Vor 20 Jahren versetzte die Revolution in einem kleinen Land am Rande Europas die Herrschenden in aller Welt in Angst und Schrecken. Der portugiesische Soldatenaufstand vom 25. April 1974 war ein Signal für Arbeiter, Angestellte und Bauern: Sie begannen damit, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Wie kam es dazu? Und wie konnte diese Bewegung wieder abgeblockt werden? Maria Clara Roque beschreibt die Hintergründe.
Anders als in England, Frankreich und Deutschland hatte Portugal die industrielle Revolution im 18 und 19 Jahrhundert mehr oder weniger „verschlafen“ Der Adel und die Großgrundbesitzer stützten sich sehr lange noch auf die Kolonien und die Landwirtschaft.
Portugal war zwar selbst über Jahrhunderte eine (Halb-)Kolonie des britischen Imperialismus, doch es hatte selbst (teilweise noch bis zur Revolution 1974) viele eigene Übersee-Kolonien. Eine besondere Rolle spielte und spielt die katholische Kirche im Land: Sie stand stets auf der Seite der Machthaber. Ende des letzten Jahrhunderts formierte sich in den beiden großen Städten Lisboa (Lissabon) und Porto eine gewerkschaftliche und sozialistische Bewegung. Aber diese Anfänge waren sehr zaghaft, und es wurde keine Massenbewegung daraus. 1916 beschloss Portugal, an der Seite Englands in den Krieg zu ziehen. Der Krieg löste Hunger und Unruhen aus. Die Nachricht von der russischen Revolution brachte Hoffnung für die wenigen Industriearbeiter. So wurde Anfang der 20er Jahre die portugiesische KP gegründet.
1926 übernahm eine Militärdiktatur die Macht. Salazar wurde der starke Diktatur – er war ein guter Freund Hitlers, Mussolinis, Francos und Hiroitos. Zu einer „Perfektion“ wie unter den deutschen Nazis hat es zwar in Portugal nie gereicht, aber es gab auch so genug an Unterdrückung und Leid. Die Geheimpolizei PIDE wurde von der GESTAPO ausgebildet.
Jeder Stadtteil, jedes Dorf, jeder Betrieb, jedes Restaurant hatte Spitzel. Nirgends konnte man vor ihnen sicher sein. Auf den Kapverdischen Inseln entstand ein Konzentrationslager nach deutschem Muster Auch viele Juden, die in Portugal ihre letzte Hoffnung auf Rettung sahen, wurden von der PIDE erwischt. Ende der 50er Jahre war das Maß voll. Es gab immer mehr (verbotene) Proteste. Durch eine gewisse Industrialisierung vor allem um Lisboa und Porto herum (Werften, Schwerindustrie, usw.), aber auch in anderen Landesteilen wurden die Beschäftigten selbstbewusster und begannen, gegen das Regime aufzubegehren. Das Gefühl, eingesperrt zu sein im Land, war bei den meisten Portugiesen sehr stark.. Ab 1961 erstarkten die Befreiungsbewegungen m den Überseekolonien. Sie wollten sich nach über 400 Jahren von Unterdrückung und Sklaverei befreien. Salazar wollte dies auf jeden Fall verhindern. Schließlich hatten auch einige britische, amerikanische, französische und andere Multi-Konzerne in Angola und Mosambik ihre Finger im Erdöl- und Diamantengeschäft drin.
Die indischen Kolonien konnten nicht mehr gehalten werden, die übrigen jedoch sollten mit militärischer Gewalt „verteidigt“ werden. Die Wehrpflicht und die damit verbundenen Kampfeinsätze wurden für viele das Todesurteil. Verweigern war verboten. Viele junge Männer nahmen eine abenteuerliche Flucht in Kauf, um nicht an diesem Wahnsinn mitmachen zu müssen
Bei all dem darf nicht vergessen werden, dass Portugal auch schon zu Zeiten der Diktatur NATO-Mitglied war, ebenso wie die Türkei und das griechische Obristenregime (1967-74). Proteste und illegale Streiks durfte es offiziell nicht geben, aber die 68er Träume schlugen sich auch nach Portugal durch. In Porto weigerte sich die Stadtbevölkerung kollektiv, die Fernseh-und Rundfunkgebühren zu zahlen.
1968 starb der Diktator Salazar. Sein Nachfolger Caetano verstand, dass die Tage der Diktatur gezählt sein würden, und versuchte, „liberaler“ zu wirken.
Das Leben wurde für die Masse der Bevölkerung als Folge des teueren Kolonialkrieges unerträglich. Der Krieg verschlang Über 40% der Staatsausgaben. Die Ausweglosigkeit und Sinnlosigkeit des Krieges radikalisierten die Soldaten. Selbst konservative Generäle wie Spinola sahen ganz deutlich, dass der Krieg nicht zu gewinnen war: er brachte diese Ansicht in einem Buch zum Ausdruck. So wurde ein Putsch geplant.
Als Zeichen, daß die verschiedenen Militäreinheiten nach Lisboa einmarschieren sollten, wurde das verbotene Lied eines Exil-Liedermachers (Jose Alfonso), „Grandola Vila Morena“, vereinbart.
Als der Rundfunksender in der Nacht zum 25.April 1974 eingenommen war, spielte man das vereinbarte Lied. Die Soldaten umzingelten und besetzten die wichtigsten Gebäude der Hauptstadt. Am frühen Morgen hörte die Bevölkerung durch das Radio die Nachricht, dass sie Ruhe bewahren und zu Hause bleiben sollte – die Diktatur wäre gestürzt. Aber keiner, der so lange schweigen musste, wollte jetzt noch zu Hause bleiben.
Die Menschenmassen kamen auf die Straße, wollten endlich dabei sein und mitreden. Viele brachten den Soldaten rote Nelken. Der Putsch verlief friedlich. Nur vor dem Hauptquartier der PIDE kam es zu einer Schießerei, die zwei Menschenleben forderte. Die Geheimpolizisten wollten sich nicht ergeben und mordeten bis zum bitteren Ende. Der Diktator Caetano verschanzte sich auch dort.
Das Militär bzw. die MFA (=Movimento Forças Armadas — Bewegung der Streitkräfte) bildete eine provisorische Regierung, war sich aber nicht einig, wie die Politik nach der Revolution aussehen sollte. Die Führung der MFA um den neuen Staatspräsidenten Spinola (jener konservative General, der es auszusprechen gewagt hatte, dass der Krieg verloren war) wollte auf keinen Fall eine sozialistische Revolution, sie wollte lediglich ein etwas liberaleres System als das des Diktators, um eben eine Explosion von unten zu verhindern.
Die einfachen Soldaten, die unteren Ränge des Militärs und die Menschen auf der Straße wollten aber mehr. Ihre Zeit war gekommen. Spontan wurden Fabriken besetzt und Arbeiterkomitees als Verwaltungs- und Kontrollorgane gewählt Mieterkomitees entstanden in jedem Stadtviertel, die geknechteten Bauern verjagten die Großgrundbesitzer, besetzten das Land und bildeten Kooperativen.
Die Gebäude der alten faschistischen Zwangs-„Gewerkschaften“ wurden besetzt. Überall erschien die Forderung nach -umgerechnet – 700 DM Mindestlohn. Die Bäckereiarbeiter forderten als erste die Verstaatlichung ihrer Industrie. Die Transportarbeiter folgten ebenfalls dem Beispiel. Die Bankangestellten erzwangen durch Besetzungen die Verstaatlichung der Banken, um die Kapitalflucht zu verhindern. Die Wirtschaft war schließlich zu weit über 50% verstaatlicht. Wie oft hörte man auf den Straßen, in den Betrieben, an den Schulen: „Jetzt bekommen wir endlich den Sozialismus.“ Die Regierungen der USA und Europas erzitterten. Man sprach in den USA offen davon, dass der Kapitalismus in Europa verloren sein könnte. Diese friedliche Revolution könnte Schule machen. Die damaligen Herrscher in der Sowjetunion hatten nicht minder Angst. Welch eine Gefahr, wenn dies tatsächlich die Macht des Volkes bedeuten würde. Auch sie sahen ihre bürokratischen Privilegien schwanken.
So tat sich eine „unheilige“ Allianz zusammen Alle Herrschenden der Erde wünschten ein Ende der Revolution. Dreimal versuchte General Spinola 1974/75, eine Konterrevolution(durch erneuten Militärputsch)durchzusetzen. Es misslang ihm dreimal. Denn die Bevölkerung war alarmiert. Ohne auf die Signale ihrer Parteien zu warten, wurden Straßensperren und Barrikaden erstellt, die von bewaffneten Arbeitern und Soldaten bewacht wurden. Für eine Konterrevolution im Lande war keine aktive Massenbasis vorhanden. Und ob die N ATO/USA eine vollendete sozialistische Revolution in Portugal von außen militärisch wirklich abgemurkst hätten, war mehr als fraglich: denn schließlich mussten sich die Amis 1975 endgültig gedemütigt aus Vietnam zurückziehen, auch deshalb, weil im eigenen Land eine kritische Stimmung herrschte.
Die Stimmung in Portugal war hervorragend. Fast alle organisierten sich gewerkschaftlich und politisch oder trafen sich bei verschiedenen Komitees. Frauen wurden selbstbewusst und aktiv und legten in kurzer Zeit einen weiten Weg in Richtung Gleichberechtigung zurück. Nachbarn taten sich zusammen und verschönerten ihr Stadtviertel mit mehr Grün. Überall wurde eifrig darüber nachgedacht, wie alles demokratischer, wirklich von unten nach oben, zu organisieren wäre. Doch leider fehlte die Erfahrung. 48 Jahre Diktatur, das bedeutete Erziehung zum Unterdrücktsein, die blieben nicht ohne Folgen. Man erwartete Hilfe von den Parteien und ihrer erfahreneren politischen Führung.
Die beiden Arbeiterparteien, PS (Sozialistische Partei, 1973 im Exil bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bad Münstereifel gegründet) und PC (Kommunistische Partei, die streng stalinistisch ausgerichtet war) waren nicht auf den Ausbruch der Revolution vorbereitet. Weder die PS noch die PC entwickelte während der Bewegung ein Programm oder eine Perspektive für den Aufbau einer wirklichen Arbeiterdemokratie. Mario Soares (heutiger Staatspräsident und damaliger Mitbegründer und Vorsitzender der PS) hielt wortradikale Reden und klopfte Sprüche wie: „Wer kein Marxist ist, soll gehen. Dort ist die Tür.“
Bei verschiedenen Wahlen in den ersten Jahren nach der Revolution bekamen Parteien, die sich zum Sozialismus“ bekannten, mehr als einmal insgesamt zwei Drittel der Stimmen. Die PS erhielt 40% der Stimmen bei der Parlamentswahl 1976, aber ihre Politik war alles andere als sozialistisch. Soares machte bald klar, dass er die Wirtschaft nicht im Interesse des „kleines Mannes“, sondern im Interesse der Unternehmer sanieren wollte. Obwohl die Verfassung 1976 geändert wurde, und der Sozialismus zum Staatsziel erklärt wurde, blieben diese Worte ohne Bedeutung für die Alltags-Politik. Portugals Finanzsituation (die hohe Verschuldung als Erbe der Diktatur) ließ obendrein das Land zum Bittsteller werden Die Bedingungen für Kredite des IWF (Intern. Währungsfonds) waren wie immer
- Reprivatisierung von Betrieben und Land
- Entschädigung an enteignete Großgrundbesitzer/ Unternehmer
- Kürzungen der Sozialleistungen und Infrastrukturmaßnahmen
- mehr Geld für Rüstung
- höhere Steuern
- Lohnbegrenzung.
Und es wurden natürlich die entsprechenden Gesetze zur Erfüllung der IWF-Forderungen verabschiedet. Aber Gesetze verabschieden ist eine Sache, sie durchsetzen eine andere. Diese Erfahrung musste auch Soares machen. Es gelang ihm zwar oft mit Polizeieinsätzen, einige Errungenschaften abzubauen, aber es konnten nicht alle Bedingungen des IWF erfüllt werden. Der Widerstand war noch zu groß. Zu frisch war die Erinnerung an die Diktatur. Die Opposition innerhalb der PS gegen die Politik von Soares wurde immer stärker. Mehrmals traten bekannte linke Oppositionelle aus Protest aus der Partei aus oder wurden ausgeschlossen. Durch eine Satzungsänderung wurde der Einfluss der Basis auf die Führung stark beschnitten
Nun gab es kein zurück mehr. Langsam aber sicher wurden die Errungenschaften der Revolution abgebaut. Der revolutionäre Schwung nahm ab. Man kann nicht jahrelang unter Strom stehen. Die Enttäuschung in den Arbeiterparteien war und ist groß. Denn die PC beschränkte sich meistens auf die Ablehnung dieser oder jener Maßnahme Aber ein positives Programm für eine sozialistische Demokratie hatte und hat sie nicht anzubieten. 1974 gab sie sich in Worten sogar viel gemäßigter als die PS; so wurden damals sogar spontane Streiks von der PC als „CIA gesteuert“ kritisiert.
Obwohl Portugal mittlerweile Mitglied der EG/EU geworden ist, und viele Gelder fließen, kommen diese meist nicht den Menschen zugute, die sie brauchen. Gewiss, es wäre zu peinlich“. nichts aus den EG-Geldern zu machen. Deswegen baute man Straßen, verbesserte etwas die Infrastruktur, aber das meiste bleibt Makulatur.
Immer noch verdient man in Portugal sehr wenig Wenn man Glück hat, ca. 800 DM. Doch die Wohnungen in den Stadien da wo es Arbeit gibt – kosten viel. Kein Wunder, dass die sogenannten Bairros da Lata (Wellblech-Viertel) Zuwächse verzeichnen. Verschiedene Krankheiten, die ausgerottet zu sein schienen, tauchen wieder auf: TBC und sogar Cholera wegen der Hygieneverhältnisse in den Elendsvierteln. Im Gesundheitswesen kann sich derjenige glücklich schätzten, der Geld hat. Wenn man krank ist, kann man Pech haben und einen Termin beim Arzt erst ein paar Wochen später erhalten
Die portugiesische Revolution von 1974/75 hat gezeigt, dass die arbeitenden Menschen aus Ihrer Lebenserfahrung heraus immer wieder dazu fähig sein können, solidarisch für eine sozialistische Gesellschaft zu kämpfen. 20 Jahre danach sollten wir die Ereignisse von damals noch genauer betrachten und versuchen, daraus zu lernen. Denn wer es versäumt, die Lehren der Geschichte zu verstehen, Ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.