Vor kurzem jährte sich zum 40.Mal der Aufstand der ungarischen Arbeiter von Oktober bis Dezember 1956. Er stellte den Höhepunkt der angewachsenen Unzufriedenheit in Osteuropa dar. Heute stehen wir als Marxisten vor der Frage, was wir aus diesem Ereignis lernen können. War das grausame und letztendlich bankrotte System des Stalinismus nur der letzte Versuch, eine Alternative zum Kapitalismus mit all seiner Armut, Arbeitslosigkeit und Hoffnungslosigkeit zu erkämpfen?
Es gibt viele verschiedene, ungerechtfertigte Darstellungen des Aufstandes. Während stalinistisch orientierte Kommunisten ihn als faschistischen Akt der Konterrevolution diffamierten, der von der CIA unterstützt worden wäre, sah ihn der kapitalistische Westen als „Freiheitskampf gegen die sowjetrussische Repression und die kommunistische Diktatur“. Es ist zwar richtig, dass ein Hauptanliegen der Rückzug der sowjetrussischen Armee aus Ungarn war, dennoch war das Ziel eine soziale Revolution gegen die Entartung des stalinistischen Regimes. Ein neues System mit Arbeitermilizen, Arbeiterdemokratie, Arbeiterräten und demokratischen Freiheiten wurde angestrebt, das sich an die Frühphase der Sowjetunion von 1917 und Trotzkis Ideen anlehnte.
Ausgangslage des ungarischen Stalinismus
Im Jahre 1946 wurden nach dem Zusammenbruch der faschistischen Diktatur und der Niederlage der Nazi-Truppen, die ersten ungarischen Parlamentswahlen nach dem Krieg mit einer Vielzahl von Parteien abgehalten. Es dauerte aber nicht lange, bis die Rote Armee ein Ein-Parteien-System errichtete und die Kontrolle in Ungarn übernahm. Die Macht konzentrierte sich in den Händen der stalinistischen Bürokratie, die einen allmächtigen Polizeistaat aufbaute. Es kam zu Schauprozessen, Unterdrückung und Verfolgung. Die bürokratische Kollektivierung auf dem Land löste Unzufriedenheit und Armut aus. Es herrschte ein niedriger Lebensstandard. Die eklatanten Widersprüche des Stalinismus wurden durch die Leistungs- und Produktionssteigerungen und durch die Erhöhung der Arbeitsnormen auf dem Rücken der Arbeiterinnen deutlich, während sich die Bürokratie bereicherte. Bürokratische Fehlplanung in der Wirtschaft führte zu Güterknappheit und schließlich zu Unzufriedenheit mit der sozialen Lage der Bevölkerung. Das gesamte bürokratische System mit Staatssicherheit (AVH) umfasste l Million Menschen, bei nur 3 1/2 Millionen produktiv Arbeitenden.
Stalins Tod im März 1953 bot Anlass zu Forderungen nach Entspannung und politischen Reformen. Der Aufstand der Ostberliner Arbeiter und die Kämpfe in der Tschechoslowakei wirkte sich auch auf die Lage in Ungarn aus. Im Sommer 1953 kam es zu den ersten größeren Streiks (Budapester Stahl- und Metallindustrie) seit über sieben Jahren. 48 Stunden demonstrierten die Arbeiterinnen gegen niedrige Löhne, hohe Arbeitsnormen und Lebensmittelknappheit – mit Erfolg. Denn der im Juli 1953 neugewählte Ministerpräsident Imre Nagy stimmte der Erhöhung der Löhne zu und gewährte Amnestie für politische Gefangene. Dieser „Neue Kurs“ war kein grundlegender, aber er verdeutlichte, dass ein Teil der Regierenden die Notwendigkeit von Reformen von oben sah, um eine Revolution von unten zu verhindern. Die Liberalisierung führte aber nicht zu einem Abebben der Proteste, sondern genau zum Gegenteil: die Menschen sahen sich in ihrem Kampf bestärkt und wollten dem Staat weitere Konzessionen abringen. Diese Entwicklung veranlasste die stalinistische Bürokratie zum Eingreifen. Im April 1955 wurde Imre Nagy abgesetzt, und eine neue Welle der Unterdrückung setzte ein.
Die Proteste weiten sich aus
Es kam erneut zu Protesten und Unruhen. Infolge des 20. Parteitages der KPdSU (mit der formellen Distanzierung der Kommunisten von Stalin) kam es zu öffentlichen Debatten an ungarischen Schulen und Universitäten. Zunächst ließ das Regime die Kritik zu. Die Situation war aber äußerst prekär. Forderungen nach einer Rückkehr Imre Nagys wurden laut. Am 6.10.1956 wurden sich die Massen ihrer Stärke bewusst. Der Jahrestag der Beerdigung Laszlo Rajks (ein Opfer der Säuberungsprozesse in den 40er Jahren) der von der Bürokratie absichtlich nicht gefeiert werden sollte, wurde letztendlich für sie zum Verhängnis. Unter großem Druck musste sie Parteireden und öffentliche Bekundungen zulassen. Niemand hatte jedoch die Teilnahme von 200.000 Menschen am Trauerzug erwartet. Gegen Abend zogen ca. 300 Studierende mit roter und ungarischer Flagge singend zum Stadtzentrum. „Wir werden nicht auf halber Strecke halt machen, der Stalinismus muss vernichtet werden!“
Am 22. Oktober riefen die Studierenden anlässlich der Machtübernahme durch den „Reformkommunisten“ Gomulka in Polen zu einer Solidaritätsdemonstration für die polnischen Arbeiterinnen auf. Diese friedliche Demonstration war der Auslöser für die folgende Massenbewegung mit Tausenden von Menschen. Mit der Zeit entwickelten sich aus unkonkreten Plänen, handfeste Forderungen:
– sofortiger Rückzug der SU freie, unabhängige Studierenden-Organisationen
– eine neue wirtschaftliche Gestaltung Ungarns
– freie und geheime Wahlen.
Im Laufe des nächsten Morgens schlössen sich die Industriearbeiterinnen an. Im Radio wurde eine Rede des Parteisekretärs Ernö Gerö übertragen, in der er die Demonstrantinnen als Feinde denunzierte. Daraufhin forderte ein Teil der Bewegung Imre Nagy auf, vor dem Parlament zu ihnen zu reden. Die Bürokratie mußte sich (vorerst) geschlagen geben. Imre Nagy wurde wieder Premierminister und der Geheimdienst wurde abgeschafft. Die stalinistische Bürokratie versuchte die für sie gefährliche Situation durch personelle Veränderungen zu entschärfen. Die „Hardliner“ verschwanden erst mal von der Bildfläche, und es wurden einige Reformen versprochen, um die Masse zu beruhigen.
Die Verlegung russischer Truppen nach Budapest heizte die Stimmung in der Bevölkerung wieder auf. Die Demonstration der Stärke, die von den sowjetischen Panzern ausgehen sollte, führte zum Gegenteil. Teilweise kam es sogar zu Verbrüderungen zwischen den Aufständischen und den sowjetischen Soldaten. Es bestand die Gefahr, dass sich große Teile der sowjetischen Armee sich auf die Seite der Revolution stellen würden. Aus diesem Grund veranlasste das sowjetische Oberkommando, seine Truppen am 28. Oktober aus Budapest abzuziehen. Es war aber nur ein vorläufiger Sieg, denn die stalinistische Führung formierte ihre militärischen Kräfte für den entscheidenden Angriff um.
Zweiter sowjetischer Angriff
Nach dem vorläufigen Rückzug der russischen Truppen aus Budapest, blühten Kunst und politisches freiheitliches Leben wieder auf. Alle Teile der Gesellschaft (Intellektuelle und Arbeiterinnen) wirkten in der neuen Bewegung mit. Der Aufstand weitete sich sogar auf das Land aus, wo ebenfalls Arbeitermilizen und Räte gebildet wurden. Imre Nagy veranlasste die Bildung einer neuen Regierung, den Rückzug aus dem Warschauer Pakt und verhandelte mit den Arbeiterinnen die Wiederaufnahme der Arbeit für den 5.11.
Der 4. November brachte aber den zweiten Angriff der neuen russischen Truppen in ganz Ungarn. Diesmal kamen die Soldaten aus fernen zentralasatischen Gebieten; sie sprachen kaum Russisch und wurden mit unglaublicher Propaganda von einem bevorstehenden faschistischen Aufstand „betäubt“. Es gab überall erbitterte Kämpfe. Es gelang den ungarischen Arbeiterinnen trotz mangelnder Waffen, die Panzer aufzuhalten, so dass sich der Aufstand in den Arbeiterhochburgen sogar ausweiten konnte, erst nach zehn Tagen konnten 6.000 russische Panzer die Revolution niederwalzen. Am 4.11. setzten die Russen die totalitäre Marionettenregierung Janos Kadars wieder ein. So blieb den Arbeiterinnen nur noch der Streik als Waffe.
Unmittelbar nach dem 4. November wurde ein zweiter Generalstreik ausgerufen, der einen noch größeren Erfolg hatte als der erste. Auch die Arbeiterräte funktionierten weiter. Auf Arbeitsniederlegungen, Verstärkung der Arbeitermilizen etc. reagierte die neue Führung mit wachsender Einschüchterung und Verfolgung. Die Unterdrückungsmaßnahmen reichten bis zur Hinrichtung und Folter. Die Arbeiterräte blieben bei den Forderungen ihres Programms: Die Fabriken gehören den Arbeiterinnen; der gewählte Arbeiterrat ist der höchste Souverän, er selbst wählt die Mitglieder des Leitungskomitees; der Direktor muß vor dem Arbeiterrat Rechenschaft ablegen. Leider waren jedoch die Arbeiterräte zu sehr mit der Organisation der Produktion beschäftigt; ihre landesweite Vernetzung kam nicht zustande.
Stalinistische Repressionen gegen die Arbeiterräte
Auf dem Hintergrund neuer Einschüchterungsversuche der Roten Armee und des neuen AVH begannen im großen Budapester Arbeiterrat die Debatten über ihre Rolle in der Gesellschaft. Manche Arbeiterinnen sprachen sich für eine unpolitische, nur eine ökonomische Rolle der Arbeiterräte aus. Die Parteien sollten die politischen Subjekte sein. Andere forderten nationale Arbeiterräte. So bestand im November/ Dezember 1956 eine Doppelherrschaft.
Nachdem sich Anfang November eine Delegation des Borsod-Arbeiterrats mit Imre Nagy getroffen hatte, sollte am 11.12. der nationale Arbeiterrat gegründet werden. Doch dazu kam es nicht mehr. Am 11.12. wurden alle führenden Köpfe der Bewegung gefangen genommen. Das wiederum löste einen 48stündigen Generalstreik aus. Es entstanden „Volkstribunale“, mit denen das Kadar-Regime die Repression rechtfertigen wollte. Den Kadar-Handlangem fielen Hunderte von Arbeiterinnen zum Opfer. Erst 1957 wurde der letzte Arbeiterrat aufgelöst. Imre Nagy wurde im Sommer 1958 hingerichtet.
Welche Lehren ziehen wir für heute?
Nach 40 Jahren sind wir selbstverständlich um viele Erfahrungen reicher, dazu haben aber die Ereignisse wie der Ungarn-Aufstand ihren Teil beigetragen. Die Organisierung von zwei Generalstreiks und des mutigen Kampfes, sowie die Errichtung der Arbeiterräte nach leninschem Vorbild sind eines der größten Ereignisse in der Geschichte der Arbeiterbewegung. Lenins Bedingungen für einen gesunden Arbeiterstaat würden von den ungarischen Arbeitern praktisch verstanden:
1. Alle Vertreter der Arbeiter sollen gewählt und jederzeit abwählbar sein!
2. Kein Funktionär soll mehr als einen durchschnittlichen Facharbeiterlohn verdienen!
3. Kein stehendes Heer, sondern ein bewaffnetes Volk!
4. Abwechselnde Besetzung von Ämtern: wenn jeder ein Bürokrat ist, dann ist keiner ein Bürokrat!
Gegen die Verleumdung, es seien auch prokapitalistische Tendenzen beteiligt gewesen, spricht das Programm der revolutionären ArbeiterInnen Bände. Darin forderten sie die „politische Demokratie auf der Grundlage freier Aktivität von Arbeiterräten, Revolutionskomitees und politischer Parteien sowie die Beibehaltung der Landreform und des Gemeineigentums an Banken und Fabriken.
Letztendlich fehlte den Arbeitern eine politische Führung, die Trotzkis Analyse der Entartung der russischen Revolution und die Wichtigkeit einer politischen Revolution begriffen hätte. Die Geschichte hat gezeigt, daß das stalinistische System Kadars an seinen inneren Widersprüchen zusammenbrach. Heute lebt die Mehrheit der Bevölkerung unter kapitalistischen Bedingungen in Armut und sozialer Unsicherheit Es bedarf also angesichts der verheerenden Auswirkungen der Wiederherstellung des Kapitalismus eines erneuten Wandels auf der Grundlage der Ideen Lenins und Trotzkis. Die mutigen Kämpfer von 1956 geben ein Beispiel.
Anhang:
Im O-Ton: Arbeiterräte in Ungarn
Am 31. Oktober verfassten die Vertreter von etwa 25 der größten Budapester Fabriken eine Erklärung für die Einhaltung der Rechte und Pflichten der Fabrikräte:
Die Fabrik gehört den Arbeitern. Diese sind verpflichtet, dem Staat eine Abgabe zu zahlen, die im Verhältnis zur erzielten Produktion steht, sowie einen Anteil am erwirtschafteten Gewinn. Das oberste Kontrollorgan der Fabrik ist der demokratisch von den Arbeiterräten gewählte Arbeiterrat. Der Arbeiterrat wählt wiederum aus seinen eigenen Reihen einen aus 3 bis 9 Mitgliedern bestehenden Vollzugsrat, der die Aufgabe hat, als ausführendes Organ die Entscheidungen des Rates umzusetzen und die vom Rat gestellten Aufgaben zu erfüllen.
Der Direktor ist Angestellter der Fabrik. Er wird genauso wie die anderen leitenden Angestellten vom Arbeiterrat gewählt. Die Wahl findet im Anschluss an eine öffentliche Vollversammlung statt, die vom Vollzugsrat einberufen wird. Der Direktor ist dem Arbeiterrat in allen Angelegenheiten, die die Fabrik betreffen, verantwortlich. Der Arbeiterrat behält sich sämtliche Rechte vor alle das Unternehmen betreffende Projekte zu genehmigen, die allgemeine Lohnstruktur zu bestimmen und die Methoden der Festlegung bestimmter Lohngruppen vorzugeben, über alle Angelegenheiten im Zusammenhang mit Auslandsverträgen zu entscheiden, über alle Fragen der Kreditaufnahme zu entscheiden.
Ebenso entscheidet der Arbeiterrat selbst über alle auftretenden Konflikte in Zusammenhang mit der Einstellung von Arbeitern im Unternehmen.
Die Forderungen des Nationalrates Freier Gewerkschaften vom 26.Oktober 1956:
1. Bildung von Arbeiterräten in allen Fabriken, um Arbeiterselbstverwaltung sowie eine radikale Veränderung des Systems zentraler Planung und der Leitung der Wirtschaft durch den Staat durchzusetzen.
2. Neufestlegung der Löhne
3. Abschaffung der Produktionsnormen – außer in Fabriken, in denen die Arbeiterräte das Festhalten an den Normen selbst beschließen.
4. Abschaffung der vierprozentigen Sondersteuer, die Unverheiratete und kinderlose Ehepaare zahlen.
5. Anhebung der niedrigsten Renten.
6. Anhebung des Kindergeldes. Beschleunigte staatliche Wohnungsbauprogramme.