Frankreich: Für eine Arbeiterregierung (Inkl. Augenzeugenbericht vom Streik)

Seit Anfang September finden in ganz Frankreich Massendemonstrationen, Streiks und Blockaden statt – gegen Präsident Macron und seine verhasste Sparpolitik. Nach der radikalen Gelbwestenbewegung 2018 und den Streiks gegen die Pensionsreform 2023 hat damit eine neue Welle von scharfen Klassenkämpfen begonnen, die sich durch eine stärkere Radikalisierung der Jugend und innerhalb der Gewerkschaften ausdrückt. Von Martin Halder
Eingeleitet wurden diese Klassenkämpfe von unten. Seit Juli verbreiteten lokale Aktivisten der Gelbwestenbewegung den Aufruf im Internet, am 10. September unter der Losung „Bloquons tout!“ (Blockieren wir alles!) auf die Straße zu gehen. Innerhalb kurzer Zeit entwickelte sich eine solche Dynamik, dass der linke Flügel der Gewerkschaft CGT (Unité CGT) und Jean-Luc Mélenchon von der linkssozialistischen La France Insoumise (LFI) die Mobilisierungen aktiv unterstützten.
Den ersten Sieg erreichte die Bewegung bevor sie begonnen hat. Unter dem Druck der Mobilisierung verlor Premierminister Francois Bayrou am 8. September eine Vertrauensabstimmung im Parlament, womit er und sein Sparbudget von 44 Mrd. € Geschichte sind. Sein erzwungener Rücktritt nahm Druck aus der Situation, tat der Mobilisierung aber keinen Abbruch, denn vielen ist klar, dass der Urheber der Sparpolitik selbst – Macron – gestürzt werden muss.
So gingen am 10. September Hunderttausende auf die Straße und blockierten über 200 Verkehrsknotenpunkte. Die Bewegung weitete sich aus. Am 18. September – ein Aktionstag den die Gewerkschaftsführungen ansetzten, um nicht aktiv auf den radikalen Blockadetag mobilisieren zu müssen – waren bereits über eine Million auf der Straße, kombiniert mit Streiks im Nahverkehr, dem Bildungsbereich und dem öffentlichen Dienst. In allen Städten gab es Massendemos. Es wurden Dutzende Schulgebäude besetzt und blockiert und auf den meisten Demos nahmen ganze Schulen als lauter und kämpferischer Block teil. Selbst in Orten wie Aubenas und Guéret, die kaum mehr als 10.000 Einwohner zählen, gab es Massendemos mit bis zu 2.000 Teilnehmern.
Numerisch haben die Mobilisierungen noch nicht das Niveau von den Protesten gegen die Pensionsreform 2023 erreicht – da waren es am Höhepunkt fast drei Millionen. Doch die Stimmung unter den Aktivisten ist dieses Mal deutlich radikaler als vor zwei Jahren.
Beide Protesttage im September wurden von der Arbeiterbasis erzwungen, die Demos in den Städten waren von der massenhaften Beteiligung der Jugend geprägt und die gesamte Stimmung war politischer. Es gab nicht nur Slogans gegen Macrons Sparpolitik, sondern genauso gegen staatliche Repressionen, Rassismus, Kapitalismus und Völkermord. Die Palästinafahne war fester Bestandteil jeder einzelnen Demo.
Die Unité CGT, der tief in der Industrie verankerte klassenkämpferische Flügel der traditionellen CGT-Gewerkschaft, veröffentliche für den Blockadetag eine besonders kämpferische Stellungnahme: „Lasst uns streiken, die Betriebe besetzen, die Wirtschaft blockieren! Denn das französische Regime befindet sich in einer Krise: Nach zehn Jahren Macron explodiert die legitime Wut gegen die politischen und wirtschaftlichen Eliten, die das Land ausplündern und die Arbeiter ausbeuten. […] Vorwärts, um dem Status quo, seinen Institutionen und dem Kapitalismus und seiner Welt der Ausbeutung, des Elends, der Hungersnot, des Völkermords und des Grauens ein Ende zu setzen!“
Dieser Radikalisierungsprozess ist Ausdruck der tiefen Krise des französischen Kapitalismus, die sich in ständig steigenden Staatsschulden widerspiegelt. Diese betragen insgesamt 35.000 Mrd. € (113% des BIP), wobei ein besonders hoher Anteil (50%) von ausländischen Investoren gehalten wird (vgl. IT 28%; USA 30%; ES 40%; DE 45%). Allein die jährlichen Zinszahlungen betragen inzwischen 66 Mrd. € – so viel wie das gesamte Bildungsbudget.
Die Bürgerlichen fordern ständige Angriffe auf die Arbeiterklasse, um den Haushalt zu sanieren – überall außer beim Militär und bei den Unternehmen wird gekürzt. Macron hat große außenpolitische Pläne, er führt die „Koalition der Willigen“ an, die aus der Ukraine einen permanenten Frontstaat des europäischen Imperialismus machen will.
Doch die Herrschenden können nicht ständig harte Einsparungen umsetzen, ohne die Wut der Massen auf sich zu ziehen. Der ehemalige EU-Kommissionpräsident Juncker formuliert es so: „Wir alle wissen, was zu tun ist, aber wir wissen nicht, wie wir danach wiedergewählt werden.“ Und so überträgt sich die Krise in die Politik und die staatlichen Institutionen. Allein in den letzten 12 Monaten gab es in Frankreich drei verschiedene Regierungschefs: Barnier hielt sich drei Monate, Bayrou neun Monate und es gibt wenig Gründe, warum der nun frisch ernannte Premier Lecornu – zuvor Verteidigungsminister und Vertrauter Macrons – sich länger halten sollte.
Die Unterstützungswerte von Lecornu liegen bei 16% (niedriger als alle seine Vorgänger bei Amtsantritt); Macron steht bei 17% (niedrigster Wert seiner Amtszeit). Die Regierung hat zwar keine Mehrheit im Parlament, aber die Parlamentsparteien (mit Ausnahme der LFI, aber inklusive der Kommunistischen und Sozialistischen Partei) wollen ihr kein Misstrauen aussprechen, um die politische Stabilität Macrons aufrecht zu erhalten. Insbesondere der rechtsextreme Rassemblement National von Marine Le Pen will den etablierten bürgerlichen Kräften damit zeigen, dass sie ein verlässlicher Partner in der Regierung wären – ganz im Unterschied zum „linksextremen“ Mélenchon. Doch das Nicht-Misstrauen ist wie immer ein Drahtseilakt zwischen institutioneller Stabilität und dem Volkszorn.
Eine andere Stütze für die Regierung ist die Gewerkschaftsführung, die den Unmut so dosiert, dass Macron handlungsfähig bleiben kann. Nach dem Streiktag gaben alle wichtigen Gewerkschaftsverbände der Regierung eine Bedenkzeit von einer Woche, um die Sparpläne und die Erhöhung des Pensionsalters zurückzunehmen. Ohne große Überraschung ging Lecornu nicht darauf ein, woraufhin die Gewerkschaften den nächsten Streiktag für den 2. Oktober ankündigten.
Dieser Aufruf gab der Regierung eine Verschnaufpause und unterbricht die notwendige anhaltende Mobilisierung. Außerdem hält die Gewerkschaftsführung an der falschen Methode der einzelnen Aktionstage fest und verweigert sich der erfolgsversprechenden Taktik langgezogener, eskalierender Streiks. Im Kampf gegen die Pensionsreform rief die Gewerkschaft unter dem Druck der Klasse innerhalb sechs Monaten zu mindestens 14 voneinander isolierten Aktionstagen auf. Die Regierung und die Bosse saßen diese Taktik einfach aus, denn sie konnten immer sichergehen, dass am nächsten Tag wieder normal weitergearbeitet wird.
Unabhängig von der desorganisierenden Wirkung der Gewerkschaftsführung stehen Frankreich weitere Massenkämpfe bevor und der Radikalisierungsprozess in der Arbeiterklasse und Jugend geht weiter. Eines der wichtigsten Ereignisse in dem Prozess ist die Etablierung der Unité CGT, die immer offener die gescheiterten Methoden der Gewerkschaftsführung kritisiert und dafür aufruft, dass der 2. Oktober ein Starschuss für einen unbefristeten, branchenübergreifenden Generalstreik werden muss. Das ist der Weg nach vorne.
Im Parlament ist Mélenchon der einzige politische Lichtblick einer durch und durch kaputten Linken. Er fordert als Einziger den Sturz von Lecornu und Macron und eine Ausweitung der Mobilisierung auf der Straße.
Neuwahlen sind in dieser Situation angelegt. Es drängt sich die Frage auf, wie der Kampf auf den Straßen, Betrieben, Schulen und bei den kommenden Parlamentswahlen zu einer Gesamtstrategie verknüpft wird.
Bei der letzten Parlamentswahl 2024 ist Mélenchons Partei LFI bereits zum zweiten Mal ein Volksfront-Bündnis mit der Sozialistischen Partei, den Grünen und der Kommunistischen Partei eingegangen. Dieses Bündnis war eine politische Sackgasse, die Forderung der Verstaatlichung wurde aus dem Programm entfernt und das Wahlbündnis rettete Macron einige Sitze, in dem alle Parteien der Volksfront in der zweiten Wahlrunde eigene Kandidaten zugunsten liberaler Kandidaten zurückzogen. Argumentiert wurde dies mit dem kleineren Übel: um eine Mehrheit der Rechten taktisch zu verhindern.
Sollte Mélenchon diesen Fehler bei den nächsten Wahlen ein drittes Mal wiederholen, kann strategisch wiederrum nur die extreme Rechte profitieren, Le Pen wird die Unterordnung unter Macrons Liberale nutzen, um sich demagogisch als einzige Anti-System-Kraft zu präsentieren. Der Weg vorwärts ist klar: die enge Zusammenarbeit von LFI und der Unité CGT für die Vorbereitung eines Generalstreiks, der wirklich das ganze Land lahmlegt, Macron zum Rücktritt zwingt und die Machtfrage stellt. Es gilt eine Kombination von ökonomischen Massenkämpfen und politischer Agitation in und ums Parlament zu entwickeln. Die Kräfte dafür sind da.
Unsere französischen Genossen argumentieren für die Perspektive einer Arbeiterregierung, die die großen Banken und Konzerne enteignet und die Arbeiterklasse an die politischen und wirtschaftlichen Schalthebel der Gesellschaft bringt. •
Von Kurt und Steffi
Zufällig fiel unser Frankreich-Urlaub auf den Generalstreik am 18.09. Wir waren zu der Zeit gerade in Le Havre – eine alte Industriestadt mit dem größten Containerhafen Frankreichs. Von einem wirklichen Generalstreik konnte nicht die Rede sein: Straßenbahnen, Einkaufszentren, Müllabfuhr und vieles mehr waren in Betrieb. Wir nahmen an der Demo mit ca. 6000 Teilnehmern teil (Bei einer Einwohnerzahl von 166.000). Es war beeindruckend für uns, so viele Industrie- und Hafenarbeiter auf einer Demo zu sehen. Aber leider waren lange nicht alle Arbeiter im Streik, was die wirkliche Macht der Arbeiter demonstriert hätte.
Während die Demo eine gute Stimmung hatte, aber kaum kämpferische Slogans gerufen wurden (hauptsächlich vom gut organisieren Lehrer-Block), schlug die Jugend andere Töne an. Schüler eines Gymnasiums bauten eine Barrikade aus Mülltonnen vor ihrer Schule und skandierten von früh am Morgen bis zum späten Nachmittag Slogans und sangen revolutionäre Lieder. Mit selbstgemalten Transparenten zeigten sie ihre Solidarität mit Palästina und der indonesischen Revolution. Auch wenn die Sparpläne bei der Bildung der wesentliche Streikgrund war, waren die Schüler schon weiter mit ihrer internationalistischen und antikapitalistischen Haltung. Drei Tage später haben wir auf einer Kundgebung in Paris gegen Macron unsere französischen Genossen unterstützt. Wir konnten trotz Sprachbarriere 11 Zeitungen verkaufen. Es war spürbar, dass die Jugend und Arbeiterklasse nach einer wirklichen Lösung sucht. Die Losung unserer französischen Genossen (“Blockieren wir alles! Für eine Arbeiterregierung!“) fand breiten Anklang – die Menschen wollen eine wirkliche Veränderung, eine wirkliche Revolution!