich vertieft und verschärft.
Die Machtfrage
Heute stellt sich die Frage nach der Macht im Staat in Venezuela. In der Vergangenheit wäre die Machtfrage relativ schnell abgehandelt gewesen. Die eine oder andere Seite hätte gewonnen: Entweder hätte die Reaktion die Macht durch einen blutigen Putsch an sich gerissen, oder die Arbeiter hätten die Macht übernommen. Das Chile des Jahres 1973 war das beste Beispiel dafür. Aber in Venezuela ist dies nicht passiert; die Ereignisse entwickeln sich nach einem anderen Muster. Das spiegelt das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen wider: Enorme Macht ist noch immer in den Händen der ArbeiterInnen konzentriert. Diese sind noch nicht besiegt. Auf der anderen Seite sehen wir die Schwäche der Reaktion, die unfähig ist, die Macht zu übernehmen – zumindest bis jetzt.
Die konterrevolutionären Kräfte sind einige Male zurückgeschlagen worden, als sie versuchten, die Macht zu übernehmen. Im April 2002 hatten sie bereits die Macht in Händen, aber der Putsch erlitt eine Niederlage. Das ist das erste Mal in der Geschichte Lateinamerikas, dass ein geglückter Putsch zurückgeschlagen wurde. Trotzdem beklagen sich die venezolanischen StalinistInnen und ReformistInnen über das „niedrige Niveau, der Massen. Die völlig gescheiterten kleinbürgerlichen Parteien haben absolut kein Vertrauen in die Massen und glauben nicht an die Perspektive, dass die ArbeiterInnen je die Macht übernehmen könnten. Sie repräsentieren eine reaktionäre rückwärts gerichtete Strömung, die, wenn sie etwas zu sagen hätte, die Revolution zerstören und die Macht den Reaktionären übergeben würden. Dann werden sie durch Europa touren und die Tragödie der venezolanischen Revolution beklagen und den Massen dafür die Schuld geben, weil diese „zu schnell zu weit gehen wollten“.
Die Massen in Venezuela haben ihr hohes Niveau revolutionärer Reife bewiesen. Trotzdem haben sie noch nicht die Macht übernommen. Warum nicht? Der einzige Grund ist das Fehlen eines subjektiven Faktors: Die revolutionäre Partei und die richtige Führung. An den objektiven Bedingungen liegt es nicht. Die objektiven Bedingungen könnten nicht besser sein, um die Revolution durchzuführen. Auf kurze Sicht kann die Reaktion nicht siegen. Die Rechte hat ihre absolute Unfähigkeit bewiesen, als sie die Wahlen zur Nationalversammlung boykottiert. Sie sind gespalten und demoralisiert.
Angesichts der offenkundigen Schwäche der Kräfte der internen Reaktion wird Washington immer verzweifelter. Die kleinbürgerlichen Schichten haben Angst vor einer Militärintervention der USA. Sie schreien die ganze Zeit, dass die Amerikaner kommen. Tatsächlich ist gegenwärtig eine direkte Militärintervention durch die USA ausgeschlossen. Die US-ImperialistInnen sitzen im Irak in der Falle. Bush kann keine zweite Front in Venezuela eröffnen – zumindest nicht direkt.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann die Reaktion Chávez nicht stürzen, aber diese Situation kann nicht ewig andauern. Die Tatsache, dass Venezuela über große Reserven an Erdöl verfügt, gibt dem Land etwas Handlungsspielraum. Dadurch wiegt sich die Rechte der bolivarischen Bewegung – die pro-bürgerlichen Elemente – in falscher Sicherheit. Allerdings kann man nicht davon ausgehen, dass diese günstigen Bedingungen anhalten.
Die Massen wollen eine Veränderung. Jetzt, wo die Chavistas über eine entscheidende Mehrheit in der Nationalversammlung verfügen, gibt es keine Entschuldigung mehr dafür, dass man nicht gegen die Oligarchie vorgeht. Die Massen werden das verlangen. Sie werden sagen: „Die FührerInnen müssen tun, was wir sagen., Ein Teil der Führung spiegelt diesen Druck der Massen wider. Sie wollen weiter den Weg der Enteignungen und der Arbeiterkontrolle gehen. Aber die Rechte ziert sich. Sie spiegelt den Druck der Bourgeoisie und des Imperialismus wider. Dies ist der grundlegende Widerspruch, der in der kommenden Zeit gelöst werden muss – auf die eine oder andere Weise.
Das Hauptmerkmal in Venezuela liegt in der starken Polarisierung zwischen Links und Rechts. Man würde eine schnelle Entwicklung dieser unhaltbaren Situation durch den Sieg der Revolution oder der Konterrevolution erwarten. In Russland 1917 wurde der gesamte Prozess in nur neun Monaten (von Februar bis Oktober) entschieden. Wenn man dies mit Venezuela vergleicht, so scheint es dass alles bei weitem länger dauert. Dies wurde auch schon als „Revolution in Zeitlupe, beschrieben, und dafür gibt es auch einen Grund.
In Russland boten sich 1917 zwei klare Möglichkeiten: Entweder die Kornilov-Reaktion oder eine proletarische Revolution unter der Führung der Bolschewiki. In Venezuela ist jedoch vieles noch nicht so klar. Die konterrevolutionären Kräfte sind demoralisiert, zersplittert und immer verzweifelter. Die Opposition ist derartig schwach, dass es für sie zurzeit keine Perspektive auf die Ergreifung der Macht gibt. Auf der anderen Seite wird die ArbeiterInnenklasse durch den Mangel einer Führung behindert. Es gibt dort keinen Lenin, keinen Trotzki, geschweige denn eine Bolschewistische Partei. Daher kommt es, dass es zu keiner schnellen Lösung jedweder Seite kommen kann.
Nach dem harten wirtschaftlichen Einbruch durch die Sabotage der UnternehmerInnen erholte sich die Wirtschaft und machte schnelle Fortschritte. In letzter Zeit wurden 150.000 Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor (misiones usw.) geschaffen. In Relation dazu sind lediglich 40.000 im privaten Bereich entstanden. Dies zeigt die wahre Haltung der Bourgeoisie gegenüber der Revolution von Chávez auf. Sie ist unerbittlich feindlich der Revolution gegenüber eingestellt und lassen sich nicht nette Reden beruhigen. Sie haben kein Vertrauen in die Bolivaren und investieren nicht.
Am Ende wird die eine oder andere Klasse triumphieren. Die gegenwärtige Situation kann als unsicherer Waffenstillstand charakterisiert werden, er kann einige Monat andauern, vielleicht Jahre, mit Auf- und Abschwüngen. Aber früher oder später (es ist nicht möglich das genaue Tempo zu bestimmen) wird die Zeit der Entscheidung kommen.
Die Rolle der Führung
Der Marxismus hat nie die Bedeutung der Rolle des Individuums in der Geschichte abgestritten. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass Hugo Chávez eine enorme Rolle in der venezolanischen Revolution gespielt und einige sehr weit reichende Schlüsse gezogen hat. Dass er sich für den Sozialismus erklärt hat, muss mit größter Begeisterung begrüßt werden. Aber dieser Sozialismus muss genauer definiert werden. Die Aufgabe der MarxistInnen ist es, die notwendige Klarheit in die Bewegung zu tragen: Sie müssen peinlich genau bis ins letzte Detail sein und vor allem die Ideen des Sozialismus in der Jugend und unter den ArbeiterInnen verbreiten.
Wir unterstützen Chávez gegen den Imperialismus und die konterrevolutionäre Oligarchie, aber diese Unterstützung darf nicht bedingungslos erfolgen. Wir stellen niemandem einen Blankoscheck aus. Unsere Haltung gegenüber Chávez: Kritische Unterstützung. Wir unterstützen alle fortschrittlichen Maßnahmen, die er setzt, und drängen ihn, über diese Maßnahmen hinaus weiterzugehen, die Grundlage des bürgerlichen Eigentums anzugreifen, die Großgrundbesitzer und Kapitalisten zu enteignen. Wir intervenieren mit aller Kraft in die Debatte über das Wesen des Sozialismus, verteidigen den Marxismus und bekämpfen die verwirrten und opportunistischen Ideen der ReformistInnen, die den Präsidenten beeinflussen wollen und ihn in Richtung eines Kompromisses mit dem Imperialismus und der Oppositionen treiben wollen.
Gleichzeitig bestehen wir auf der unabhängigen Rolle der Arbeiterklasse in der Revolution. Wir unterstützen jede Aktion, die zur Herausformung dieser Rolle beiträgt: Fabrikbesetzungen, Arbeiterkontrolle usw. Wir richten unser Feuer gegen die Feinde der Revolution: Großgrundbesitzer, Kapitalisten und Imperialisten. Vor allem aber richten wir es gegen die korrupten pro-bürgerlichen Elemente in der bolivarischen Bürokratie, welche die Revolution sabotieren und sie von innen her unterminieren.
Innerhalb der bolivarischen Führung zeichnen sich einander gegensätzliche Strömungen ab, die den Druck verschiedener Klassen widerspiegeln. Der eine Teil möchte weiter gehen. Der andere fordert die Wiedereingliederung der Opposition. Sie argumentieren, dass es gefährlich sei, wenn die Konterrevolutionäre nicht im Parlament vertreten seien (ein ziemlich logisches Ergebnis nach deren Wahlboykott). Der rechte Flügel der Bolivaren verlangt, dass die Mehrheit sich dem Willen der Minderheit fügt. Das ist, was sie Demokratie nennen! Glücklicherweise denken die Massen ganz anders. Es hat weitere Enteignungen gegeben – ein Ergebnis der Initiative von unten. Die ArbeiterInnen verlangen, dass die Revolution zu Ende geführt werden soll.
Der reformistische Flügel setzt alles daran, die verschiedenen revolutionären Maßnahmen in die Länge zu ziehen und sie zu verwässern. Sie versuchen – durch Dialog und Verhandlungen mit den Unternehmen – eine ganze Reihe von Maßnahmen ins Regierungsprogramm hineinzureklamieren, um die wirtschaftliche Macht zu verteidigen, die noch immer in den Händen des Bürgertums liegt. Sie wollen, dass eine Reihe von Maßnahmen umgesetzt werden, die die UnternehmerInnen einfordern: Preiserhöhungen, Unterstützungszahlungen an Unternehmen, Garantien für das Privateigentum usw. Diese ökonomische Macht in den Händen der privaten Unternehmungen ist unter den Bedingungen des Klassenkampfs die wichtigste Waffe im Arsenal der herrschenden Klasse. So kann sie die gesellschaftliche Basis der Revolution untergraben und ein Kräfteverhältnis herzustellen, das für sie zukünftig besser ist und in dem sie ihre konterrevolutionären Pläne umsetzen kann.
Diesen Menschen ist jedweder Gedanke an den Sozialismus und an Enteignungen ein böser Fluch. Zunehmend kommt Chávez in Konflikt mit diesem rechten Flügel der bolivarischen Bewegung. Die rechten MinisterInnen sprechen im Geheimen von der „Verrücktheit, des Präsidenten. Sie fürchten die Massen und verlangen ein Innehalten der Revolution. Nicht wenige von ihnen stehen in Kontakt mit den Feinden der Revolution – den escualidos und der US-Botschaft. Hierin liegt die größte Gefahr für die bolivarische Revolution.
Die ReformistInnen sägen an ihrem eigenen Ast. Ihre Politik wird die Opposition der ImperialistInnen und der Oligarchie nicht erweichen. Im Gegenteil, sie wird sie eher noch dazu anstacheln, ihre konterrevolutionäre Tätigkeit zu verstärken. Gleichzeitig entmutigen sie die Massen und erzeugen dadurch eine gefährliche Stimmung der Apathie und der Gleichgültigkeit. Wenn dies so weitergeht, wird es die Revolution völlig unterminieren. Die Bürokratie stellt eine Art „Fünfte Kolonne, dar. Sie sabotiert die Revolution von innen her. Das hat zu scharfen Auseinandersetzungen auf oberster Ebene geführt. Es ist kein Zufall, dass Chávez die Zusammensetzungen seines Kabinetts und seiner BeraterInnen verändert hat.
Die objektive Logik der Revolution verlangt die Enteignung der Oligarchie. Es wäre Chávez möglich, sich dabei auf die Massen zu stützen. Dies aber würde eine bedeutende Spaltung der bolivarischen Bewegung bedeuten. Es ist etwas, was der Präsident vermeiden will – doch es bleibt unvermeidlich. Die MVR war immer eine sehr heterogene und ideologisch verwirrte Bewegung. An ihrer Spitze gibt es viele konterrevolutionäre Elemente. Der Imperialismus stützt sich auf die rechten Chávistas und schmiedet Intrigen mit jenen korrupten Teilen, die sich für den Kapitalismus aussprechen und im Geheimen den Präsidenten und die Revolution verfluchen.
Der Kampf wird sich ausweiten – ein Kampf, den die eine oder andere Seite gewinnen wird. Chávez kann nur siegreich sein, wenn er sich auf die Massen stützt, an sie appelliert, sie zum Kampf gegen die Rechte aufruft. Die Massen, und die ArbeiterInnen im Besonderen, ziehen die richtigen Schlüsse: Die ArbeiterInnen müssen ihre Organisationen und deren Führung kontrollieren. Wir sehen das bei jeder Wahl, bei denen es Proteste gegen die Fälschung von Wahllisten gab. Das ist der einzige Garant gegen die Vereinnahmung der Revolution durch eine privilegierte Kaste von BürokratInnen.
Wir stützen uns nicht auf einzelne FührerInnen, sondern auf den gesunden Klasseninstinkt der ArbeiterInnen und Bauern und Bäuerinnen, die revolutionäre Schlüsse ziehen. Die größte Gefahr für die Revolution liegt darin, dass die Massen der Reden und Slogans müde werden, während gleichzeitig nichts unternommen wird, um die grundlegende Aufgaben unerfüllt bleiben – nämlich die Macht der Oligarchie zu brechen und die korrupten KarrieristInnen und BürokratInnen, die die Revolution von innen sabotieren, zu vertreiben.
Die Unzufriedenheit der Massen staut sich zunehmend auf. Dieser Prozess findet noch unter der Oberfläche statt. Es gibt eine kritische Stimmung gegenüber der überwältigenden Mehrheit der FührerInnen (Chávez und einige wenige andere ausgenommen), obwohl zurzeit die vorherrschende Stimmung unter den Massen von der Erwartung bestimmt wird, dass der von Chávez vorgeschlagene Linksruck schnell tiefgreifende Veränderungen für ihre Lebensbedingungen bedeuten wird. Der jüngste Sieg bei den Wahlen zur Nationalversammlung, der Rückzug der Opposition und die Wahl einer Nationalversammlung, die ausschließlich aus bolivarischen Abgeordneten besteht – all das hat die Erwartungen weiter nach oben geschraubt. „Jetzt gibt es keine Entschuldigung mehr dafür, die Revolution nicht abzuschließen, – das ist es, was die meisten Bolivaren denken.
Chávez erreichte sechs Millionen Stimmen beim Referendum, aber bei den Parlamentswahlen gingen nur drei Millionen zu den Urnen. Das war eine Warnung. Eine Stimmung der Ungeduld wächst unter den ArbeiterInnen und Bauern und Bäuerinnen – und im Besonderen unter den fortgeschritteneren Schichten, den AktivistInnen der Arbeiterbewegung und der bolivarischen Organisationen: „Wir haben genug davon, wir wollen die Revolution abschließen., Das stimmt vollkommen, reicht aber nicht aus. Um die revolutionären Hoffnungen der Massen Realität werden zu lassen, müssen sie einen organisierten und bewussten Ausdruck erhalten.
Das Niveau der Wahlenthaltung bei den Wahlen zur Nationalversammlung ist ein Anzeichen dafür, dass die Stimmung der Massen sich wendet. Sie werden ungeduldig und frustriert vom langsamen Fortschritt der Revolution. Das sind erste Anzeichen der drohenden Gefahr. Wenn die Massen ihr Vertrauen in die Revolution verlieren und in Apathie und Gleichgültigkeit verfallen, ist der Weg frei für eine neue Offensive der konterrevolutionären Kräfte. Diese können nicht nur auf die Unterstützung der US-Botschaft zählen, sondern auch auf die zahlreichen konterrevolutionären SympathisantInnen in den oberen Kreisen der Bolivarischen Bewegung.
Die venezolanische Revolution hat begonnen – in dem Sinn, wie die spanische Revolution 1931 ihren Anfang nahm. Wenn die venezolanische Arbeiterklasse über eine Bolschewistische Partei von 8.000 Mitgliedern verfügte, dann hätte sie bereits die Macht übernommen. Letztlich führt allerdings kein Weg vorbei an einer revolutionären Partei, die großen Einfluss unter den Massen besitzt, wenn die Revolution siegreich sein soll. Diese Partei existiert nicht – noch nicht. Sie muss geschaffen werden. Und wie? Gewiss nicht dadurch, dass man sie ausruft, wie es sich die Sekten ausmalen. Um eine ernsthafte revolutionäre Partei aufzubauen, braucht es die Erarbeitung einer korrekten Taktik, die richtigen Slogans und Methoden, um sich in der Massenbewegung zu verankern. Sonst wird die Partei tot sein, bevor sie noch zu arbeiten begonnen hat.
Was es braucht, ist der Aufbau einer starken marxistischen Strömung mit Wurzeln in der Arbeiterklasse und in der Bolivarischen Bewegung. Die Massen, ob in Russland, Venezuela oder anderswo, können nur durch gemeinsame Erfahrung lernen. Die Aufgabe der MarxistInnen ist es, Schulter an Schulter mit den Massen zu kämpfen, mit ihnen die verschiedenen Erfahrungen durchzumachen, auf jeder Stufe des Prozesses ihre Einschätzung abzugeben und zu helfen, dass die richtigen Schlüsse gezogen werden. Nur auf diese Weise können die MarxistInnen das Vertrauen der Massen erlangen, angefangen mit den fortgeschrittensten Teilen, und sie für das Programm der sozialistischen Revolution gewinnen.
Die Permanente Revolution
Die ursprünglichen Ziele der Bolivarischen Revolution waren sehr moderat. Weder das Wort „Sozialismus, wurde erwähnt, noch wurde das Privateigentum bedroht. Was waren nun ihre Ziele? Die bolivarische Revolution wollte eine echt demokratische Verfassung und Reformen, die das Leben der Massen erleichtern sollten, wie z. B. im Gesundheits- und Bildungsbereich, sowie eine Agrarreform und nationale Unabhängigkeit. In wenigen Worten: Sie wollte das Programm der national-demokratischen Revolution.
Die Tatsache, dass die Bolivarische Revolution diese Dinge 200 Jahre nach dem Tod von Simon Bolívar auf ihr Banner schreiben musste, zeigt uns deutlich die Unfähigkeit des Kapitalismus und den Bankrott der venezolanischen Bourgeoisie. Im Laufe von 200 Jahren hat es die Bourgeoisie nicht geschafft, auch nur eine der Aufgaben der bürgerlich-demokratischen Revolution zu erfüllen. Das trifft nicht nur auf Venezuela zu, sondern auf alle Länder der so genannten Dritten Welt. Unter den heutigen Bedingungen können die Aufgaben der national-demokratischen Revolution nur von der ArbeiterInnenklasse und deren natürlichen Verbündeten, der Bauernschaft und der armen städtischen Bevölkerung, erfüllt werden. Das wurde bereits 1904 von Leon Trotzki in seiner berühmten Theorie von der „Permanenten Revolution, nachgewiesen:
„Die Perspektive der Permanenten Revolution kann folgendermaßen zusammengefasst werden: Der vollständige Sieg der demokratischen Revolution in Russland ist unvorstellbar, außer in Form der Diktatur des Proletariats, welches sich auf die Bauernschaft stützt. Die Diktatur des Proletariats, welche unvermeidlich nicht nur demokratische, sondern auch sozialistische Aufgaben aufwirft, wird gleichzeitig ein mächtiger Anstoß für die internationale sozialistische Revolution sein. Nur der Sieg des Proletariats im Westen wird Russland vor der bürgerlichen Restauration bewahren und ihr die Möglichkeit erschließen, den sozialistischen Aufbau abzuschließen. (Trotzki, Appendix zu „Stalin – Eine Biographie“)
Diese Worte haben bis heute nichts an ihrer Bedeutung verloren. Um alle Hindernisse für den Fortschritt zu zerstören, muss die Macht der Oligarchie gebrochen werden. Um eine Agrarreform, die diesen Namen verdient, durchführen zu können, muss die Macht der GroßgrundbesitzerInnen gebrochen, müssen die Ländereien verstaatlicht und die großen landwirtschaftlichen Betriebe enteignet werden. Einige Schritte in diese Richtung wurden bereits getan, aber es braucht mehr, um die Bäuerinnen und Bauern davon zu überzeugen, dass der Slogan „Agrarreform, mehr als eine leere Phrase ist.
In der Russischen Revolution war der entscheidende Streitpunkt zwischen Bolschewismus und Menschewismus die unterschiedliche Haltung gegenüber der Bourgeoisie. Lenin war absolut davon überzeugt, dass die russische Bourgeoisie nicht in der Lage sein wird, ihre eigene Revolution zum Erfolg zu führen. Die Geschichte hat ihm Recht gegeben. Die Argumente der Opportunisten und der pro-bürgerlichen Elemente in Venezuela sind nicht neu. Sie wiederholen nur die Argumente der russischen Menschewiki, wenn sie behaupten, dass die Revolution vorsichtig sein müsse, um die Mittelklasse nicht zu entfremden.
Und Trotzki fährt fort: „“Wir müssen uns um die Unterstützung der nicht-proletarischen Parteien bemühen“, wiederholte Plechanow während der Jahre der Ersten Revolution, ‚und sie nicht von uns durch taktlose Handlungen abstoßen., Durch solch monotone Predigten bewies der Philosoph des Marxismus, dass ihm die lebendige Dynamik der Gesellschaft verschlossen blieb. ‚Taktlosigkeit, kann einen individuellen sensiblen Intellektuellen abstoßen. Klassen und Parteien hingegen werden von gesellschaftlichen Interessen angezogen oder abgestoßen. ‚Es kann mit Gewissheit gesagt werden“, antwortete Lenin auf Plechanow, ‚dass dir die Liberalen und die Landbesitzer Millionen von „Taktlosigkeiten, vergeben werden, nicht aber den Aufruf, ihnen ihr Land wegzunehmen., Und das gilt nicht nur für die Landbesitzer. Die Spitzen der Bourgeoisie sind eng mit den Landbesitzern durch ihre gemeinsames Interesse an der Wahrung des Eigentums verflochten und noch direkt über das Bankensystem.,
„Die Spitzen des Kleinbürgertums und der Intelligenz sind materiell und ihrer psychologisch von den großen und mittleren Eigentümern abhängig – sie fürchten alle das unabhängige Auftreten der Massenbewegung. Gleichzeitig war es, um den Zarismus zu stürzen, notwendig, Dutzende Millionen von Unterdrückten zu einem heldenhaften, selbstlosen, ungehemmten revolutionären Ansturm, der vor nichts Halt machte, zu führen. Die Massen können sich nur unter dem Banner ihrer eigenen Interessen zum Aufstand erheben und folglich nur in unversöhnlicher Feindschaft gegenüber den ausbeutenden Klassen – angefangen mit den Landbesitzern. Das „Zurückstoßen, der oppositionellen Bourgeoisie weg von den revolutionären Arbeitern und Bauern war daher ein immanentes Gesetz der Revolution selbst und konnte nicht durch Diplomatie oder „Taktgefühl, vermieden werden., (ebenda)
MarxistInnen sind für den Sozialismus – für die Macht der ArbeiterInnen. Wir unterstützen den Kampf gegen den Imperialismus mit all unserer Kraft und sind auch dazu bereit, in konkreten Aktionen mit den revolutionären DemokratInnen zusammenzuarbeiten, aber nur unter der Bedingung, dass sie für das Programm der national-demokratischen Revolution kämpfen und keine Kompromisse mit dem Imperialismus und der Oligarchie eingehen. Ein Teil der revolutionären DemokratInnen will den Kampf intensivieren, und wir werden Seite an Seite mit ihnen kämpfen und sie dazu ermutigen, noch einen Schritt weiter zu gehen. Aber es gibt auch andere Teile unter den revolutionären Demokraten, welche vor der Reaktion des Imperialismus und der Oligarchie Angst haben und versuchen, Kompromisse mit dem Feind zu schließen und welche die Bewegung zur Mäßigung aufrufen. Diese Leute sind in Wirklichkeit keine revolutionären Demokraten, sondern einfach nur liberale Bürgerliche.
Für das Verständnis der venezolanischen Revolution ist es unbedingt notwendig, dass man diesen Prozess nicht als isoliert betrachtet, sondern ihn als Teil einer revolutionären Kette sieht, die sich über ganz Lateinamerika erstreckt. Letztlich reicht diese Kette bis in die USA. Jede Revolution ist mit jeder anderen verknüpft. Die Behauptung von Washington, dass in jeder revolutionären Krise in Lateinamerika die Hände von Hugo Chávez im Spiel seien, ist falsch und absurd. Aber es ist mit Sicherheit wahr, dass die Bolivarische Revolution zu einem Bezugspunkt geworden ist und wie ein Magnet wirkt, der Millionen von armen ArbeiterInnen und BäuerInnen anzieht, die einen revolutionären Ausweg suchen. Das ist ein Faktor von potentiell großer historischer Bedeutung!
Wir müssen das Wort „potentiell, voranstellen – aus dem einfachen Grund, dass die Bolivarische Revolution ihr ganzes Potential bisher noch nicht voll ausspielen konnte. Eine Eichel ist noch keine Eiche und ein Embryo ist noch kein Mensch. Beide sind nur potentiell Eiche bzw. Mensch. Ob sich dieses Potential verwirklicht, hängt von einer Reihe von Faktoren ab. Die venezolanische Revolution hat zwar begonnen, aber der „point of no return“, der kritische Punkt, ist noch nicht überschritten worden. Dies kann nur durch entschlossenes Vorgehen gegen die Oligarchie und deren Entmachtung erreicht werden.
Die Bolivarische Revolution hat eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, um die Lebensbedingungen der Massen zu verbessern. Es wurde eine demokratische Verfassung eingeführt. Man stellt sich dem Imperialismus entgegen. Die Agrarreform wurde in Angriff genommen, und einige Firmen wurden verstaatlicht. Diese Entwicklungen sind sehr fortschrittlich, aber das alles ist noch kein Sozialismus. Die Mehrheit der KapitalistInnen ist noch nicht enteignet worden, der Großteil des Landes ist noch immer in den Händen der GroßgrundbesitzerInnen. Der alte Staatsapparat ist teilweise gesäubert worden und wird von Klassenwidersprüchen durchzogen, wie zusehends klar wird, was es in großem Maße schwierig macht für die Bourgeoisie, ihn gegen den revolutionären Prozess einzusetzen. Es gibt sogar wichtige Anzeichen seiner Zersetzung.
Allerdings liegt eine der größten Schwächen des revolutionären Prozesses gerade darin, dass er noch nicht durch einen neuen Staatsapparat ersetzt worden ist, der von der Arbeiterklasse und anderen Teilen der Bevölkerung kontrolliert wird – was die Grundlage für eine weitere Entwicklung der Revolution bis hin zum Sieg bilden würde. Einige Teile des alten Staatsapparats, im Besonderen der Aufbau und die Befehlskette in den Polizeikräften und im Militär, sind grundsätzlich intakt. Je länger dieser Widerspruch innerhalb des Staats besteht und dies mit dem Weiterbestand der kapitalistischen Eigentumsformen und Produktionsverhältnissen zusammenfällt, umso größer ist die Gefahr, dass die Bourgeoisie die direkte und vollständige Kontrolle über den Staatsapparat wieder herstellen könnte, um ihn für ihre konterrevolutionären Zwecke zu gebrauchen.
So lange diese Aufgabe noch nicht erfüllt wurde, wird die Revolution weiter in Gefahr schweben. Mit der Oligarchie und ihren politischen VertreterInnen sind keine Abkommen möglich. Keine Verhandlungen werden positive Ergebnisse zeitigen, keine Menge an Vernunft, netten Worten, Zugeständnissen oder Kompromissen wird ihre fanatische Feindschaft der Revolution gegenüber mildern können. Im Gegenteil, die Erfahrung hat gezeigt, dass sie Zurückhaltung als Schwäche interpretieren – und Schwäche lädt zur Aggression ein. Daher werden diese „RealistInnen, – die ReformistInnen, SozialdemokratInnen usw. -, die alle Zurückhaltung einmahnen, das genaue Gegenteil von dem erreichen, was sie eigentlich bezweckten.
Es ist ein sehr schwerwiegender Fehler zu glauben, dass die Feindschaft der ImperialistInnen durch eine Verlangsamung der Revolution oder durch „gemäßigtere, Politikmaßnahmen gemindert werden können. Der Imperialismus und die venezolanische Oligarchie können der Revolution nicht erlauben, sich weiterzuentwickeln oder auch nur zu existieren. Es ist nicht möglich, zwei sich gegenseitig ausschließende Strömungen miteinander zu versöhnen. Jene, die Chávez raten, gemäßigtere Positionen einzunehmen, um die Revolution zu retten, mögen dies aus ehrlichen Motiven tun, aber sie schaden der revolutionären Sache und setzen sie großer Gefahr aus.
Eine Militärintervention?
Die ReformistInnen versuchen permanent, die ArbeiterInnen und Bauern und Bäuerinnen mit dem Gespenst einer US-Militärintervention einzuschüchtern. Tatsächlich haben die USA bereits interveniert, und sie werden es weiterhin tun. Jedes Mal scheiterten sie. Während es unverantwortlich wäre, den US-Imperialismus zu unterschätzen, wäre es noch unverantwortlicher, ihn zu überschätzen und sich einzubilden, die Macht der USA wäre grenzenlos.
Unter den gegenwärtigen Bedingungen wäre es für die USA schwierig, direkt in Venezuela zu intervenieren, zumindest in einem militärischen Sinn. Sie sind mit dem Irak beschäftigt. Außerdem wissen sie sehr gut, dass sie den härtesten Widerstand eines ganzen Volkes zu erwarten hätten. Im Vergleich zu Venezuela wäre der Irak das reinste Teekränzchen. Chávez selbst ist Militär und fürchtet weder den Krieg noch den Einsatz von Waffen. Er verfügt über zwei Millionen Reservisten, was effektiv bedeutet, dass die Bevölkerung bewaffnet ist. Außerdem muss man die internationalen Auswirkungen in Betracht ziehen. Es gäbe eine explosive Situation in ganz Lateinamerika, wo keine einzige US-amerikanische Botschaft heil bliebe. Nicht zuletzt gibt es die Frage der Auswirkungen in den USA selber, wo die Latinos nun die größte ethnische Minderheit darstellen – hauptsächlich arme, ausgebeutete Menschen.
Natürlich verfügt Washington auch über andere Waffen. Sie arbeiten fieberhaft daran, Venezuela zu politisch und wirtschaftlich zu isolieren. Aber auch hier hatten sie nicht viel Glück. Sie versuchten, die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) gegen Venezuela zu verwenden. Aber die anderen bürgerlichen Regimes in Lateinamerika schrecken wegen der Konsequenzen in ihren eigenen Ländern davor zurück, in Venezuela zu intervenieren. Die USA schaffte es nicht einmal, das FTAA unter Dach und Fach zu bringen. Rice und Rumsfeld konnten keine Unterstützung gegen Venezuela finden. Sie wurden politisch geschlagen bei jenem OAS-Treffen in Fort Lauderdale in Florida. Anstelle Herr der Lage zu sein, sehen sie sich in die Defensive gedrängt. Das hat Bushs Besuch in Argentinien klar gezeigt.
Trotz dieser Rückschläge kann der US-Imperialismus Chávez und seine Revolution nicht tolerieren, weil diese in ganz Lateinamerika große Kreise zieht. Weitere aggressive Aktionen sind unvermeidlich, selbst wenn sie keine Militärintervention beihalten. Die StrategInnen des Imperialismus begreifen die südamerikanische Revolution ebenso wie die MarxistInnen. Sie haben einen längerfristigen Plan für den Kampf gegen die Revolution in Lateinamerika. Sie intervenieren immer mehr indirekt via Kolumbien. Der Plan Colombia, heißt es, sei ein „Krieg gegen Drogen“. Tatsächlich ist es ein Plan, um gegen Aufstände vorzugehen. Indem man Kolumbien aufgerüstet hat, änderte sich die gesamte militärischen Kräfteverhältnisse der Region. Die kolumbianischen Streitkräfte sind nun unter den stärksten Lateinamerikas. Der US-Imperialismus hat das Land in einen gigantischen Stützpunkt verwandelt.
Sie benutzen dabei Methoden aus dem Vietnamkrieg, auch was den Abwurf von großen Mengen von Entlaubungsmitteln über Wäldern und Farmland betrifft. Diese giftigen Chemikalien – ähnlich dem berüchtigten Agent Orange – sind echte Massenvernichtungswaffen. Sie haben „BeraterInnen, – wie in den ersten Tagen in Vietnam – hingeschickt, um die Streitkräfte des „Demokraten, Uribe zu unterstützen. Letzterer stützt sich auf faschistische Paramilitärs, die auch in Venezuela aktiv sind. Es ist offensichtlich, dass mit aktiver Mithilfe der CIA geplant ist, Chávez zu ermorden. George Bush & Co lehnen solcherart Terrorismus überhaupt nicht ab. In Florida werden spezielle Todesschwadronen in geheimen Anlagen ausgebildet. Wenn alle Stricke reißen, werden sie einen Grenzvorfall provozieren und Kolumbien in einen Krieg mit Venezuela verwickeln.
Hier sehen wir die Schamlosigkeit der US-ImperialistInnen: Chávez kauft 100.000 AK-47 von Russland, und die USA protestieren dagegen, weil sie darin eine Bedrohung ihrer Interessen erkennen wollen. Washington andererseits pumpt Milliarden Dollar in Form von Waffen nach Kolumbien, aber das ist natürlich keine Bedrohung für Venezuela! Sie sagen, dass Chávez diese Waffen den FARC-Guerillas in Kolumbien übergeben wird. Das stimmt nicht. Sie werden dafür verwendet, das Waffenarsenal des venezolanischen Militärs zu modernisieren, um die alten Waffen den Reservisten zu übergeben. Chávez bereitet sich auf einen Krieg vor – und er hat Recht damit. Der Unterschied ist, dass die Bewaffnung Venezuelas ein Akt der Selbstverteidigung gegen einen mächtigen Gegner ist, während die Aufrüstung Kolumbiens ein monströser Akt der Aggression eines mächtigen Landes gegen einen ganzen Kontinent darstellt.
Es ist möglich, dass sich der US-Imperialismus unter gewissen Umständen dafür entscheiden wird, via Kolumbien zu intervenieren. Aber selbst das wäre eine sehr rpnnte Option. Revolutionen machen nicht vor Grenzen halt. Ein Krieg mit Venezuela könnte nicht zum Sturz von Chávez, sondern von Uribe selbst führen. Es wäre das Signal für die kolumbianischen Guerillas, ihre Angriffe zu intensivieren. Die kolumbianische Armee sähe sich von zwei Seiten her bedroht. Ein solcher Krieg wäre zutiefst unbeliebt in Kolumbien. Es gibt zumindest eine Million KolumbianerInnen in Venezuela. Chávez hat ihnen volle Bürgerrechte gegeben. Sie stehen in Kontakt mit ihren Familien und FreundInnen über der Grenze. Außerdem gäbe es Auswirkungen in ganz Lateinamerika und in den USA selbst, wo die Latinos nun die größte ethnische Minderheit darstellen, ein überwältigender Teil davon arm und ausgebeutet. Wie würden diese reagieren?
Selbst die Ermordung von Chávez stellt eine sehr reale Gefahr für Washington dar. Gelinde gesagt: Es wäre eine problematische Option. Sie würde revolutionäre Kräfte in ganz Lateinamerika freisetzen und unmittelbar alle Öllieferung an die USA unterbrechen (15 Prozent des US Verbrauchs kommen aus Venezuela). Selbst in Kolumbien hat es, trotz aller furchtbaren Repression gegen die Arbeiterbewegung, Generalstreiks und Fabrikbesetzungen gegeben. Der Linksblock gewann die Lokalwahlen in Bogotá. Auf der anderen Seite geht der Guerillakrieg weiter, allen Versuchen Uribes ihn zu beenden zum Trotz. Wenn die USA Kolumbien in einen Krieg mit Venezuela verwickeln, wird dies nur die inneren Widersprüche Kolumbiens zuspitzen, wo bereits jetzt Uribe nicht so fest im Sattel sitzt, wie es scheinen mag.