Schostakowitsch – Das musikalische Gewissen der Russischen Revolution

Dmitri Schostakowitsch war einer der größten Komponisten des 20. Jahrhunderts: ein Gigant, der dem Leiden und dem Triumph des sowjetischen Volks in einer der turbulentesten revolutionären Epochen der Geschichte eine Stimme verlieh. Alan Woods versucht in diesem Artikel Schostakowitsch so zu zeigen, wie er wirklich war: ein großer sowjetischer Künstler, der mit Musik die schrecklichen und die inspirierenden Ereignisse seiner Zeit beschrieb, ein Mann aus dem Volk, der an die Möglichkeit einer besseren Welt im Sozialismus glaubte.
Schostakowitsch wurde am 25. September 1906 in St. Petersburg geboren und starb am 9. August 1975 in Moskau. In seiner Lebenszeit ereigneten sich die Oktoberrevolution, der russische Bürgerkrieg, zwei Weltkriege sowie die Schrecken des Stalinismus – Ereignisse, die nicht nur seinen persönlichen Lebensweg, sondern auch das Schicksal des gesamten Landes prägten. Die Hoffnungen und Träume, die die Bolschewistische Revolution erweckte, liegen darunter begraben. Solche gigantischen Ereignisse rufen Musik von entsprechender Größe hervor, und in den mächtigen Symphonien Schostakowitschs finden sie tatsächlich ein ebenbürtiges Echo.
Künstler können nicht vom Leben abgeschnitten sein, selbst wenn sie das wollten und Schostakowitsch wollte das ganz bestimmt nicht. Hinter der äußerlichen Erscheinung eines schüchternen, zurückhaltenden Menschen, der scheu hinter seinen Brillengläsern herausblinzelte, steckt eine äußerst mutige und widerständige Persönlichkeit – ein Mann, der unter enormen Risiken entschlossen war, seine Stimme zu erheben, um gehört zu werden – ganz gleich, welchen Preis er dafür zahlen musste.
Trotz aller Versuche, seine Leistungen zu relativieren und seine wahren Ideen und Ziele aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu verzerren, wird er als einer der größten – wenn nicht sogar als der größte –Komponist des 20. Jahrhunderts in die Geschichte eingehen. Er ist eine heroische und tragische Figur, die uns mit zutiefst bewegender und wahrhaftiger Musik ein klingendes Zeugnis der Zeit seines Schaffens und Kämpfens überliefert hat.
Schostakowitsch war ein Kind der Revolution, die sein Schaffen prägte. Sein ganzes Leben lang blieb er den Ideen des Oktobers und des Sozialismus treu – trotz aller Verleumdungsversuche von reaktionären und böswilligen Kritikern. Doch Stalin und die Bürokratie verachtete er – und das kam ihn teuer zu stehen. Seine prinzipientreue Haltung bescherte ihm ein hartes Leben voller persönlicher Tragödien, er war aber auch Zeuge noch viel größerer Tragödien: jener, die die das Volks der Sowjetunion zu erleiden musste.
In seiner Musik ist all das Leiden seines Heimatlands ausgedrückt. Aus diesem Grund wirkt sie manchmal „schwierig“. Das betrifft insbesondere seine letzten drei Symphonien, als Schostakowitsch am Ende seines Lebens zunehmend verbitterte und immer mehr vom Gedanken an den Tod erfasst wurde. Aber sogar hier ist seine Musik niemals pessimistisch, sondern tragisch und zutiefst menschlich.
Dieser Artikel geht auf einige Notizen mit allgemeinen Betrachtungen über die Bedeutung der Symphonien Schostakowitschs zurück, die ich vor Jahren für meinen teuren Freund Miguel Fernandez schrieb, einem verdienten Veteranen der spanischen Arbeiterbewegung im Kampf gegen die Franco-Diktatur, einem talentierten Dichter und einem Liebhaber klassischer Musik.
Ich bin mir bewusst, dass ich in diesem Artikel dem kompositorischen Genie Schostakowitschs nicht gerecht geworden und auch viele Aspekte seiner Person nur oberflächlich berührt habe. Als Marxist bin ich in erster Linie an jene Ereignisse seines Lebens interessiert, die mit der Politik zusammenfallen, sowie an der komplexen Wechselwirkung zwischen dem Komponisten und dem tragischen Schicksal der Oktoberrevolution. Sein persönliches Leben ist in diesem Artikel nur dort relevant, wo es als eigener Faktor in diese komplizierte und widersprüchliche Gleichung hineinwirkt.
Im Vorbeigehen möchte ich noch kurz auf die Kontroverse rund um die „Autobiographie“ Schostakowitschs eingehen, die, geschrieben von seinem früheren Schüler Solomon Wolkow, in den späten 1970er in den USA unter dem Titel Testimony (dt. Titel: Zeugenaussage) veröffentlicht wurde. Für jeden, der Schostakowitsch und die furchtbaren Ereignisse in der Sowjetunion unter Stalin verstehen möchte, wird das ein sehr interessantes Buch sein. Weil aber die Person, um die es in dem Buch geht, nicht mehr lebt und für seine Authentizität garantieren kann, werden wir nie genau wissen, was davon der Realität entspricht.
Meine Meinung, die sich auf ein sorgfältiges Studium des Buchs und anderer Materialien stützt, führt mich zum Schluss, dass Schostakowitsch tatsächlich große Teile des Buchs Wolkow diktiert hat, letzterer aber Material hinzugefügt hat und die Meinungen des Komponisten zugunsten seiner eignen verfälscht hat.
Es gibt zwei große Probleme. Das eine ist, dass Schostakowitsch ein verschlossener Mensch war, der sich gegenüber anderen nur ungern öffnete. Zusätzlich zu seinem eigenen schon eher schüchternen und zurückhaltenden Naturell haben ihn die konstanten Schläge gegen ihn und seine Existenz gelehrt, reserviert und vorsichtig zu sein. Das erklärt die oft rätselhaften Stellungnahmen zu seinen eigenen Werken. Auf die Frage, was sie bedeuteten, pflegte er mit den Schultern zu zucken und zu sagen: „Ratet selbst“.
Das andere, schwerwiegendere Problem ist (gerade heute) die heftige Propagandakampagne, um die Ideen des Sozialismus zu diskreditieren und zu „beweisen“, dass es sich bei der Russische Revolution um einen gigantischen Irrweg, um einen historischen Fehler handle, der nichts erreicht hat. Das ist völlig falsch. Trotz aller Schrecken des Stalinismus bewies die Oktoberrevolution die Überlegenheit der verstaatlichten Planwirtschaft in der Praxis. Sie bewies, dass es möglich war, die Wirtschaft eines riesigen Landes ohne Grundbesitzer, Bankiers und Kapitalisten führen zu können. In den Worten Leo Trotzkis bewies sie die Überlegenheit des Sozialismus nicht in der Sprache von Marx‘ Kapital, sondern in der Sprache von Zement, Eisen, Stahl, Kohle und Elektrizität.
Die Sowjetunion erreichte auch bemerkenswerte Fortschritte in Wissenschaft, Kunst und Kultur. Es stimmt, dass die korrupte und konterrevolutionäre Bürokratie schwerwiegende Schäden in der sowjetischen Kultur angerichtet hat und diese gierige Bürokratie letztendlich die verstaatlichte Planwirtschaft unterminierte, zerstörte und das Land der Oktoberrevolution zurück zum Kapitalismus führte. Heute singen die ehemaligen Führer der Sowjetunion, die früher von „Sozialismus“ und „Kommunismus“ redeten, ein Loblied auf die Marktwirtschaft. Dazu haben sie auch allen Grund, schließlich haben sie das ehemalige Staatseigentum geplündert und sich selbst in Eigentümer großer privater Monopole verwandelt.
Die große Mehrheit der professionellen Schreiberlinge, die gestern sich noch vor Stalin und Breschnew verbeugten und Schostakowitsch wegen seiner Opposition zum stalinistischen Regime attackierten, haben sich dem Chor der kapitalistischen Konterrevolution angeschlossen. Und die beispiellose ideologische Offensive im Westen gegen Sozialismus und Oktoberrevolution verkündet lautstark die Wertlosigkeit der sowjetischen Kultur, weil ja die Sowjetunion nie irgendetwas Dauerhaftes in den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie erreicht hätte.
Wolkows Buch – obwohl es viel wertvolle Informationen enthält – begeht den groben Fehler, Schostakowitsch zumindest implizit eine antisowjetische und antikommunistische Haltung unterzuschieben, d.h. seine Ablehnung des Stalinismus wird kritiklos mit Ablehnung der Oktoberrevolution und des Sozialismus im Generellen vermischt. Das ist falsch. Schostakowitsch war sich des enormen kulturellen Potentials der Oktoberrevolution sehr wohl bewusst und unterstützte sie mit ganzer Kraft, gemeinsam mit den besten Intellektuellen seiner Generation.
Noch schlimmer ist die Position der Kritiker von Wolkows Buch, die Schostakowitsch als Handlanger des stalinistischen Establishments porträtieren, quasi ein feiger Opportunist, kaum besser als ein KGB-Agent. Diese Damen und Herren werden nie akzeptieren, dass die Sowjetunion große Komponisten, Schriftsteller und Wissenschaftler hervorgebracht hat. Für diese intellektuellen Prostituierten der Bourgeoisie hat die Sowjetunion in Kunst und Kultur nie irgendetwas von Dauer geschaffen, genauso wie sie auch wirtschaftlich nie etwas erreicht hat.
Was sie nicht erklären können ist, wie eine Nation, die 1917 rückständiger war als das heutige Pakistan, es schaffte, sich in kürzester Zeit zur zweitmächtigsten Nation der Erde zu entwickeln, wie die Sowjetunion fast im Alleingang Hitlers Deutschland, das alle Ressourcen Europas hinter sich hatte, besiegen konnte, und wie nach dem Krieg (ohne Marshall-Hilfe) ein Land wieder aufgebaut werden konnte, das 27 Millionen Menschen verlor – mehr als alle anderen Länder zusammengenommen.
Und was haben diese Bewunderer des Kapitalismus über Russland heute zu sagen? Die Restauration des Kapitalismus hat den Völkern der vormaligen Sowjetunion keinerlei Vorteile gebracht. Wie Trotzki vorhersagte, hat die Wiedereinführung des Kapitalismus in der Sowjetunion einen unvorhergesehenen Einbruch der Produktivkräfte und der Kultur nach sich gezogen. Die Auswirkungen in den Bereichen der Wissenschaft, Kunst, Musik und Kultur waren katastrophal.
Es ist an der Zeit, diesem Versuch, Schostakowitsch für die kapitalistische Konterrevolution zu vereinnahmen, Einhalt zu gebieten. Der vorliegende Artikel versucht, die Verhältnisse wieder geradezurücken und Schostakowitsch so zu zeigen, wie er wirklich war: ein großer Sowjetkünstler, der in der Musik die schrecklichen und die inspirierenden Ereignisse seiner Zeit ausdrückte, ein Mann aus dem Volk, der an die Möglichkeit einer besseren Welt im Sozialismus glaubte, ein Idealist, der alle Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten hasste – und ein Kind der Oktoberrevolution, der den Stalinismus als Perversion und Verrat an den wahren Idealen Lenins verabscheute.
Von einem rein musikalischen Standpunkt aus betrachtet ist der Umfang der vorliegenden Arbeit beschränkt. Ich beschäftige mich fast ausschließlich mit Schostakowitschs Symphonien. Das soll nicht heißen, dass er nicht auch anderes geschrieben hätte. Das erste Cellokonzert und das Violinkonzert, das Quintett und die Streichquartette, die Lieder und die Klaviermusik, sie alle enthalten Musik eines Genies. Doch erstens bräuchte es ein ganzes Buch und nicht nur einen Artikel, um das riesige Werk Schostakowitschs abhandeln zu können und zweitens ist Schostakowitsch international vor allem für seine Symphonien bekannt.
Ich bin überzeugt, dass jeder, der sich sorgsam durch Schostakowitschs Symphonien hört, zu tiefen Einsichten über die furchtbaren, aber inspirierenden Ereignisse kommen kann, die die Menschen der Sowjetunion von 1917 bis in die Siebziger durchmachen mussten. Diese wundervollen Werke kennen und lieben zu lernen ist eine tief bewegende und lohnende Erfahrung.
„Ich bin ein sowjetischer Komponist, und ich sehe unsere Epoche als heroische.“
„Ich glaube, dass jeder Künstler verloren ist, der sich von der Welt abisoliert.“
(Schostakowitsch)[1]
Schostakowitsch wurde als zweites von drei Kindern in St. Petersburg geboren. Seine Familie väterlicherseits war polnischer Herkunft (der ursprüngliche Familienname war Szostakowicz). Sein Großvater Boleslaw Szostakowicz nahm am erfolglosen Aufstand gegen die russische Herrschaft 1863 teil und wurde zu lebenslangem Exil in Sibirien verurteilt. Das alles musste tiefe Spuren im Bewusstsein des jungen Schostakowitsch hinterlassen haben, der sich, wenn auch politisch nicht aktiv, immer einen brennenden Hass gegen Tyrannei und tiefe Sympathien für das Leiden der Opfer von Unterdrückung erhalten hatte.
Seine Familie war politisch liberal, und es ist bekannt, dass einige Familienmitglieder in der Untergrundbewegung gegen den Zarismus im frühen 20. Jahrhundert aktiv waren. Einer seiner Onkel war Bolschewik. Ein Jahr vor seiner Geburt wurde die Revolution von 1905 in Blut ertränkt. Es ist kein Zufall, dass eine seiner besten Symphonien (die Elfte) sich auf dieses tragische Ereignis der revolutionären Geschichte Russlands bezieht, oder dass darin alte revolutionäre russische Lieder vorkommen, darunter solche, die von den politischen Gefangenen und sibirischen Exilanten gesungen wurden.
Die Entwicklungen seines tragischen Lebens sind eng mit der Oktoberrevolution von 1917 verbunden. Diese Revolution beendete Tausend Jahre zaristischer Unterdrückung. Sie rüttelte die Massen zum politischen Leben auf und inspirierte eine ganze Generation. Im heutigen Zeitalter der Indifferenz und des Zynismus, wo schon die Idee, eine neue und bessere Welt aufzubauen, mit spöttischen Randbemerkungen der Pharisäer und prostituierten Intellektuellen quittiert wird, ist es schwierig, sich den Geist der Befreiung vorzustellen, der in der russischen Revolution geboren wurde. Um das in Worte zu fassen, müssen wir die berühmten Zeilen zitieren, mit denen der junge Dichter Wordsworth die Französische Revolution grüßte:
Glückseligkeit wars, in jener Zeit der Morgendämmerung zu leben,
doch noch jung dabei zu sein, das war der Himmel![2]
Die demokratischen und sozialistischen Ideale der Oktoberrevolution zogen nicht nur die ausgebeuteten und unterdrückten Massen an. Sie inspirierten auch die besten Künstler und Intellektuellen, die unwiderstehlich zur revolutionären Sache hingezogen wurden. Auch wenn sie die Ideen des Marxismus nicht verstanden, sympathisierten talentierte Leute wie die beiden Poeten Alexander Blok und Sergei Jessenin mit ganzem Herzen mit der Revolution. Unter den Komponisten blieben beispielsweise Rachmaninow und Strawinsky mit bitterer Feindschaft der Revolution gegenüber im Ausland. Andere aber blieben, wie etwa Alexander Glazunow oder auch der berühmte Bass Fjodor Schaljapin, die Alle bedeutende Opfer brachten, um dem Volk zu dienen. Der größte russische Bass aller Zeiten wurde oft mit Mehl und Eiern für seine Vorführungen bezahlt.
Ein weiterer großer russischer Komponist, Sergei Prokofjew, ging ebenfalls ins Ausland. Er sollte sich später erinnern, dass Anatoli Lunatscharski, der Volkskommissar für Kultur und Bildung, ihn ermutigte zu bleiben: „Sie sind in der Musik so revolutionär wie wir im Leben. Wir sollten zusammenarbeiten. Aber wenn Sie nach Amerika gehen wollen, werde ich nicht im Weg stehen.“ Prokofjew ging im Mai 1918 in die USA. Niemand versuchte ihn daran zu hindern – ein himmelweiter Unterschied zur Situation unter Stalin und Breschnew. Er kam später zu einer Zeit zurück, als Stalin bereits an der Macht war, und sollte einen bitteren Preis dafür bezahlen.
Die Jahre der Revolution und des Bürgerkriegs waren Jahre des Hungers, Jahre von entsetzlicher materieller Not und Leid. In einer Zeit, in der Überleben und die Suche nach Brot zur ersten Priorität wurde, wurden künstlerische und kulturelle Aktivitäten in den Hintergrund gedrängt. Nichtsdestotrotz formte sich eine neue Generation junger sowjetischer Künstler, Schriftsteller und Komponisten, die nach kreativen Antworten auf die von der Revolution aufgeworfenen Fragen suchten. Einige unter ihnen suchten nach radikalen und innovativen Lösungen im Sinne der revolutionären Bilderstürmerei jener Jahre.
Lunatscharski scheute sich nicht, die Dienste der jungen Generation in Anspruch zu nehmen. Wegen der Feindseligkeit eines großen Teils der alten, privilegierten Intellektuellen hatte er auch nicht viel Auswahl. Arthur Lourié, der futuristische Komponist, wurde zum Leiter der neugegründeten Musikabteilung des Volkskommissariat für Kultur und Bildung (Narkompros) ernannt. Er war gerade 25 Jahre alt. Später schrieb er über die Jahre der Oktoberrevolution: „Es gab kein Brot, und Kunst nahm diesen Platz ein. Nie anders und sonst nirgendwo habe ich Leute gesehen, die Musik mit solch zitternder Ungeduld nicht gehört, sondern verschlungen haben, mit so viel Gefühl wie in Russland in jenen Jahren.“ (Zitiert nach: Amy Nelson: Music for the Revolution)
Schostakowitschs musikalisches Talent zeigte sich bereits in jungen Jahren. Er erhielt Klavierunterricht ab dem neunten Lebensjahr. 1919 wurde er am berühmten Petrograder Konservatorium aufgenommen, das damals von Glasunow geleitet wurde. Auch wenn letzterer musikalisch ein Konservativer mit tiefen Wurzeln in der Welt Tschaikowskis und der Musik des 19. Jahrhunderts war, half er dem jungen Schostakowitsch, der auch später immer herzlich über ihn sprach.
Schostakowitsch war Repräsentant einer neuen musikalischen Strömung, die dem revolutionären Geist jener Tage entsprang. Er folgte den Fußstapfen Prokofjews und Strawinskys, die gegen den romantischen Geist des 19. Jahrhunderts auftraten, und schrieb Musik mit einem oft heftigen Charakterzug, der dem eisernen Charakter der Epoche mehr entsprach: Musik wie Strawinskys Frühlingsopfer, das bei der Uraufführung in Paris kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs einen Skandal und Randale auslöste, oder Prokofjews Skythische Suite. Viele Musikliebhaber waren von diesen Dissonanzen verstört und lehnten sie ab. Aber sie waren nur ein blasser Vorgeschmack auf die wirkliche, reale Gewalt und Barbarei, die das 20. Jahrhundert für die Menschheit noch bereithielt.
Die 1920er waren in der Sowjetunion eine spannende Zeit. Die Lava der Revolution war noch nicht erkaltet und gehärtet genug, um eine Kruste des bürokratischen Konservativismus zu bilden, wie das später mit dem Aufstieg der stalinistischen Bürokratie der Fall war. Eine junge Generation an Schriftstellern, Künstlern und Komponisten wurde aus dem Sturm und Drang der Oktoberrevolution geboren. Nur wenige von ihnen hatten eine ausgebildete politische Ideologie oder ein gefestigtes Verständnis vom Marxismus, aber sie tendierten instinktiv zur Oktoberrevolution und zum Bolschewismus, was auf eine gewisse Art und Weise mit ihrem eigenen rebellierenden Geist korrespondierte: der entschiedenen Ablehnung des Alten und dem Streben nach neuen Formen des künstlerischen Ausdrucks. Diese Schriftsteller, Künstler und Komponisten waren „Trittbrettfahrer“, um den bildhaften Ausdruck Trotzkis zu gebrauchen (Trotzki war einer der wenigen wichtigen bolschewistischen Führer, die den neuen Strömungen in Kunst und Literatur ernsthafte Aufmerksamkeit widmeten, worüber er in seiner brillanten Polemik Literatur und Revolution schrieb).
Die beiden Dichter und Anhänger der akmeistischen Strömung [Kunstrichtung, die das Dingliche in den Vordergrund stellt, weg vom Mystizismus; Anm.] Osip Mandelstam und Anna Achmatowa sowie der Symbolist Alexander Blok nahmen alle an den Debatten über Kunst und Literatur teil, gemeinsam mit Bogdanow und den anderen Anhängern des Proletkultes. Boris Pilnjak experimentierte mit neuen Romanstilen. Der Architekt und Designer Wladimir Tatlin unternahm kühne Neuerungen in konstruktivistischer Architektur. Sein Entwurf für ein Monument der Kommunistischen Internationale erlangte Berühmtheit, ist aber auf dem Papier geblieben.
In der Musik wurde der neue „proletarische“ Trend in seiner extremsten Form von Mossolow vertreten, dessen eindrückliche Beschwörung des Fabriklebens Sawod (Die Eisengießerei) eine gewisse Berühmtheit erlangt hat. Man kann über den künstlerischen Wert dieses oder jenes Werkes der Epoche verschiedener Meinung sein, aber sie besitzen zweifellos eine gewisse Kraft und Ernsthaftigkeit. Sie waren ein ehrlicher Versuch, der sowjetischen Kunst und Musik eine neue Stimme zu verleihen.
Zu dieser Zeit standen Einmischungen der Partei oder des Staats in das Werk von Schriftstellern oder Komponisten außer Frage. Natürlich war die Partei künstlerischen Trends gegenüber nicht gleichgültig und führte eine lebhafte Polemik gegen einige bürgerliche oder kleinbürgerliche Strömungen. Aber das war ein freundlicher und konstruktiver Dialog und kein bürokratischer Monolog eines allmächtigen Staates mit dem „Vater des Volkes“ an der Spitze, der nicht nur vorschrieb, wie sich die Menschen zu verhalten, sondern auch, wie sie zu fühlen und zu denken hatten.
Schostakowitschs erste große musikalische Errungenschaft war die 1926 uraufgeführte Erste Symphonie, seine Abschlussarbeit. Ihr Erfolg machte den Komponisten im jungen Alter von 19 Jahren berühmt. Musikalisch schuldet sie früheren Komponisten wie Skrjabin oder Mahler einiges, hat aber schon eine eigene musikalische Sprache.
Es ist die Symphonie eines jungen Mannes, der gerade voller Selbstvertrauen und Abenteuerlust zu einer aufregenden Reise aufgebrochen ist. Sie erinnert an die Worte des revolutionären Dichters und Bolschewiken Majakowski aus seinem Frühwerk Ein Wölkchen in Hosen[3]:
Euer Traum
im Hirn ist verweichlicht bereits,
wie ein fetter Lakai auf dem speckigen Sofa, bis ich
ihn erst einmal mit dem blutigen Fetzen des Herzens gereizt
und mich sattgelacht, arrogant und bissig.In meiner Seele fand sich von grauen Haaren kein Schimmer,
keine Greisenzärtlichkeit fand sich!
Da schreit‘ ich: Es donnert die kraftvolle Stimme.
Und ich bin schön
und bin zweiundzwanzig!
Einige bürgerliche Kritiker, die Jahrzehnte nach dem Zerfall des Stalinismus immer noch den Kalten Krieg ausfechten, haben versucht, Schostakowitsch von Beginn an eine negative Einstellung zur bolschewistischen Revolution unterzujubeln. Dafür gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Obwohl er kein politischer Aktivist war, sympathisierte Schostakowitsch aus ganzem Herzen mit der Oktoberrevolution. Das spiegelt sich auch in seiner Musik wider. Seine Zweite Symphonie aus dem Jahr 1927 trägt den Untertitel An den Oktober. Es folgte die Dritte Symphonie, die dem Ersten Mai gewidmet ist, dem internationalen Kampftag der Arbeiterklasse.
Die Zweite schrieb er 1927 zum zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution. Es ist nicht die Frage, ob der junge und idealistische Komponist versuchte, sich bei den sowjetischen Behörden anzubiedern. Wenn er über dieses Thema schrieb, dann, weil er leidenschaftlich daran glaubte. Die Symphonie enthält den Text eines Gedichts über Lenin von Alexander Besymenski. Der zweite Teil der Symphonie, von einer Fabriksirene eingeleitet, endet mit den Worten Oktober, die Kommune, Lenin.
Man kann sagen, dass diese frühen Werke – mit der Ausnahme der meisterhaften Ersten Symphonie – viel Unreifes, Unbeholfenes und Erfolgloses enthalten. Die 1930 in Leningrad uraufgeführte Dritte Symphonie war, gesamthaft gesehen, ein zukunftsweisendes Werk. Doch sie beinhaltet ebenso ein eklektischer Wirrwarr an Ideen, die sich nicht zu einem zufriedenstellenden Ganzen zusammenfügen. Der junge Komponist war noch auf der Suche nach seinem Weg, er tastete sich voran zu seinem eigenen Stil. Und es ist das heilige Recht jedes jungen Schriftstellers oder Komponisten, manchmal Unausgereiftes zu schreiben. Nur durch Ausprobieren lernt die Jugend ihren Weg, das Leben zu leben – noch ganz zu schweigen davon, Musik oder Literatur zu schreiben.
Er schrieb auch bedeutende Werke fürs Ballett (Das goldene Zeitalter, Der Bolzen) und fürs Kino (Das neue Babylon). Das war der Beginn einer langen Hingabe Schostakowitschs ans Kino. Alle diese frühen Werke sind experimenteller und modernistischer Natur und entsprechen voll dem Geist ihrer Entstehungsepoche. In diesen Frühwerken sehen wir den Einfluss Prokofjews, aber auch Strawinskys, Hindemiths und Křeneks. Zu dieser Zeit wurden junge Komponisten nicht dafür kritisiert, „schwierige“ Musik zu schreiben, zu experimentieren oder fremde Stile zu verwenden. Schostakowitsch arrangierte sogar einen berühmten westlichen Song jener Zeit, Tea for Two, den er Tahiti-Trot nannte und in seinem Ballett Der helle Bach enthalten ist.
Zum Ende der 1920er hin änderte sich jedoch das gesamte politische und kulturelle Klima in der Sowjetunion. Die Niederlage der sozialistischen Revolution in Europa infolge des Verrats der sozialdemokratischen Führer führte zur Isolation der russischen Revolution unter Bedingungen der größten Rückständigkeit. An die Stelle des früheren revolutionären Enthusiasmus unter den sowjetischen Arbeitern traten nun Erschöpfung und Apathie. Nach dem Tod Lenins 1924 wurde die sowjetische Bürokratie unter Stalins Führung immer selbstbewusster. Eine neue Kaste bürokratischer Karrieristen drängte die Arbeiter zurück und besetzte Schlüsselpositionen in Staat und Partei. Die Niederlage und der Ausschluss der Linken Opposition am 15. Kongress der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) besiegelte offiziell die bürokratische politische Konterrevolution, die die Macht in die Hände Stalins und seiner Fraktion legte.
1930 beging der berühmteste sowjetische Dichter, Majakowski, bekannt als „Trommler der Revolution“, Selbstmord. In seinem bewegenden letzten Gedicht, geschrieben kurz bevor er sich das eigene Leben nahm, sagt Majakowski: „Ich fühle, ich werde grau“.[4] Diese Worte, in scharfem Kontrast zum jugendlichen Optimismus von Ein Wölkchen in Hosen, spiegeln die Verzweiflung eines revolutionären Dichters wider, der an der schleichenden bürokratischen Reaktion zerbricht, die sich wie Gift durch die sowjetische Gesellschaft frisst, jedwede Initiative erstickend und jedes Aufleben der Arbeiterdemokratie genauso erwürgend wie die künstlerische Freiheit. Majakowski konnte sich dem Stalinismus nicht ausliefern. Sein Selbstmord war ein Akt des Protests.
1936, als Schostakowitsch 30 war, war er bereits für zwei Opern und drei abendfüllende Ballette bekannt, nebst zahlreichen Partituren für Theater und Film. Eine rein orchestrale Symphonie wurde dagegen erst eine aufgeführt, genauso erst ein Streichquartett. Aber nach diesem kometenhaften Aufstieg zu Ruhm befand sich Schostakowitsch nun hoffnungslos (und zunehmend gefährlich) im Widerspruch zum neuen Zeitgeist. Er hatte bereits die Arbeit an der Vierten Symphonie mit ihrer dunklen und unheilvollen Stimmung begonnen. Die Umstände aber zwangen ihn, die Uraufführung abzubrechen, und die Symphonie landete in der Schublade, von wo sie erst drei Jahrzehnte später wieder hervorgeholt wurde.
Während er noch an der Zweiten Symphonie arbeitete, schlug Schostakowitsch bereits neue Pfade ein: die Oper. Diese eigentlich archetypisch bürgerliche Gattung wurde nun zum Gegenstand seiner fruchtbaren Experimente. Er schrieb die satirische Oper Die Nase auf Basis der berühmten gleichnamigen Erzählung des berühmten russisch-ukrainischen Schriftstellers Nikolai Gogol. Das Thema der Kurzgeschichte hat überdeutliche antibürokratische Untertöne. Die Erzählung selbst erweist sich als pure Fantasie: ein Bürokrat stellt eines Morgens nach dem Aufwachen das Verschwinden seiner Nase fest. Er sucht sie überall und findet sie schließlich auch – in der Uniform eines Vorgesetzten. Schlussendlich erscheint sie mysteriöserweise wieder im Gesicht ihres Trägers. Gogols Erzählung endet hier. Aber in Schostakowitschs Oper gibt es einen Epilog, in dem der Bürokrat sagt: „Das war nur ein Albtraum – aber die Realität ist schlimmer.“
In der Debatte zur Oper wurde Schostakowitsch gefragt, ob er besorgt wäre, ob sie wohl auch verstanden würde. Er antwortete: „Dem heutigen Publikum nach ja – es gab viel Applaus und kein Pfeifen oder Buhrufe.“ Weiters sagte er, das sei eine Oper gegen die Bürokratie, und er selbst würde sich als sowjetischer Künstler nur dafür interessieren, Musik für die Arbeiter und Bauern zu schreiben. „Jeder denkt nur an seine eigene ‚Nase‘, woran wir aber denken sollten ist die gemeinsame Sache“ (das Interview findet sich in einem interessanten sowjetischen Film über den Komponisten mit dem Titel Die Sonate für Viola[5]).
Das brachte den jungen Komponisten zum ersten Mal in Konflikt mit den sowjetischen Autoritäten. Die Zeiten, in denen ein sowjetischer Künstler oder Komponist sein Talent dazu nutzen konnte, die neue Kaste der bürokratischen Aufsteiger ohne weitere Konsequenzen zu verspotten, waren schon vorbei. Die bolschewistische Partei unter Lenin und Trotzki befürwortete die künstlerische Freiheit. Offen konterrevolutionäre Schriftsteller fanden ihre Werke verboten, aber das war die Ausnahme, und aus politischen, nicht künstlerischen Gründen. Man muss im Hinterkopf behalten, dass dieses Land sich gerade erst von einem blutigen Bürgerkrieg erholte. Es kam Lenin und Trotzki aber nie in den Sinn, totalitäre staatliche Kontrolle über Kunst und Literatur auszuüben. Sie beschränkten sich auf Polemiken gegen jene Tendenzen, die sie für negativ befanden.
Unter Stalin änderte sich all das. Nachdem er jede Opposition innerhalb der kommunistischen Partei beseitigt hatte (und die bolschewistische Partei war früher charakterisiert durch ihr lebendiges internes Leben und die freie Diskussionskultur, sogar in den schwierigsten Perioden), begann Stalin damit, bürokratische Kontrollen über die (aus seiner Perspektive höchst verdächtigen) Künste einzuführen. Die Einführung der RAPM (Rossijskaja Assozjazja Proletarskijch Musikantow, die russische Assoziation proletarischer Musiker) war der Versuch, über die sowjetischen Komponisten dieselbe Kontrolle ausüben zu können wie über die Schriftsteller, die über eine vergleichbare Assoziation verfügten (RAPP). 1929 wurde Schostakowitschs Oper von dieser stalinistischen Musikerorganisation als „formalistisch“ kritisiert und erhielt feindselige Kritiken. Die Kritik an der Nase war heftig, aber nur ein milder Vorgeschmack auf die ideologischen Attacken, die bald folgen sollten.
In Ungnade gefallen ist Schostakowitsch durch seine Oper Lady Macbeth von Mzensk. Basierend auf einem Roman des russischen Schriftstellers Leskow aus dem 19. Jahrhundert wurde die Oper im Januar 1934 im Maly-Theater in Leningrad mit großem Erfolg sowohl beim sowjetischen Publikum als auch bei den offiziellen Stellen, uraufgeführt. Sie wurde als „das Ergebnis des generellen Erfolgs des Sozialistischen Aufbaus und der korrekten Politik der Partei“ bezeichnet, weiters hätte eine solche Oper nur geschrieben werden können durch „einen sowjetischen Komponisten, der in den besten Traditionen der sowjetischen Kultur erzogen wurde“. Doch es begannen sich bereits dunkle Wolken zusammen zu ziehen.
Im selben Jahr, in dem Lady Macbeth erschien, bereiteten sich in der Sowjetunion dramatische Ereignisse vor. Stalin hatte den innerparteilichen Konflikt gewonnen. Aber wie jeder Emporkömmling fühlte er sich unsicher. Er sah überall Feinde, ein spezieller Dorn in Stalins Auge war der Sekretär der Leningrader Partei, Kirow. 1934 organisierte Stalin Kirows Ermordung und schrieb die Schuld dann einer inexistenten „trotzkistisch-sinowjewistischen Gruppe“ zu. Die Ermordung Kirows war das Signal für eine Welle der Repression, die zur Verhaftung hunderttausender Menschen, darunter loyale Unterstützer Stalins, führte. Sie wurden des Trotzkismus verdächtigt und ohne großen Aufhebens zu Gefängnis oder Straflager verurteilt.
Eine Atmosphäre des Terrors wurde errichtet, die wie ein Albtraum über der sowjetischen Gesellschaft hing. Zu diesem Zeitpunkt tastete sich Stalin jedoch noch vorsichtig voran. Er fühlte sich noch nicht stark genug, seine Erzrivalen zu exekutieren, die alten Bolschewiki Kamenew und Sinowjew. Nachdem sie einmal mehr Verbrechen gestanden, die sie nicht begangen hatten und in Stalins Schauprozessen sich selbst erniedrigten, wurden sie damit „belohnt“, am Leben zu bleiben – im Gefängnis. Aber nicht für lange. Die Konsolidierung der herrschenden bürokratischen Kaste ab 1936 verlangte nach neuen und brutaleren Methoden. Neue Schauprozesse wurden organisiert, in denen nicht nur Kamenew und Sinowjew, sondern die gesamte leninistische alte Garde physisch ausgelöscht wurde.
Das Jahr 1936 war ein Schicksalsjahr für Schostakowitsch und die Menschen in der UdSSR. Lady Macbeth wurde nun im Bolschoi-Theater in Moskau gespielt. Es hätte keinen schlechteren Zeitpunkt für eine Aufführung geben können. Das Jahr begann mit einer Hetzkampagne in der Prawda gegen Schostakowitsch, die von Stalin selbst initiiert wurde. Die erste unheilvolle Vorwarnung dazu war eine Aufführung der Lady Macbeth, die der “Vater der Nationen” mittendrin verließ. In der Prawda erschien ein Artikel unter dem Titel Chaos statt Musik, der die Lady Macbeth als formalistisch brandmarkte. „Alles ist grob, primitiv und vulgär“, beanstandete der Artikel, „die Musik schnattert, stöhnt und keucht“. Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Autor dieses Artikels Stalin selbst war. Im Klima jener Tage war das gleichbedeutend mit Verurteilung zu langer Zwangsarbeit – oder schlimmer.
Stalins Einwände gegen die Oper waren nur zum Teil ästhetischer Natur. Es stimmt natürlich, dass sein künstlerischer und musikalischer Geschmack, wie jener der bürokratischen Kaste, der er entstammte, primitiv, spießig und konservativ war. Die bürokratische Reaktion gegen den Sturm und Drang der Oktoberrevolution spiegelte sich in der Abneigung des stalinistischen Establishments gegen Experimente und Neuerungen in Kunst, Literatur und Musik wider. Unter diesen Umständen ist schlechter Geschmack kein rein persönliches Merkmal, sondern charakteristisch für die gesellschaftlichen Trends, politischen Veränderungen und die Klassen- und Kasteninteressen.
Aber es war nicht nur die modernistische Musik, die Stalin missfiel. Es war das Thema. Durch die ganze Geschichte der Klassengesellschaft bot die Versklavung der Frau eine solide Grundlage für die Familie, und die Familie bot eine solide Grundlage für den Staat, was wiederum die organisierte Unterdrückung einer Klasse (oder Kaste) unter die andere bedeutet. Die Oktoberrevolution schrieb sich die Emanzipation der Frau auf ihre Fahnen – und hielt ihr Versprechen. Wie in allen andern Bereichen auch bedeutete der Sieg der bürokratischen Konterrevolution aber die Liquidation der politischen Errungenschaften des Oktobers. Begierde, unerlaubte Liebesaffären und Mord waren nicht unbedingt die geeignetsten Themen für die Stalinisten, die die Notwendigkeit einer „neuen“ und „sozialistischen“ (lies konservativen und bürgerlichen) Moral auf Basis der Familie predigten.
Die Hauptdarstellerin, Katerina Ismailowa, die in einer lieblosen Ehe mit einem Kaufmann versauert und ihn schlussendlich umbringt, wird in sympathischen Farben gezeichnet, als Opfer der Umstände. Aber da ist noch weit Schlimmeres in der Oper: die Polizei und die Behörden werden in schlechtem Licht dargestellt. Die Polizisten sind herzlose Schläger, die sich in Wegelagerei und Erpressung ergehen (genauso, wie das im heutigen Russland der Fall ist). Aber am schlimmsten ist, dass ein Gefangenentransport in Ketten auf der Bühne erscheint und durch die endlosen Steppen Russlands ins sibirische Exil geschleppt wird. 1936 waren das nicht die Dinge, die die Stalinisten auf einer Bühne sehen wollten.
Schostakowitsch versuchte, sich und die Oper zu verteidigen. „Mein Verständnis der Lady Macbeth ist, dass die Verbrechen der Katerina Ismailowa einen Protest gegen die Atmosphäre darstellen, in der sie lebt: gegen die trostlose, stickige Atmosphäre des Kaufmannsmilieus des letzten Jahrhunderts“. Aber Mentalität und Moral der bürokratischen Kaste im stalinistischen Russland waren davon in Wirklichkeit gar nicht so weit entfernt. Der typische russische Bürokrat in Stalins Zeit war genauso grob, ignorant, engstirnig und provinziell wie der durchschnittliche Kaufmann in Leskows Erzählung. Stalin selbst teilte Mentalität, Moral und Geschmack dieses Milieus. Die stalinistische politische Konterrevolution hatte ihre psychologischen Wurzeln in einer kleinbürgerlichen Reaktion gegen die Oktoberrevolution.
Die Liquidation der leninistischen Arbeiterdemokratie war notwendigerweise vom Aufzwingen totalitärer Normen in jedem Bereich des sozialen und kulturellen Lebens begleitet. Das erste Opfer des neuen bürokratisch-totalitären Regimes war die künstlerische Freiheit. Die Bürokratie forderte Unterordnung und Konformismus, keine Originalität oder freie Diskussionen über Kunst. Vielmehr können in einem totalitären Regime, in dem politische Diskussion und Kritik zum Schweigen gebracht und jede Opposition mit der harten Hand des Staates verfolgt wird, Kunst, Literatur und Musik die Rolle der Untergrundopposition spielen. Darin wird Kritik an der Bürokratie in eine kryptische Sprache verpackt, die die Menschen, die gewohnt sind, zwischen den Zeilen zu lesen, allerdings verstehen können. Der sowjetische Komponistenverband wurde speziell dazu gegründet, um die Komponisten überwachen zu können und sie in unterwürfige Diener der Bürokratie verwandeln zu können.
Unmittelbar nach Erscheinen des Prawda-Artikels begann Schostakowitsch die Folgen zu spüren. Die Mitläufer im Komponistenverband begannen sofort, nicht nur Lady Macbeth zu verdammen, sondern auch andere Werke Schostakowitschs wie zum Beispiel Die Nase und Der helle Bach. Aufträge begannen auszubleiben und sein Einkommen fiel um etwa drei Viertel. In den seltenen Fällen, in denen seine Werke öffentlich aufgeführt wurden, erschien sein Name auf den Plakaten als „Dmitri Schostakowitsch – Feind des Volkes“. Die Vierte Symphonie wurde zwar noch geprobt, in jenem politischen Klima stand eine Aufführung aber außer Frage. Sie wurde erst 1961 uraufgeführt, wenn auch ein Klavierauszug 1946 veröffentlicht wurde.
Schostakowitsch befand sich nun in akuter Gefahr. Seine erste öffentliche Ächtung fiel mit dem Beginn des Großen Terrors zusammen, währenddessen hunderttausende Menschen in Stalins Gulags verschwanden – die meisten, ohne wiederzukommen. Viele von Schostakowitschs Freunden und Verwandten wurden verhaftet oder umgebracht. In den Jahren 1937 und 1938 fanden Stalins Säuberungen ihren blutigen Höhepunkt. Der gefeierte sowjetische Theaterregisseur Wsewolod Meyerhold, mit dem Schostakowitsch zusammengearbeitet hatte, wurde in ein Konzentrationslager verschleppt und 1940 ermordet. Viele weitere nennenswerte sowjetische Schriftsteller und Künstler fielen den Säuberungen zum Opfer, darunter Isaak Babel, der Autor der Reiterarmee, der Dichter Osip Mandelstam, und viele weitere weniger bekannte Künstler. Mossolow, der Komponist der Eisengießerei, wurde ebenfalls inhaftiert.
Die Säuberungen gingen bis in die obersten Ränge der Roten Armee. Unter den Opfern war Marschall Tuchatschewski, der Held des Bürgerkriegs und ein militärisches Genie. Da er ein Freund Schostakowitschs war, stellte das für den Komponisten ein Moment äußerster Gefahr dar. Von nun an war Schostakowitschs Leben vergleichbar mit einem Drahtseilakt über einem bodenlosen Abgrund. Zu jedem Zeitpunkt hätte er fallen und nie mehr zurückkehren können. Er trug stets einen kleinen Koffer bei sich, um für die Verhaftung gewappnet zu sein, die er jeden Moment erwartete.
Die Antwort des Komponisten auf seine Ächtung war die Fünfte Symphonie, deren musikalische Sprache deutlich konservativer und weniger modernistisch angelegt ist als seine früheren Werke. Nichtsdestotrotz ist sie das Werk eines Genies. Sie war ein unmittelbarer Erfolg und ist bis heute eines seiner beliebtesten Werke. Das ließ seine Kritiker für eine Zeit lang verstummen. Es wird behauptet, Schostakowitsch hätte die Fünfte Symphonie als „die Antwort eines sowjetischen Künstlers auf gerechtfertigte Kritik“ bezeichnet. Das ist eine Lüge. Schostakowitsch hat dieses Geschwafel nie von sich gegeben, es ist die Erfindung irgendeines stalinistischen Speichelleckers. Dieses erhabene Werk definiert eindeutig einen Richtungswechsel in Schostakowitschs musikalischem Stil, aber ganz sicher keinen Qualitätsverlust. Trotz ihres scheinbar triumphalen Finales ist die Symphonie von tief tragischem Charakter.
Es war eine besonders schwarze Periode in der Geschichte der Sowjetunion, als Stalin vom „glücklichen Leben“ sprach, während gleichzeitig der Wahnsinn der Zwangskollektivierung eine menschengemachte Hungersnot mit über 10 Millionen Toten verursachte. Stalin trampelte jedes Prinzip des Leninismus und der Sowjetdemokratie systematisch nieder. Und doch wurde die stalinistische Verfassung von 1936 als „die demokratischste Verfassung der Welt“ bejubelt. Ironie war in der Situation also angelegt.
In der Kunst fand der Sieg der stalinistischen Bürokratie in der sogenannten Theorie des „Sozialistischen Realismus“ ihren Niederschlag. Das war allein schon begrifflich ein Widerspruch. Die „Theorie“ war weder sozialistisch noch realistisch, sondern eher eine Art langweiliger Konformismus und Konservativismus, die Stalin und die Bürokratie jene anspruchslose und oberflächliche „Kunst“ bot, die ihrem begrenzten Verständnis und ihrer beschränkten Perspektive entsprach. Gleichzeitig sah die Theorie das sowjetische Leben durch die rosarote Brille. Stalin schaute Filme bevorzugt in einem eigens im Kreml eingerichteten Kino. Ganz speziell mochte er es, sich Filme mit glücklichen und gut genährten Kolchosbauern anzuschauen, während das Land im Griff einer schrecklichen Hungersnot mit Millionen Hungerstoten war.
Im Allgemeinen stand diese Kunst auf kaum einem höheren Niveau als die Verpackung einer durchschnittlichen Pralinenschachtel. Die selbstgefälligen, behaglichen Bilder glücklicher Arbeiter und grinsender Kolchosbauern mitten in einem wehenden Kornfeld wecken heute kein Interesse außer als Kuriosität oder für einen abfälligen Lacher. Aber sie entsprachen dem Zweck der Bürokratie, für die Kunst nur eine weitere Abteilung der totalitären Propagandamaschine war.
Wie wurde der „sozialistische Realismus“ auf die Musik angewandt? Die Behörden hatten keinerlei Einwände gegen Widersprüche in der Musik (immerhin hatte der „Vater der Nationen“ behauptet – in direktem Widerspruch zu Marx und Lenin – der Klassenkampf würde stärker werden, desto näher man dem Kommunismus kommen würde). Aber alle Widersprüche müssen natürlich im letzten Satz aufgelöst werden. Ganz analog dazu mussten natürlich alle sowjetischen Filme und Erzählungen ein glückliches Ende haben. Dass im wirklichen Leben nicht jedes Ende glücklich ist und dass unter Stalin das Leben vieler Menschen ein schlechtes Ende nahm, war für die bürokratischen Zensoren und Bluthunde im Komponistenverband natürlich kein Anlass zur Sorge.
Die Fünfte Symphonie feiert nicht das „glückliche Leben“. Das Werk ist bis zum Rand mit intensivster Tragik und Leid gefüllt. Und es ist nicht nur die persönliche Tragödie und das Leiden eines Individuums (auch wenn es starken persönlichen Ausdruck trägt), sondern es ist die viel größere kollektive Tragödie, die das ganze sowjetische Volk erleiden musste, das in jedem Takt und jedem Satz zum Ausdruck kommt. Der erste Satz gleicht einem Mann, der eine karge und trostlose Landschaft durchquert, wie eine Mondlandschaft. Aber es ist der außergewöhnliche langsame Satz („Largo“), wo die Tragödie fast unerträglich wird. Nur der letzte Satz hinterlässt den Eindruck eines „Happy End“ mit seinem vorwärtsdrängenden Marschthema. Aber es handelt sich um eine ironische Aussage. Der Satz hat mit dem Rest der Symphonie so viel zu tun wie Stalins Reden vom „glücklichen Leben“ mit der düsteren Realität der Mehrheit der Sowjetbürger jener Zeit.
Die Ironie des Schlusses der Fünften Symphonie wurde von vielen Menschen verstanden. Der gefeierte Dirigent Kurt Sanderling, der von 1941 bis 1960 Mrawinskis Assistent war, sagte: „Ich glaube, dass es für uns Zeitgenossen, die wir Schostakowitsch kannten und mit ihm arbeiteten, nie schwierig war, seine Werke mit ihrem doppelten Sinn zu interpretieren. Für uns war das alles sehr klar… Die Fünfte Symphonie war das erste zeitgenössische Werk, mit dem ich (in der Sowjetunion) konfrontiert war, und ich gewann den Eindruck: ja – genau das ist es – das ist unser Leben hier… Der sogenannte ‚Triumph‘ am Ende – wir verstanden, was er da sagte. Und es war jedenfalls nicht der ‚Triumph‘ der Mächtigen.“
Der Kontrast zwischen den offiziellen Proklamationen und dem realen Leben der Menschen war überhaupt die größte Ironie. Das spiegelte sich in Schostakowitschs Musik. Der Komponist sagte später über das Finale der Fünften Symphonie, es sei, als ob uns jemand auf den Kopf schlägt und ruft: „Ihr müsst jubeln! Ihr müsst jubeln!“. In anderen Worten, das Finale ist übervoll mit Ironie und doppeltem Sinn. Von nun an wurde Ironie zu einem essenziellen Teil in Schostakowitschs Musik, gerade in den Symphonien. Es ist kein Zufall, dass er genau zu dieser Zeit das erste seiner Streichquartette schrieb. Die intimere Welt der Kammermusik erlaubte ihm, zu experimentieren und Dinge auszudrücken, die er in den Symphonien nicht riskieren konnte.
Aus den Notizen des Komponisten selbst wissen wir, dass er kurz vor dem Zweiten Weltkrieg eine große „Lenin-Symphonie“ vorbereitete, mit Chören und nach dem Vorbild von Beethovens Neunter und mit Texten aus Majakowskis epischem Gedicht Lenin. Er schrieb sogar einem Magazin, dass er „eine Aufgabe mit größter Verantwortung“ begonnen hätte, „in Klängen das unsterbliche Bild Lenins festzuhalten“.[6] Aber die Symphonie wurde nie geschrieben. Den antikommunistischen Kritikern zufolge, weil Schostakowitsch „allergisch“ gegen das Schreiben von Musik über Lenin gewesen wäre. Das ist völlig falsch. Schostakowitsch war ein bitterer Gegner Stalins und allem, wofür er stand. Aber er blieb den Idealen des Sozialismus und der Oktoberrevolution treu.
Es gibt keinerlei Hinweis darauf, dass Schostakowitsch Stalin mit Lenin identifiziert hätte – die heute übliche Verleumdung der bürgerlichen Historiker, die um jeden Preis den Ruf der Bolschewiki in den Schmutz ziehen wollen, indem sie ihn mit den stalinistischen Verbrechen in Verbindung zu bringen versuchen. Diese Geschichtsfälscher „vergessen“ bequemerweise ein kleines Detail: dass, um sein bürokratisches Regime zu festigen, Stalin Lenins Partei zerstören und fast alle ihre Führer auslöschen musste. Der Grund, warum Schostakowitsch seine „Lenin-Symphonie“ nie schrieb, war der viel zu große Kontrast zwischen den Ideen Lenins und der Oktoberrevolution und der hässlichen Realität des Stalinismus. Die Bilder der anti-bolschewistischen Säuberungen waren noch zu frisch und zu schmerzhaft, um ihm das zu erlauben. Schostakowitsch war ein Mann mit Prinzipien, und Heuchelei war ihm völlig fremd.
Wie wir gesehen haben, umging Schostakowitsch das Problem in der Fünften Symphonie, indem er ein tragisches Werk mit einem pseudo-glücklichen Finale schrieb. Man kann sagen, dass alle seine Symphonien nach der Fünften (und inklusive der Fünften) in der einen oder andern Art eine Kritik des stalinistischen Regimes beinhalten. Als im November 1939 die Sechste Symphonie zusammen mit Prokofiews wundervoller Kantate Alexander Newsky aufgeführt wurde, war das Publikum enttäuscht. Sie suchten überall nach Spuren Lenins, aber da waren keine. Die Sechste ist ein seltsames Werk, sowohl in Form als auch Inhalt.
Sie beginnt mit einem langen und tragischen ersten Satz, in der der Komponist in den Abgrund starrt und die Hölle selbst beäugt. Es folgen kürzere und rätselhaftere Sätze voller dunkler und bedrohlicher Untertöne, in denen die ursprünglichen Widersprüche nicht gelöst werden. Im Gegenteil sind sie hier viel eklatanter und offener sichtbar als in fast allen anderen seiner Werke. Das Hauptmerkmal dieser Sätze ist beißender Sarkasmus – eine von Schostakowitschs Hauptwaffen. Es gibt hier keine Hinweise auf „Umkehr“, keine Zugeständnisse gegenüber dem „Sozialistischen Realismus“, nur offener Ungehorsam. Das war ganz sicher nicht, was die offiziellen Stellen im Sinn hatten, wenn sie von „eines Sowjetkünstlers Antwort auf gerechte Kritik“ sprachen. Aber gleichzeitig bereiteten sich dramatische Ereignisse auf der Welt vor, die alle derartigen Fragen in den Hintergrund rücken sollten.
Nach dem Albtraum der Säuberungen bereiteten sich neue und noch größere Schrecken für die Menschen der Sowjetunion vor. Stalins verbrecherische Politik vom „Sozialfaschismus“ führte zum Sieg Hitlers in Deutschland, der für die Sowjetunion eine tödliche Bedrohung darstellte. Der Verrat an der Spanischen Revolution beseitigte später noch das letzte Hindernis, das einem neuen Krieg in Europa im Weg stand. Stalins Versuch, einen Zusammenstoß mit Nazideutschland mit einem Pakt zu vermeiden, brach 1941 zusammen, als Hitler die Sowjetunion attackierte und der unvorbereiteten Roten Armee heftige Niederlagen bereitete. Als er vom Angriff hörte, glaubte Stalin zunächst nichts davon und befahl der Roten Armee, nicht zu kämpfen. Das Ergebnis waren am Boden zerstörte sowjetische Flieger und Millionen Soldaten der Roten Armee, die gefangen genommen wurden, ohne einen Schuss abgefeuert zu haben. Aus den Todeslagern der Nazis kamen die Wenigsten von ihnen lebend zurück.
Eines der fürchterlichsten und gleichzeitig inspirierendsten Ereignisse des Kriegs war die Belagerung Leningrads (heute Sankt Petersburg). Schostakowitsch blieb todesmutig in Leningrad, während viele Menschen verhungerten, erfroren oder unter den deutschen Bomben starben. Auch wenn er die Stadt hätte verlassen können, entschied er sich zu bleiben und das Schicksal seines Volks zu teilen. Er schloss sich auch der Feuerwehr an und wurde am Cover eines amerikanischen Magazins abgebildet, komplett mit Feuerwehrhelm. In dieser Zeit erreichte er mit der Siebenten Symphonie internationalen Ruhm (Spitzname Leningrad). Die ersten drei Sätze schrieb er in seiner belagerten Heimatsstadt. Nur als direkt aus Moskau der Befehl kam, Leningrad zu verlassen, stimmte er widerwillig zu.
Einige „schlaue“ Interpreten behaupten nach wie vor, die Siebte stelle eine Attacke auf den Stalinismus oder besser noch auf Totalitarismus im Generellen dar. Einige dieser Kommentatoren sagen sogar, dass Schostakowitsch einen deutschen Sieg befürwortet hätte! Zu solch absurden Schlussfolgerungen führt manche Menschen ihr fanatischer Antikommunismus. Nur schon die Idee, dass Schostakowitsch den Sieg Hitlers begrüßt hätte, ist eine skandalöse Beleidigung einem Mann gegenüber, der sein ganzes Leben progressive Ideale verteidigt hatte und ein überzeugter sowjetischer Patriot war, trotz all seines Hasses auf Stalin und die Bürokratie. Sofort nachdem er von Hitlers Angriff auf die Sowjetunion gehört hatte, meldete er sich freiwillig bei der Armee, wurde aber wegen seiner Kurzsichtigkeit abgelehnt. Er nahm aktiv an den sowjetischen Kriegsanstrengungen teil, diente als Brandschutzwart in der belagerten Stadt Leningrad und nahm an einer Radioübertragung an das sowjetische Volk teil. Im Oktober 1941 wurden der Komponist und seine Familie schlussendlich nach Kjubischew (heute Samara) evakuiert, wo die Siebte vollendet wurde.
Jeder, der Schostakowitsch bei seiner Rede gegen die Nazi-Aggression auf die Sowjetunion zuhört (im Film Sonate für Viola), kann keine Zweifel über seinen leidenschaftlichen Hass gegen den Nationalsozialismus und seine Entschlossenheit bei der Verteidigung seines Heimatlandes und dessen Einwohner vor Hitlers Barbarei mehr haben. Das ist der zentrale Sinn dieser hervorragenden Symphonie. Schostakowitsch drückte seine innersten Gefühle über den Krieg aus. Er sagte: „Die Musik quoll aus mir heraus. Ich konnte sie nicht zurückhalten“. Er arbeitete fieberhaft an der Vollendung der Symphonie, schrieb Tag und Nacht und verließ seinen Schreibtisch selbst bei Luftangriffen nicht. Außer dem letzten Satz schrieb er alles in der belagerten Stadt und es ist ein bewegendes Abbild der Leiden und des Heldenmuts der Menschen Leningrads und der gesamten Sowjetunion.
Der erste Satz der Symphonie enthält eine berühmte Passage, in der ein marschähnliches Thema fortlaufend wiederholt und dabei lauter wird, vergleichbar mit Ravels Bolero. Von dem Thema sagt man, es repräsentiere die herannahenden Truppen der Nazi-Armee. Es hat einen sehr banalen Charakter, was die geistige Leere und den Stumpfsinn des Faschismus widerspiegelt. Das kraftvolle Finale ist von einer Art Kampf gegen übermenschliche Kräfte durchzogen, in dem der menschliche Geist schlussendlich gegen Tyrannei und Barbarismus siegt. Es werden häufig die vier Noten zitiert, die im Morsecode den Buchstaben „v“ für „victory“ ergeben und zufälligerweise auch von Beethoven im berühmten ersten Satz der Fünften Symphonie gebraucht werden.
Schostakowitschs Siebte erlangte sofortigen Ruhm nicht nur in der Sowjetunion, sondern international (die US-Erstaufführung wurde vom großen Arturo Toscanini dirigiert) und wurde zum Symbol des heroischen Widerstands des sowjetischen Volks gegen die Nazibarbarei. Aber für Schostakowitsch war sie viel mehr als das. Er betitelte den letzten Satz: Sieg und das schöne Leben der Zukunft. Dank der übermenschlichen Anstrengungen des sowjetischen Volks (was in dieser Musik getreu dargestellt ist) und der Überlegenheit der verstaatlichten Planwirtschaft war die UdSSR tatsächlich siegreich. Aber die Hoffnungen des Komponisten, dass das ein schöneres Leben in der Zukunft bedeuten würde, wurden schon bald zertrümmert.
Die Nachkriegszeit
Während dem Krieg war Stalin gezwungen, den Würgegriff auf die sowjetische Gesellschaft zumindest teilweise zu lockern. Während der Säuberungen verhaftete Offiziere der Roten Armee wurden schnell freigelassen und mit Frontkommandos versehen, wo sie mit besonderer Tapferkeit dienten. Als die Rote Armee die Deutschen immer weiter zurückdrängte, das Blatt sich wendete und sie ins Herz Europas vorstieß, herrschte eine Stimmung des Optimismus vor, dass die Dinge nun nach dem Krieg besser werden würden. Aber die Illusionen sollten nicht von Dauer sein.
Im Frühjahr 1943 zog Schostakowitsch mit seiner Familie nach Moskau. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich das Blatt bereits gewendet und die Rote Armee rückte an allen Fronten vor. Stalin verlangte von den Komponisten heroische, patriotische Musik, die zum Kämpfen inspirieren sollte. Aber Schostakowitschs neue Symphonie (die Achte) glich der Siebten überhaupt nicht, die den heroischen (und letztlich siegreichen) Kampf gegen alle Widrigkeiten schildert. Die Achte Symphonie ist im Gegenteil ein äußerst düsteres Werk. Sie gleicht der weiten russischen Landschaft, vom Krieg verwüstet – und nicht nur vom Krieg.
Dieses sehr lange Werk steigert sich immer weiter zu einem erschütternden Höhepunkt, der einem Protestschrei gleicht, der unvorstellbaren Schmerz und Trauer zum Ausdruck bringt. Es war nicht das, was die offiziellen Stellen hören wollten. Worum geht es in diesem Werk wirklich? Die Hauptthemen sind eine Mischung düsterer Tragik mit brutalen Kämpfen. Das schnelle und heftige Scherzo wird von manchen als Porträt Stalins gesehen. Das ist möglich. Das Werk war jedenfalls eine Kampfansage an die Machthaber und wurde auch als solche verstanden. Die Symphonie wurde bis 1960 verboten. Ihr folgte die Neunte (1945) – ein neuerliches Werk offenen Ungehorsams. Stalin und die Bürokratie hatten sich triumphale Musik erwartet, eine Siegeshymne.
Sie waren auf etwas völlig anderes eingestellt. Sie hatten Schostakowitsch sogar nahegelegt, ein umfangreiches Orchester und einen großen Chor zu verwenden. Stattdessen hat er mit 25 Minuten die kürzeste all seiner Symphonien komponiert (die Siebte und die Achte dauern jeweils über eine Stunde). Sie ist von der ersten bis zur letzten Note ein Werk voller Ironie. Die Neunte ist abwechselnd komisch, ironisch und sogar trivial. Im ersten Satz fühlt man sich an einen frechen kleinen Jungen erinnert, der den Mächtigen eine Nase dreht. Der langsame Satz allerdings ist voller Angstzustände, während die restlichen Sätze düster, unheimlichen oder sogar diabolischen Charakter tragen. Der letzte Satz gleicht dröhnendem Gelächter, wie um zu sagen: Was kümmert mich dieser ganze aufgeblasene Blödsinn? Das Ergebnis war vorhersehbar.
In den trostlosen Jahren nach dem Kriegsende entschied sich Stalin, erneut hart durchzugreifen. Im Bereich der Kunst bediente er sich den Diensten des berüchtigten Schdanow, der einen brutalen Angriff gegen alle Künstler, Schriftsteller und Komponisten startete, die keine ergebenen Lakaien des Regimes waren. Unter den prominentesten Opfern dieser Kampagne waren die zwei herausragendsten Komponisten der Sowjetunion, Prokofjew und Schostakowitsch. Schostakowitsch wurde 1948 wieder des „Formalismus“ bezichtigt. Wie ein hungriges Wolfsrudel fiel sofort eine Armee aus Schurken, drittklassigen Komponisten, kriecherischen Funktionären aus dem Komponistenverband, Kritikern und sonstigen Mitläufern aller Art über die Opfer von Schdanows Kampagne her, als würden sie ein wehrloses Tier zerfleischen.
Nach den Resolutionen des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei vom 10. Februar wurden sofort zahlreiche Tagungen abgehalten (einige davon über Wochen), Kundgebungen organisiert und Pressebeiträge veröffentlicht, alles, um die „antinationale, formalistische Richtung in der Musik“ zu verurteilen. Schostakowitsch musste stillhalten, während er mit Dreck beworfen wurde. Sie nannten ihn einen Komponisten mit „unterentwickeltem Sinn fürs Melodische“, den Schöpfer „widerlicher“ Musik, „kakophon“, „verkopft“.
Der Kritiker Afanassiew[7] beschrieb die Neunte Symphonie als „ein gedanken- und formloses Werk, unserer sowjetischen Musik unwürdig“. Der Komponist Sacharow, dessen Werke heute kein Mensch mehr kennt, war der Meinung, es brauche ergreifende, patriotische Musik für den Wiederaufbau und wollte wissen, inwiefern Schostakowitschs Musik dazu beitrage. Vergeblich versuchte der Komponist zu verteidigen, dass alle seine Werke im Gedanken geschaffen worden seien, die Gefühle des sowjetischen Volkes auszudrücken. Das war nicht die Antwort, die seine Kritiker erwartet hatten. Das Magazin Kultura i Schisn (Kultur und Leben) behauptete, Schostakowitsch sei unfähig, den Geist des sowjetischen Volks wiederzugeben. Tatsächlich war aber das Ziel des „Sozialistischen Realismus“ gar nicht, die realen Gefühle der realen sowjetischen Arbeiterklasse auszudrücken, sondern vielmehr die Befehle der herrschenden bürokratischen Kaste zu erfüllen. Das Problem mit Schostakowitschs Musik war nicht, dass er die realen Gefühle des sowjetischen Volks nicht ausdrücken konnte, sondern dass er sie im Gegenteil viel zu gut ausdrückte.
Schostakowitsch wurde von seinem Posten am Moskauer Konservatorium entlassen. Die meisten seiner Werke wurden verboten, er wurde gezwungen, öffentlich Reue zu zeigen und seiner Familie wurden Privilegien entzogen. In dieser Zeit „wartete er nachts im Flur beim Lift auf die Verhaftung, um zumindest seine Familie nicht zu stören“, erinnerte sich Juri Ljubimow. Schostakowitsch schrieb weiter Kammermusik, aber bis zur großartigen Zehnten entstand keine Symphonie mehr. Die Zehnte schrieb er 1953, in Stalins Todesjahr.
Nach Schdanows Attacke war Schostakowitsch gezwungen, sich aus dem öffentlichen Rampenlicht zurückzuziehen. Er schrieb keine Symphonien mehr. Seine Komposition teilten sich auf in Filmmusik (um die Rechnungen zahlen zu können) und „offizielle“ Werke (um seine Rehabilitierung zu sichern). In den kommenden Jahren sollten alle ernsthaften Werke in der Schublade auf bessere Zeiten warten, darunter so wichtige Stücke wie das Erste Violinkonzert. Trotz Schdanows Ächtung wurden einige Filmmusiken positiv bewertet, darunter Die junge Garde und Fünf Tage und Fünf Nächte – der letztere Film handelte von Dresden nach dem Krieg. Schostakowitsch zitiert darin die Ode an die Freude aus Beethovens Neunter Symphonie. Sogar in diesem zweitrangigen Werk leuchtet Schostakowitschs Humanismus durch all das Leid des Krieges hindurch.
Die Einschränkungen von Schostakowitschs Musik und Lebensbedingungen wurden 1949 teilweise gelockert, um seine Teilnahme an einer sowjetischen Delegation in die USA sicherzustellen. Der Kalte Krieg war bereits in vollem Gange und die sowjetischen Behörden wollten der Welt unbedingt die Überlegenheit der UdSSR auf dem Gebiet der Kunst beweisen. Falls Schostakowitsch so vehement antisowjetisch gewesen wäre, wie manche behaupten, wäre hier die ideale Gelegenheit gewesen überzulaufen. Aber sein ganzes Leben über zeigte Schostakowitsch kein Interesse daran zu emigrieren. Auch finden wir keine Befürwortung für den kapitalistischen Lebensstil. Er zeigte lebhaftes Interesse an der Musik westlicher Komponisten wie Britten und Hindemith, aber diese natürliche Affinität zur Musik seiner Kollegen war das höchste Maß seiner Interessen am Westen.
Die rabiaten antikommunistischen Kritiker Schostakowitschs betonen, dass er gezwungen war, dem Regime gegenüber Zugeständnisse zu machen – um überleben zu können und sich eine Scheibe Brot zu verdienen. In Wirklichkeit war aber wohl der Fakt, dass Stalin seine Filmmusik mochte, der einzige Grund, warum er nicht im Gulag verschwand – bei seiner schlechten Gesundheit wäre er da wohl auch nicht mehr herausgekommen. Der “Vater der Nationen“ war ein begeisterter Filmliebhaber und sah sich regelmäßig Filme in seinem privaten Kino im Kreml an. Vor allem mochte er Filme, in denen er eine führende Rolle hatte – auch, wenn diese in keinerlei Zusammenhang mit den historischen Tatsachen stand. Er brauchte einen guten Komponisten für die Musik dieser Filme, und Schostakowitsch war der beste Kandidat für den Job.
Schostakowitsch schrieb die Musik zu mehreren Filmen, die Stalin in bestem Licht zeigen. Die Kantate Lied der Wälder pries Stalin als den „großen Gärtner“. Im Film Das unvergessliche Jahr 1919, zu dem Schostakowitsch die Musik schrieb, wird Stalin als Anführer der Roten Armee im Bürgerkrieg dargestellt, auch wenn in Wirklichkeit Trotzki an der Spitze der Roten Armee stand. Es besteht kein Zweifel, dass der Komponist beim Schreiben sich wohl die Nase zuhalten musste. Er hatte aber keine Alternative, wenn er überleben wollte. Stalins gehässige Art (die auch von Lenin in seinem Testament kommentiert wird) zeigte sich darin, wie er die Familien jener behandelte, die er als Feinde betrachtete. Prokofjews Frau wurde ins Gefängnis gesteckt, nachdem ihr Mann von Schdanow denunziert worden war.
Man darf nicht vergessen, dass Schostakowitsch Komponist war und kein politischer Aktivist – wenn auch ein Komponist mit tiefem Gerechtigkeitssinn und sozialem Gewissen, was ihn die wichtigsten Probleme seiner Zeit in tief empfundener und eindrucksvoller Musik ausdrücken ließ. Trotz seines scheuen und zurückgezogenen Wesens zeigte er enormen persönlichen Mut und Größe in seinem Kampf gegen das Stalinregime, während er gleichzeitig neue Höhen in der Musik des 20. Jahrhundert erreichte und das nicht nur in der Sowjetunion, sondern weltweit. Aber es gab Zeiten, da sich dieser einsame Kampf als zu groß erwies und Schostakowitsch den taktischen Rückzug antreten musste.
Marina Sabinina[8] lehnt die „unecht-patriotischen“ Chorwerke ab, sie hätten „sehr wenig mit seinem wirklichen Stil gemeinsam“, und beschreibt die Partituren für solche „abstoßenden, scheinheiligen Filme wie Das unvergessliche Jahr 1919, Der Fall Berlins und Das Treffen an der Elbe“ als „Kompromisse, die ihn als Künstler abstießen und bitter und demütigend für ihn waren“. Sie fügt hinzu, dass er diese Sachen schreiben musste, weil er zu jener Zeit kein Einkommen hatte – wenn es ihn auch schmerzte. Sabinina gestand, dass sie „ganze Abschnitte“ ihres Buchs über Schostakowitschs Symphonien (1976) rausnehmen musste, um es zur Veröffentlichung zu bringen: „Ich hätte gerne wahrheitsgemäß die Tragödie dieses Genies gezeigt, das Verfolgungen von groben, ungehobelten Niemanden erleiden musste, die versuchten, auf ihm herumzutrampeln und ihn zu brechen; das Genie, das sich das Recht, er selbst zu sein, mit gewissen Zugeständnissen erkaufen musste“.
Der sowjetische Komponist Rodion Schtschedrin schrieb im Magazin Gramophone: „Ihr im Westen habt manchmal einen naiven Blickwinkel. Ihr denkt in Schwarz und Weiß. Die Beziehungen zu den Machthabern waren immer komplex, für Schostakowisch, Prokofjew und auch Andere. Ich erinnere mich beispielsweise, in einer Aufführung von Prokofjews Sdrawiza („Heil Stalin“[9]) gespielt zu haben. Aber würdet ihr keine Kompromisse eingehen, wenn ihr eine Familie zu schützen hättet?“
Die Anschuldigungen der reaktionären Antikommunisten, die Schostakowitsch hierfür verurteilen, sind unbegründet und böswillig. Wenn sogar ein Mann wie Christian Rakowski, ein verdienter Veteran der revolutionären Bewegung mit tiefgehendem Verständnis für den Marxismus, unter unerträglichem Druck vor Stalin kapitulierte, wie kann man dann von einem Mann wie Schostakowitsch erwarten, diesem immensen Druck des repressiven stalinistischen Apparats standzuhalten? Schostakowitsch beugte sich unter dem Druck, wurde aber nie gebrochen. Er blieb sich selbst treu und dem Stalinismus bis ans Ende seiner Tage unversöhnlich feindlich gesinnt.
Bedeutet das also, dass Schostakowitsch ein prokapitalistischer Gegner des Sozialismus war, wie es andere Schulen in der westlichen Musikwissenschaft behaupten? Für diese Ansicht gibt es nicht den geringsten Ansatzpunkt. Schostakowitsch war weder ein verkappter Stalinist noch ein antisowjetischer Konterrevolutionär vom Typ Solschenizyn. Er war ein loyaler Unterstützer der sozialistischen Ideale der Oktoberrevolution, sah aber den offenen Widerspruch dieser Ideale mit ihrer bürokratischen Karikatur im Stalinismus. Das beendete aber nicht seinen einsamen Kampf gegen die Bürokratie. Er begann im Mai 1948 heimlich an einer Kantate mit dem Namen Rajok zu arbeiten. Das Werk war eine beißende Satire auf den „musikalischen Aktivismus“ des Zentralkomitees der KPdSU und blieb bis über den Tod des Komponisten im Jahre 1975 hinaus ein wohlgehütetes Geheimnis.
Schostakowitschs Kampf gegen den Antisemitismus
Antisemitismus spielte in jeder Phase der politischen Konterrevolution des Stalinismus eine wichtige Rolle. Wie schon zur Zeit des Zarenreichs war der Antisemitismus ein nützliches Mittel, um die Massen von ihren drängendsten Problemen abzulenken. Obwohl Stalin paradoxerweise die Gründung Israels unterstützte, um den britischen Imperialismus im Nahen Osten zu schwächen, benutzte er den Antisemitismus als Vorwand für eine neue Säuberungswelle nach dem Krieg. Die Kampagne gegen die sogenannten „wurzellosen Kosmopoliten“ (also Juden) kulminierte in der berüchtigten Ärzteverschwörung. Stalins Leibärzten (jüdischer Abstammung) wurde ein geplanter Vergiftungsversuch vorgeworfen. Sie wurden verhaftet und gefoltert, um Geständnisse zu erzwingen. Diese Geständnisse wurden dann benutzt, um anderen Personen in die „Verschwörung“ zu verwickeln und so weiter.
Die Oktoberrevolution befreite all die unter dem Zarismus unterdrückten Nationen (Lenin nannte es das „Gefängnis der Völker“), darunter die Juden, denen volle politische und soziale Gleichheit garantiert wurde. All die alten erniedrigenden Beschränkungen wurden aufgehoben. Unter Stalin kam aber der russische Chauvinismus wieder auf, und mit ihm der ganze alte antisemitische Dreck. Auch wenn das nicht offen zum Ausdruck gebracht werden konnte (das Erbe des proletarischen Internationalismus der Oktoberrevolution war noch im Gedächtnis), war der Antisemitismus als Unterton stets vorhanden, der von Zeit zu Zeit als Instrument eingesetzt wurde, das es der Bürokratie erleichterte, die Aufmerksamkeit der Massen von ihren wirklichen Problemen wegzulenken.
Nach der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Pakts versuchte die russische Bürokratie gute Beziehungen mit dem Naziregime in Berlin zu etablieren. Als Teil dieser Politik wurden prominente jüdische Staatsbeamte aus ihren Ämtern entfernt. Außenminister Litwinow, jüdischer Herkunft und mit der Annäherung an Großbritannien und Frankreich gegen Nazideutschland sympathisierend, wurde durch den Russen Molotow ersetzt. Es wurde sogar die Order an die Wachkräfte der Gulags ausgegeben, das Wort Faschist nicht als Schimpfwort den Häftlingen gegenüber zu gebrauchen. Stalin lieferte sogar deutsche antifaschistische Flüchtlinge in Russland an Hitler aus.
In den Memoiren Schostakowitschs von Solomon Volkow wird erwähnt, dass in dieser Periode die Werke Wagners erstmals im Bolschoitheater aufgeführt wurden, beginnend mit Die Walküre. Der Regisseur war kein anderer als Sergej Eisenstein, der einen jüdischen Kollegen zur Teilnahme an der Produktion einlud. Dieser antwortete: „Verstehst du nicht, was das bedeutet? Ich kann an der Produktion nicht teilnehmen, weil ich Jude bin.“ Eisenstein glaubte das nicht. Doch es sollte sich bewahrheiten. Die Oper wurde ohne Juden, aber in Anwesenheit des nationalsozialistischen Botschafters aufgeführt.
Zu dieser Zeit schrieb Schostakowitsch seinen meisterhaften und bewegenden Zyklus Aus der jüdischen Volkspoesie. In Verkennung der Sachlage haben rechtsgerichtete Kritiker wie Fay argumentiert, dass das nur der Versuch des Komponisten war, sich mit den Machthabern zu arrangieren, indem er im Stile der Volksmusik schrieb. Aber Schostakowitsch hätte jede andere Volksmusik wählen können – russisch, georgisch, armenisch, usbekisch oder kalmykisch – er wählte aber gerade jüdische Musik und Gedichte, die das Leiden des jüdischen Volkes unter dem russischen Zarismus behandeln.[10]
Fay argumentiert, dass das Werk im Oktober 1948 fertiggestellt wurde und Stalins Kampagne gegen jüdische Institutionen erst im Dezember (in ihren Worten) ein „Momentum gewonnen“ hatte. Daher könne das Werk nicht als Protest gegen Antisemitismus gelten. Doch der Antisemitismus war keine neue Idee, die sich der Kreml über Nacht ausgedacht hatte. Schon während des Kampfs gegen Trotzki und die Linke Opposition in den späten zwanziger Jahren verwendete Stalin antisemitische Vorurteile. Er verbreitete die Geschichte herumgehen, dass „die Juden im Zentralkomitee Ärger machen würden“.
Schostakowitsch war sehr an jüdischer Musik interessiert, die regelmäßig in seinen Werken vorkommt. Aber der Zeitpunkt des Zyklus war wichtig. War Schostakowitsch so ein Dummkopf, dass er nicht realisierte was für ein schwieriges Terrain er betrat? Keineswegs, er wusste das sehr genau, weil er enge Bekannte unter den Opfern der antisemitischen Kampagne hatte. Das Thema Antisemitismus berührte ihn sehr tief und es taucht in seinem Werk immer wieder auf. Das berühmteste Beispiel ist die Dreizehnte Symphonie (Babi Jar), die eine gezielte Attacke auf den russischen Antisemitismus darstellt.
Schostakowitsch hasste Tyrannei im Allgemeinen und die Unterdrückung von Wehrlosen im Speziellen. Als es in den frühen 1960ern zu einem neuerlichen Ausbruch des Antisemitismus in der UdSSR kam, schrieb der radikale Dichter Jewgeni Jewtuschenko ein Gedicht in Protest dagegen – Babi Jar. Es enthält einen erschütternden Bericht über die Gräueltaten, die gegen die Juden in Russland und der Ukraine im Laufe der Geschichte verübt wurden. Der Dichter betont, wie sehr er sich dafür schämt, Russe zu sein. Schlussendlich sagt er: „Ich bin Russe. In meinen Venen fließt kein Tropfen jüdisches Blut, aber angesichts all dessen bin ich ein Jude.“[11] Schostakowitsch legte diese Verse seiner Dreizehnten Symphonie zugrunde, die ein klarer Protest gegen Stalinismus und Antisemitismus ist.
Der „Vater der Nationen“ zeigte nun alle Anzeichen pathologischer Paranoia. Er war gegenüber allen krankhaft misstrauisch, sogar gegenüber seinem engsten Kreis. Der damals zu diesem Kreis gehörende Chruschtschow erinnerte sich später, dass es ausreichte, von Stalin mit den Worten „Deine Augen weiche heute aus“ bedacht zu werden, um unter Verdacht zu geraten. Er beschuldigte seinen alten Kumpanen Kaganowitsch, ein britischer Spion zu sein und sandte die jüdische Frau seines treuen Lakaien Molotow ins Arbeitslager.
1953 wurde klar, dass Stalin mithilfe seines neuen Handlangers Beria, dem Chef der Geheimpolizei, eine neue Säuberungswelle vorbereitete, die die komplette Führungsriege in Partei und Staat hätte liquidieren können. Das hätte die UdSSR in eine tiefe Krise gestürzt, gerade als das Land noch mit den schrecklichen Verwüstungen des Kriegs kämpfte, der 27 Millionen sowjetische Leben kostete, und ein bitterer Kampf mit dem US-Imperialismus bereits Form angenommen hatte. Die besagte Führungsclique unternahm daher die notwendigen Schritte, um ihr eigenes Leben zu retten und beseitigte die Gefahrenquelle – Stalin wurde entweder vergiftet oder seine Genossen entledigten sich seiner anderweitig.
1953 gab es auch eine Reihe von Uraufführungen von Schostakowitschs Werken, die er jahrelang zurückgehalten hatte. Das war der Moment, auf den er gewartet hatte. Er feierte den Tod des Tyrannen, wie nur er es konnte. Die Zehnte Symphonie enthält eine Reihe an Zitaten und Codes, darunter einen Bezug zu Elmira Nasirowa, einer Studentin, in die er sich möglicherweise verliebt hatte. Aber das wichtigste Motiv ist dasjenige, das auf den Noten D-Es-C-H basiert – sein eigener Name in Musik buchstabiert. Das ist nicht das einzige Stück, das Schostakowitsch musikalisch „signiert“ hat (das Achte Streichquartett ist ein weiteres bemerkenswertes Beispiel). Doch es ist mit Sicherheit das Bedeutendste.
Die Zehnte ist sicherlich Schostakowitschs größte Symphonie, neben der Fünften. Der stürmische und wilde zweite Satz wird als musikalisches Porträt Stalins angesehen. Am Schluss wiederholt das Orchester das D-Es-C-H-Thema triumphierend und eindringlich. Etwa in der Hälfte des letzten Satzes zitiert Schostakowitsch das Stalin-Thema und durchschneidet es mit dem D-Es-C-H-Thema. Es ist, als würde man Schostakowitsch schreien hören: das Monster Stalin ist tot, aber ich bin immer noch hier, ich schreibe immer noch meine Musik, und ich verkünde immer noch die Wahrheit! Es ist einer der inspirierendsten und bewegendsten Momente im gesamten Werk Schostakowitschs.
Nikita Chruschtschow versuchte ab dem 20. Parteitag der KPdSU 1956 einen Weg aus der Sackgasse der bürokratischen Kontrolle und Verwaltung der verstaatlichten Planwirtschaft zu finden, nämlich durch Reformen von oben. Lange zuvor hob Alexis de Tocqueville hervor, dass der gefährlichste Moment für ein despotisches Regime genau dann ist, wenn es sich selbst zu reformieren versucht. Nur Monate nach der Geheimrede Chruschtschows am 20. Parteitag, als er Stalins Verbrechen bloßstellte, erhoben sich die ungarischen Arbeiter mit der Waffe in der Hand gegen die sowjetische und stalinistische Herrschaft. Die ungarische Revolution wurde in Blut ertränkt, obwohl die ungarischen Arbeiter zwei Generalstreiks und zwei Aufstände durchführten, jeweils vor und nach der russischen Militärintervention.
Die Elfte Symphonie
Die Elfte Symphonie ist ein episches Werk. Sie dauert über eine Stunde und benötigt ein sehr großes Orchester. Schostakowitsch schrieb sie 1957, einige Monate nach der Niederschlagung der ungarischen Revolution. Der Zeitpunkt ist sehr bedeutsam. 1957 war der vierzigste Jahrestag der Revolution von 1917, d.h. die naheliegende Wahl eines Themas für eine Symphonie wäre die Oktoberrevolution gewesen, nicht diejenige von 1905. Offiziell dem Gedenken an die Niederschlagung der Russischen Revolution von 1905 gewidmet, wurde die Elfte Symphonie insgeheim als Protest gegen die Niederschlagung der ungarischen Revolution interpretiert. Schostakowitsch bestritt das bei jeder Gelegenheit, aber das machte nichts. Sein Publikum stellte sich diese Frage nie.
Formal basiert die Symphonie auf den Ereignissen des Blutsonntags zu Beginn der Ersten Russischen Revolution am 9. Jänner 1905, als von zaristischer Polizei und Kosaken das Feuer auf eine unbewaffnete Arbeiterdemonstration eröffnet wurde, wobei eine große Zahl der Demonstranten getötet wurde. Das ganze Werk basiert auf russischen revolutionären Liedern, davon einige aus dem neunzehnten Jahrhundert. Diese mussten einem sowjetischen Publikum wohlbekannt gewesen sein, einem westlichen hingegen nicht. Ich war einmal bei einem Konzert im Londoner Southbank Centre, als die Symphonie aufgeführt wurde. Es hinterließ einen tiefen Eindruck auf das überwiegend aus der Mittelschicht stammende Publikum, von dem die meisten wohl die Konservativen gewählt hatten. Wie viele von ihnen realisierten, dass das großartige Thema des langsamen Satzes in Wirklichkeit die Melodie von Unsterbliche Opfer war, des alten Liedes, das immer am Grab toter Revolutionäre gesungen wurde? Vermutlich niemand.
Der erste Satz trägt den Titel Der Palastplatz und beschreibt mit gewaltiger Energie die gespannte Atmosphäre am Abend des Blutsonntags. Es ist Nacht, und der eisige Wind fegt über den schneebedeckten Platz. Das steht symbolhaft für eine tyrannische Gesellschaft in der, oberflächlich, alles festgefroren ist wie Permafrost. Unter der Oberfläche aber brodelt der Unmut. Das zentrale Thema ist ein altes revolutionäres Gefangenenlied aus dem neunzehnten Jahrhundert mit dem Titel Hört! (Sluschai!), das folgende mächtige Zeilen enthält:
„Wie der Verrat, wie des Tyrannen Gewissen, die Nacht ist schwarz.“
Das Thema von Hört! wird immer wieder wiederholt. Das nächste Thema, Der Gefangene, wird von den Kontrabässen eingeführt. Das Gedicht beinhaltet die Worte:
„Die Wände des Kerkers sind stark; die Tore sind verschlossen mit zwei eisernen Schlössern…“
Auch das ist eine Allegorie. Im zaristischen Russland – und auch im stalinistischen Russland – glich die Gesellschaft einem gigantischen Gefängnis. Die schwarze Nacht ist die lange Nacht der willkürlichen und despotischen Herrschaft. Die bedrohliche Atmosphäre wird durch wiederkehrende Trommelwirbel und Trompetensignale verstärkt, die an die Symphonien Mahlers erinnern. Eine Stimmung unerträglicher Spannung wird geschaffen.
Der zweite Satz ist mit Der neunte Januar betitelt. Der Beginn kann nur mit einem Stöhnen verglichen werden, das aus den Tiefen des Volkes kommt. Das Thema transportiert das unfassbare Leiden der Massen, es wird beharrlich wiederholt. Das erste Thema drückt das Bitten des Volks an den Zaren aus. Es ist der musikalische Ausdruck der Petition, die von den Demonstranten dem Zaren vorgetragen wurde (Goy ty, Zar nasch, batyuschka), die wie folgt beginnt: „Oh Zar, unser guter Vater, sieh dich um! Siehst du nicht, dass unser Leben unerträglich geworden ist wegen der Diener des Zaren?“
Das Thema, das fast wie ein Flüstern beginnt, wird immer lauter, heftiger und bedrohlicher, wie eine gewaltige Flutwelle – die Volkswut, die schlussendlich an den Mauern staatlicher Gewalt zerschellt. Das zweite Lied heißt Entblößt eure Häupter! (Obnaschitje golowy!).[12] Die Musik steigert sich zu einem gewaltigen Höhepunkt. Das ist eine Vergegenwärtigung der Massen, „den Himmel stürmend“, um Marx‘ Beschreibung der Pariser Kommune zu verwenden. Die Musik zieht sich dann in eine angespannte Stille, die Ruhe vor dem Sturm zurück. Wir kehren kurzzeitig zum Thema des ersten Satzes zurück, das den Palastplatz beschreibt, wo die Polizei und die Kosaken mit gezückten Gewehr und aufgepflanzten Bajonetten warten.
Die Szene des Massakers muss einer der gewalttätigsten Abschnitte der gesamten Musikgeschichte sein. Nachdem die Seitentrommeln das Rattern eines Maschinengewehrs imitieren, explodiert das Orchester in niederschmetterndem Dröhnen. Dann herrscht plötzlich völlige Stille. Wir kehren wieder zu den dunklen Themen aus dem ersten Satz zurück. Der Palastplatz ist wieder still und eisig, und die Nacht umgibt den Platz. Aber der Schnee ist jetzt rot von Blut.
Der großartige und bewegende dritte Satz ist ein Requiem für die Gefallenen, Unsterbliche Opfer. Er basiert auf dem bereits erwähnten alten Revolutionslied (Wy schertwoju pali). Der Text lautet: „Du bist gefallen als Opfer im schicksalsreichen Kampf mit selbstloser Liebe für das Volk.“ Der Satz erreicht seinen Höhepunkt, er erinnert an das blutige Massaker vom 9. Jänner. Es ist, als würde das Volk schwören, ihre gefallenen Genossen zu rächen. Der Satz kehrt dann zur traurigen Feierlichkeit des Trauermarschs zurück.
Der letzte Satz trägt den Titel: Sturmgeläut. Und genau das ist es: ein Ruf zu den Waffen. Der Satz beginnt mit dem revolutionären Lied: Wütet nur, Henker! (Besnujtjes, Tyrany!). Übersetzt lautet der Text:
Wütet nur, Tyrannen! Spottet nur!
Wenn ihr auch unsre Körper zertrampelt
Im Geist sind wir stärker.
Schämt, schämt, schämt euch, Tyrannen![13]
Später wird das mit anderen revolutionären Liedern vermischt, darunter die berühmte Warschawjanka. Dachte Schostakowitsch an seinen eigenen polnischen Großvater, der wegen seiner Teilnahme am Aufstand von 1863 ins sibirische Exil verbannt wurde? Es scheint sehr wahrscheinlich, dass er diesen Zusammenhang hergestellt hat – gerade auch im Licht des jüngsten Ungarnaufstands. Die Warschawianka wurde jedenfalls von den russischen Arbeitern als eines ihrer eigenen revolutionären Lieder aufgenommen und war 1905 so populär wie die Arbeiter-Marseillaise. Von Russland aus gelangte sie in andere Länder, insbesondere nach Spanien, wo sie unter dem Titel A las Barricadas zur Hymne der Anarchisten wurde. Im Englischen ist sie als Whirlwinds of Danger bekannt. Der Text lautet:
Feindliche Stürme durchtoben die Lüfte,
wir sind nun im schicksalshaften Kampf mit dem Feinde.
Unser Schicksal ist immer noch unbekannt.[14]
Später wird das Thema von Wütet nur, Henker! wiederholt, aber langsamer und mit größerer Kraft und Entschlossenheit, wie ein unaufhaltsamer Marsch. Das ist das Wiedererwachen der Revolution. Es gipfelt in einer wütenden Explosion, wenn die Röhrenglocken das Sturmgeläut der Revolte erklingen lassen. Kurz vorher wird eine Folge von fünf Tönen wiederholt angeschlagen. Das sind die letzten Zeilen des Lieds, das den Satz eröffnet: Wütet nur, Henker! Im Russischen lauten diese Worte „Smertj wam tyrannij!“ – Tod den Tyrannen! Schostakowitschs Botschaft hätte einem sowjetischen Publikum, das das Lied (und auch seinen Text) kannte, wohl kaum klarer sein können.
Einige westliche Kritiker Schostakowitschs, die den Komponisten unbedingt als folgsamen Diener des Regimes darstellen wollen, haben versucht Zweifel daran zu sähen, dass die Elfte Symphonie wirklich mit den Ereignissen des Ungarnaufstands im Oktober 1956 verknüpft gewesen wäre. Die einzige Aussage, die Wolkow in seinem Buch Zeugenaussage Schostakowitsch im Zusammenhang mit der Symphonie zuschreibt, ist die Bemerkung, dass das Werk mit Ereignissen zu tun hat, die sich in der russischen Geschichte wiederholen, und dass „es sich mit aktuellen Themen beschäftigt, auch wenn es den Namen ‚1905‘ trägt. Es handelt von den Menschen, die aufgehört haben zu glauben, weil das Böse zu gegenwärtig geworden ist.“
Sein Sohn Maxim hatte jedoch keinerlei Zweifel. Beunruhigt über das Werk seines Vaters, flüsterte er ihm ins Ohr: „Papa, was, wenn sie dich dafür hängen?“ Von Margarite Mazo im DSCH Journal 12 interviewt, bestätigt Irina Schostakowitsch diese Interpretation: „Die Elfte Symphonie wurde 1957 geschrieben, als diese Ereignisse [die Folgen des Ungarnaufstands von 1956] stattfanden. Die Ereignisse wurden von jedem mit großer Sorge verfolgt. Es gibt keine direkten Bezüge zu 1956 in der Symphonie, aber Schostakowitsch hatte sie im Sinn.“
Die Zwölfte Symphonie mit dem Untertitel Oktober, geschrieben von 1959 bis 1961, ist als Fortsetzung der Elften gedacht. Sie überzeugt jedoch nicht ganz. Erhaben in ihrer Konzeption mangelte es ihr auch nicht an schönen Melodien (Schostakowitsch war nicht in der Lage, eine schlechte Symphonie zu schreiben). Doch man vermisst das leidenschaftliche Feuer, das jeden Takt der Elften durchdringt. Sie ist eindeutig nicht aus einem tiefen inneren Drang heraus entstanden wie die Elfte. Und doch ist sie ein Werk mit einer Botschaft.
Die Sätze dieser Symphonie enthalten, wie die ihrer Vorgängerin, ein „Programm“. Das wird aus den Überschriften der einzelnen Sätze deutlich:
Das Ende der Elften suggeriert einen unvollendeten Kampf. Der Ruf zu den Waffen am Ende des Werks deutet eindeutig auf die Fortsetzung in der Zwölften Symphonie, wie die erfolglose Revolution von 1905 der Bolschewistischen Revolution von 1917 den Weg ebnete. Wieso also enttäuscht die Zwölfte im Vergleich zur Elften? Die Antwort liegt darin, dass Schostakowitsch die Erfüllung seines Traums einer neuen und besseren Welt – eine genuin sozialistische Gesellschaft – zu seinen Lebzeiten außer Reichweite sah. Im Gegenteil blieb die Bürokratie auch nach den Enthüllungen des 20. Parteitags fest im Sattel sitzen. Die leninistischen Prinzipien der Sowjetdemokratie und Gleichheit blieben so unerreichbar wie zuvor. Wie hätte der Komponist ernsthaft über den endgültigen Sieg des Sozialismus schreiben können, wenn er doch selber kein Wort davon glaubte?
Schostakowitsch behielt Recht. Das zögerliche „Tauwetter“ unter Chruschtschow kam 1964 zu einem abrupten Ende, als er von Breschnew abgelöst wurde. Nach und nach leiteten die neuen Machthaber Russlands eine Trendumkehr ein weg von Zugeständnissen hin zu erhöhter Repressionen.
Schostakowitsch kehrte in seiner Dreizehnten Symphonie (betitelt Babi Jar) zum Thema des Antisemitismus zurück. Die Symphonie basiert auf Gedichten von Jewgeni Jewtuschenko, deren Erstes an das Massaker der Nazis an den Juden im Zweiten Weltkrieg erinnert. Babi Jar ist der Name des Orts des Verbrechens. Obwohl das Teil von Hitlers Politik der systematischen Vernichtung der Juden in den besetzten Gebieten war, gibt es keinen Zweifel daran, dass eine Minderheit der Ukrainer mit den Nazis kollaborierte und ihre antisemitischen Ansichten teilten. Die Stalinisten weigerten sich stets, diese Tatsache zu akzeptieren. Tatsächlich wurde Jewtuschenko nach der Uraufführung der Symphonie dazu gezwungen, seinem Gedicht einen Absatz hinzuzufügen, der behauptete, dass neben den Juden in Babi Jar auch Russen und Ukrainer ums Leben gekommen seien.
Die Farben sind düster, der Ton ist bitter und gewaltsam. Das ist keine leicht anzuhörende Musik, aber sie ist unglaublich kraftvoll. Sie beginnt mit einem Glockenschlag. Das ist nicht die Alarmglocke, die die Elfte Symphonie beendet und zu den Waffen ruft. Das ist der dunkle Klang der Totenglocke. Der Chor und der Bassist beginnen nun mit Jewtuschenkos Gedicht. Die Verse lauten wie folgt:
Über Babij Jar, da steht keinerlei Denkmal.
Ein schroffer Hang – der eine unbehauene Grabstein.
Mir ist angst.
Ich bin alt heute,
so alt wie das jüdische Volk.Ich glaube, ich bin jetzt
ein Jude.
Wir ziehn aus Ägyptenland aus, ich zieh mit.
Man schlägt mich ans Kreuz, ich komm um,
und da, da seht ihr sie noch:
die Spuren der Nägel.Dreyfus, auch er,
das bin ich.
Der Spießer
denunziert mich,
der Philister
spricht mir das Urteil.
Hinter Gittern bin ich.
Umstellt.
Müdgehetzt.
Und bespien.
Und verleumdet.
Und es kommen Dämchen daher, mit Brüsseler Spitzen,
und kreischen und stechen mir ins Gesicht
mit Sonnenschirmchen.Ich glaube, ich bin jetzt
ein kleiner Junge in Bialystok.
Das Blut fließt über die Diele, in Bächen.
Gestank von Zwiebel und Wodka, die Herren
Stammtisch-Häuptlinge lassen sich gehn.Ein Tritt! mit dem Stiefel, ich lieg in der Ecke.
Ich fleh die Pogrombrüder an, ich flehe – umsonst.
«Hau den Juden, rette Rußland!» -:
der Mehlhändler hat meine Mutter erschlagen.Mein russisches Volk!
Internationalistisch
bist du, zuinnerst, ich weiß.
Dein Name ist fleckenlos, aber
oft in Hände geraten, die waren nicht rein;
ein Rasselwort in diesen Händen, das war er.Meine Erde – ich kenne sie, sie ist gut, sie ist gütig.
Und sie, die Antisemiten, die niederträchtigen, daß
sie großtun mit diesem Namen:
«Bund des russischen Volks»!Und nicht beben und zittern!
Ich glaube, ich bin jetzt sie:
Anne Frank.
Lichtdurchwoben, ein Zweig
im April.
Ich liebe,
Und brauche nicht Worte und Phrasen.
Und brauche:
daß du mich anschaust, daß ich dich anschau.
Wenig Sichtbares noch,
wenig Greifbares!
Die Blätter – verboten.
Der Himmel – verboten.
Aber einander umarmen, leise,
das dürfen, das können wir noch.Sie kommen?
Fürchte dich nicht, was da kommt, ist der Frühling.
Er ist so laut, er ist unterwegs, hierher.
Rück näher…
Mit deinen Lippen. Wart nicht.Sie rennen die Tür ein?
Nicht sie. Was du hörst, ist der Eisgang,
die Schneeschmelze draußen.Über Babij Jar, da redet der Wildwuchs, das Gras.
Streng, so sieht dich der Baum am,
mit Richter-Augen.
Das Schweigen rings schreit.
Ich nehme die Mütze vom Kopf, ich fühle,
ich werde
grau.Und bin – bin selbst
ein einziger Schrei ohne Stimme
über tausend und aber
tausend Begrabene hin.
Jeder hier erschossene Greis -: ich.Jedes hier erschossene Kind -: ich.
Nichts, keine Faser in mir,
vergißt das je!
Die Internationale —
ertönen, erdröhnen soll sie,
wenn der letzte Antisemit, den sie trägt, diese Erde,
im Grab ist, für immer.Ich habe kein jüdisches Blut in den Adern.
Aber verhaßt bin ich allen Antisemiten.
Mit wütigem, schwieligem Haß,
so hassen sie mich –
wie einen Juden.
Und deshalb bin ich
ein echter Russe.
(Jewgeni Jewtuschenko)[15]
Die Dreizehnte Symphonie behandelt nicht nur den Antisemitismus, sondern ist eine vernichtende Kritik am bürokratischen System im Allgemeinen. Einer der Sätze beschreibt eine Schlange sowjetischer Frauen, die auf knappe Konsumgüter wartet. So hat die Oktoberrevolution also geendet, scheint Schostakowitsch zu sagen: die Massen kalt, gelangweilt und entfremdet. Ein anderer Satz trägt den Titel Ängste, und bezieht sich spezifisch auf die Angst des „Klopfens zu Mitternacht“ – Ängste, die „möglicherweise sterben, aber noch nicht tot“ sind. Der Satz mit dem Titel Eine Karriere zitiert aus dem letzten Satz der Zwölften Symphonie, betitelt Morgenrot der Menschheit. Aber die Symphonie endet, wie sie begonnen hat: mit dem Läuten der Totenglocke – es ist die Totenglocke der Oktoberrevolution.
Chruschtschow, der bereits unter Druck stand, bat Schostakowitsch und Jewtuschenko, die Uraufführung abzusagen, doch sie fand trotzdem statt. Nach nur drei Aufführungen ging die Dreizehnte Symphonie denselben Weg wie die Vierte und die Achte. Eine der Aufführungen wurde abgesagt, „weil der Solist krank war.“ Jewtuschenko nahm einige Änderungen am Gedicht vor, um zu zeigen, dass das sowjetische Volk gegen den Faschismus gekämpft hatte. Doch 1964 wurde Chruschtschow gestürzt und die Situation verschlechterte sich erneut.
Schostakowitschs Spätwerke sind von der starken Vorahnung des eigenen Todes geprägt. In seinen letzten Jahren begann sich sein Zustand zu verschlechtern. Er litt unter chronischen Gesundheitsproblemen, blieb aber ein passionierter Raucher und hatte die traditionelle russische Vorliebe für Wodka. Ab 1958 litt er unter einer kräftezehrenden Erkrankung, die vor allem seine rechte Hand beeinträchtigte und ihn schließlich dazu zwang, das Klavierspielen aufzugeben.
1965 wurde dieser Zustand als Polio diagnostiziert. Er erlitt mehrere Herzinfarkte und Stürze, bei denen er sich beide Beine brach. Und doch behielt er seinen ironischen Humor bei, wie folgender Briefausschnitt beweist: „Bisher erreicht: 75% (rechter Fuß gebrochen, linker Fuß gebrochen, rechte Hand defekt. Alles, was ich jetzt noch tun muss, ist meine linke Hand zu ruinieren, dann sind 100% meiner Extremitäten unbrauchbar).“ Es sollte uns nicht entgehen, dass sich Schostakowitsch sogar hier über die offiziellen Verkündigungen der Bürokratie mit ihrem zuckersüßen Optimismus über die „Planerfüllung der Ziele des Fünfjahresplans“ lustig macht.
Die Breschnew-Jahre wurden später als „die Jahre der Stagnation“ bekannt. Die Bürokratie wurde von einem relativen Hindernis für die Entwicklung der Produktivkräfte nun zu einer absoluten Fessel jeden Fortschritts. Korruption, Pfuscherei, Misswirtschaft und das Chaos des bürokratischen Systems untergruben alle Vorteile der verstaatlichten Planwirtschaft. Trotz aller prahlerischen Reden der Führung verlangsamten sich die Wachstumsraten von 6% jährlich in Chruschtschows später Amtszeit auf fast 0% in Breschnews letzten Jahren. Der Kontrast zwischen den enthusiastischen Berichten über den „Aufbau des Kommunismus“ und dem Zurückbleiben der Produktivkräfte war offensichtlich. Statt zunehmender Gleichheit wurde die Ungleichheit zwischen der Bürokratie und den Massen immer größer. Verschlimmert wurde der Zustand durch Korruption in großem Stil.
Die letzten drei Symphonien sind Ausdruck persönlichen Schmerzes. Die Vierzehnte Symphonie (1969) ist ein Liederzyklus, der auf einer Reihe von Gedichten basiert, die alle das Thema Tod behandeln. Schostakowitsch schrieb sie, als er schwer krank war und zunehmend pessimistisch gestimmt war. Er war Atheist, entsprechend finden wir in diesem Werk keine Spur von Trost oder Optimismus. Er schrieb: „Leute, die sich als meine Freunde betrachteten, wollten am Ende etwas Trost sehen, um zu sagen, der Tod ist nur der Anfang. Aber er ist kein Anfang. Er ist das Ende. Danach kommt nichts mehr. Nichts mehr.“
Die Texte der ersten beiden Lieder stammen vom spanischen Dichter Lorca, der zu Beginn des Bürgerkriegs von den Faschisten ermordet wurde. Das Erste – De Profundis – beginnt mit einem unheimlichen Thema in den Streichbässen. Das Zweite ist ein traditionelles deutsches Lied. Die weiteren Texte sind von Apollinaire und russischen Dichtern. Der Text des letzten Liedes stammt vom Dichter Rilke. In Bezug auf die musikalische Sprache ist es ein schwieriges Werk. Schostakowitsch gebraucht Zwölftonskalen, die im Westen von Komponisten wie Schönberg und Webern verwendet, in sowjetischen Kompositionen aber selten gehört werden.
Die Fünfzehnte Symphonie (1971) ist, wenn das überhaupt noch möglich ist, ein noch rätselhafteres Werk. Es handelt sich um ein rein orchestrales Stück mit geheimnisvollen Zitaten aus Wagnerscher Musik, Rossinis Wilhelm Tell und der eigenen Vierten Symphonie. Was beabsichtigte der Komponist? Das ist schwierig zu sagen. Aber die vorherrschende Stimmung ist bittere Ironie. Das Werk stellt eine Frage, ohne die Antwort zu geben. Was sollen diese rätselhaften Spätwerke bedeuten? Kann man sie rein aus dem schlechten Gesundheitszustand und den Todesahnungen des Komponisten erklären?
Maxim Schostakowitsch machte in einem Interview mit Wolkow („Über den ‚späten‘ Schostakowitsch“, Jänner 1988) eine spannende Bemerkung: „Es war einer der Tricks der sowjetischen Kritiker jener Tage zu schreiben, Schostakowitsch wäre krank geworden und hat deshalb begonnen, tragische Musik zu schreiben. Vater schrieb aber nicht über seine eigene Gesundheit, sondern die einer Ära, die Gesundheit jener Zeit“. Für Schostakowitsch war der Widerspruch zwischen Theorie und Praxis, zwischen Worten und Taten des Regimes unerträglich. Die Einsicht, dass all die Versprechen über eine Rückkehr zu Lenin und sozialistischer Demokratie nur Lügen waren, machte seinen Lebensabend nur noch bitterer.
Ein Zitat stammt aus Wagners Götterdämmerung: Siegfrieds Trauermarsch, der mit dem Tod des Helden und dem Einzug in das feuerrote Walhalla, der Heimat der Götter, endet. Das andere Zitat stammt aus Tristan und Isolde, einer Liebesgeschichte, die mit dem Tod endet. Wilhelm Tell war der bekannte Kämpfer für die Befreiung der Schweiz von der österreichischen Herrschaft. Es ist sehr gut möglich, dass der Komponist im Bewusstsein seines Todes zum Schluss gekommen ist, dass sein eigener Kampf um Freiheit gescheitert war und seine leidenschaftliche Liebe für die Menschheit schon bald im Tode enden wird, wonach – in seinen eigenen Worten – „nichts mehr kommt. Nichts mehr.“
Hat Schostakowitsch das Ende seines Lebens in Verzweiflung verbracht? Es sieht ganz danach aus. Anders als sein Idol Beethoven, der sich über Zweifel und persönliches Schicksal erhob und der Welt die Neunte Symphonie schenkte, hat Schostakowitsch wohl alle Hoffnung verloren. Sein letztes Wort in der Fünfzehnten Symphonie ist voll bitterem Sarkasmus. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass auch Beethoven durch lange Perioden der Depression gegangen ist und in diesen Zeiten fast gar nichts komponiert hat. Aber, wie schwierig die Situation nach dem Sieg der Reaktion 1815 auch gewesen sein mag: Beethoven hatte nie mit den schrecklichen Bedingungen eines monströsen totalitären Staates zu ringen, der seine Gegner entweder ins Gulag oder in die Irrenanstalt brachte.
Wir dürfen auch nicht vergessen, dass Schostakowitsch kein politischer Aktivist im herkömmlichen Sinn war. Er hatte nicht den Vorteil einer wissenschaftlichen Analyse der Ereignisse in der Sowjetunion. Er hatte keine Partei oder Organisation, die ihm helfen konnte. Am Schluss war er allein – komplett allein. Schostakowitsch starb am 9. August 1975 an Lungenkrebs und wurde am Nowodewischy-Friedhof in Moskau begraben. Der offizielle Nachruf erschien erst nach drei Tagen in der Prawda, offenbar weil die Formulierungen von oberster Stelle kontrolliert werden mussten – von Breschnew und dem Politbüro. Die satirische Kantate Rajok, die die „antiformalistische“ Kampagne verspottet, wurde bis nach seinem Tod unter Verschluss gehalten. Sogar noch aus dem Grab bereitete Schostakowitsch der Bürokratie Kopfzerbrechen und hatte vielleicht den letzten ironischen Lacher.
1979 wurde Solomon Wolkows Buch Zeugenaussage in den USA veröffentlicht, das angeblich Schostakowitschs Erinnerungen beinhaltet, die er seinem ehemaligen Studenten diktiert hatt. Das wurde von rechtsgerichteten Kritikern – insbesondere in den USA – als Fälschung angeprangert, die den Komponisten unbedingt als Stalinisten verleumden wollen. Seither herrscht eine heftige Diskussion über die Authentizität des Buchs und „was Schostakowitsch wirklich meinte“.
Beide Lager dieser Auseinandersetzung haben eine reaktionäre antisowjetische und pro-bürgerliche Position. Die eine Seite behauptet, Schostakowitsch wäre ein geheimer Dissident wie Sacharow oder Solschenizyn gewesen, die das Sowjetregime von einem bürgerlichen Standpunkt aus bekämpften (in Solschenizyns Fall sogar von einer noch fanatischeren reaktionären Position aus). Die andere Gruppe, bestehend aus eingefleischten Veteranen des Kalten Kriegs, beharrt darauf, Schostakowitsch sei in Wirklichkeit immer schon ein KGB-Agent gewesen.
Der Opernkritiker Bernard Holland bezichtigte den Komponisten in den New York Times vom 9. März 2000 der Feigheit und bezeichnete ihn als „mittelmäßigen Menschen“, der „vor seinen sowjetischen Vorgesetzten gekrochen und gekutscht” habe. Laurel Fay beschrieb Schostakowitsch in einem Interview von Tamara Bernstein (National Post, 15. März 2000) als „Wuss“ (englischer Slang für Schwächling, Waschlappen, feiges Trumm). So sieht die Wortwahl einer exklusiven akademischen Debatte in den USA aus – wie Marx gesagt hätte: jedes Wort ein Scheißhaus, und zwar kein leeres.
Was ist der Grund für so viel Gift und Galle, Boshaftigkeit und puren Hass? Das hat nichts mit Musik zu tun. Das alles ist von Klassenhass und bissigem Antikommunismus motiviert. In ihren gemütlichen New Yorker Wohnungen kämpfen betuchte bürgerliche Musikkritiker den Kalten Krieg noch einmal – uns sie müssen dazu nicht einmal ihre Pantoffeln ausziehen. Wer sagt noch, dass Kunst und Musik nichts mit Politik zu tun hätten?
In Russland gibt es keine Debatte über die Zeugenaussage, da das Buch nicht auf Russisch veröffentlicht wurde. Nur der Erzbürokrat Tichon Chrennikow hat die Sichtweise auf Schostakowitsch aus diesem Buch verurteilt.[16] Das ist wenig überraschend, man kann nämlich mit absoluter Gewissheit sagen, dass der stalinistische Schmierfink Chrennikow zweifellos „ein mittelmäßiger Mensch“ war, der „vor seinen sowjetischen Vorgesetzten gekrochen und gekutscht” hat.
Ein weiterer „respektabler“ Gelehrter, Richard Taruskin, hat Lady Macbeth von Mzensk unglaublicherweise als Rechtfertigung für Stalins Völkermord in der Ukraine hingestellt! Stalin musste demzufolge also wirklich undankbar gewesen sein, wenn er das Werk verbannte und seinen Autor verfolgte. Wenn man solches Gefasel schon von den „respektablen“ Wissenschaftlern liest, dann fragt man sich: Was geben wohl die Unseriösen von sich?
Christopher Norris erklärte am 15. Februar 1998 auf BBC Radio 3, es sei unmoralisch [sic], zu behaupten, Schostakowitsch wäre kein loyaler Kommunist gewesen. Leute, die diese Meinung vertreten sind lediglich eine Modeerscheinung. Ja, Schostakowitsch war tatsächlich Kommunist. Aber was Leute wie Norris nicht verstehen können, ist, dass Kommunist zu sein nicht dasselbe ist wie Stalinist zu sein, diese beiden Dinge sind sogar unvereinbar. Das passt den Reaktionären gerade recht, Kommunismus mit Stalinismus zu vermischen und den Sozialismus zu verleumden, indem man ihn mit der bürokratisch-totalitären Karikatur in der UdSSR unter Stalin, Chruschtschow und Breschnew gleichsetzt. Aber was ihnen gar nicht passt ist zugeben zu müssen, dass das nichts mit den Ideen von Lenin, Trotzki und der Oktoberrevolution zu tun hat, an die ehrliche Kommunisten wie Schostakowitsch geglaubt hatten, und die sie zu verteidigen versuchten.
Das Problem beider Seiten ist, dass sie von der Prämisse ausgehen, das stalinistische Regime hätte nur vom kapitalistischen Standpunkt aus bekämpft werden können. Das ist völlig falsch. Das Schostakowitsch ein Gegner Stalins und der Bürokratie war, ist selbst für einen Blinden offensichtlich. Doch gibt es auch nur den geringsten Beweis, dass er für den Kapitalismus oder zumindest dem Westen wohlgesonnen gewesen wäre? Nein, diesen Beweis gibt es nicht. Alle verfügbaren Quellen deuten auf das Gegenteil.
Krzysztof Meyer kommt der Wahrheit wesentlich näher, wenn er schreibt (DSCH Journal, 12.1.2000): „[Schostakowitsch] war nie wie die Kommunisten. Aber ich muss natürlich daran erinnern, dass seine Familie seit Generationen starke sozialistische Traditionen hatte. Kommunismus und Sozialismus sind ziemlich unterschiedliche Phänomene. Der sowjetische Kommunismus war ein Synonym für Tyrannei.“ Es ist natürlich ein Skandal, Kommunismus oder Sozialismus mit dem bürokratischen und totalitären Regime des Stalinismus zu vergleichen. Aber zumindest sagt Meyer auf verwirrende Weise, dass Schostakowitschs unbestreitbare Opposition gegen das Regime keineswegs eine Opposition gegen den Sozialismus bedeutete.
Die Symphonien Acht, Zehn und Dreizehn, Stenka Rasin und die Jüdischen Lieder bezeugen eindeutigen Widerstand gegen das Stalin-Regime. Aber Schostakowitsch war weder ein pro-kapitalistischer, antisowjetischer Dissident wie Sacharow, noch ein KGB-Agent oder stalinistischer Speichellecker wie Chrennikow. Er war ein ehrlicher und fortschrittlicher Mann, der großartige Musik geschrieben und durch das Medium dieser Musik versucht hat, das Leiden und die Freuden des sowjetischen Volks jener turbulenten Zeit auszudrücken.
Nach seinem Tod wurden die Werke Schostakowitschs vielfach destruktiver und böswilliger Kritik ausgesetzt. Gerard McBurney beschrieb die symphonischen Werke als „abgeleitet, kitschig, leer und abgenützt“. Pierre Boulez meinte: „Schostakowitsch ist für mich wie die zweite oder dritte Inkarnation von Mahler.“ Und jetzt, seit dem Zusammenbruch der UdSSR, haben sich auch noch die russischen Kritiker zur Hetzjagd dazugesellt. Filip Gerschowitsch nannte Schostakowitsch einen „in Trance verfallenen Mitläufer.“ Und so weiter und so fort.
Abgeleitet? Ja, aber welche Musik ist das nicht bis zu einem gewissen Grad? Schostakowitsch machte kein Geheimnis um seine Schulden bei Mahler und vielen anderen Komponisten: Bach, Strawinsky, Jazz- und Popmusik, jüdische und russische Folklore. War nicht die Musik Beethovens in der von Mozart und Haydn verwurzelt? Natürlich war sie das. Aber hat sie sich nicht zu etwas unverkennbar Eigenständigem entwickelt – etwas dem Beethoven unverkennbar seinen Stempel aufgedrückt hat? Natürlich war das so. Und wer kann verleugnen, dass Schostakowitschs Symphonien, von Mahler inspiriert, zu einer völlig anderen musikalischen Sprache gefunden haben, eine musikalische Ausdrucksweise, die unverkennbar Schostakowitsch ausmacht und niemand anderen?
Ein Mitläufer war Schostakowitsch ganz sicher nicht. Diese Bezeichnung trifft viel besser auf diese neue Brut an intellektuellen Prostituierten in Russland zu, die gestern noch vor der stalinistischen Bürokratie am Boden herumgekrochen sind und heute den Herrn gewechselt haben und vor dem Kapitalismus und den USA am Boden herumkriechen. Für diese neue Generation von Reptilien ist Schostakowitsch im Bereich der Musik ein genauso verlockendes Angriffsziel wie Lenin und Trotzki im Bereich der Geschichte. Der ganze Zweck dieser Kampagnen ist es, die Oktoberrevolution und die UdSSR durch den Dreck zu ziehen und zu „beweisen“, dass nie was Gutes daraus hervorging. Der Zweck hiervon wiederum ist es, zukünftige Generationen in Russland wie im Westen zu überzeugen, dass es viel besser ist, beim Kapitalismus zu bleiben.
Was nun Pierre Boulez betrifft, der einst als führender Kopf der westlichen Avantgarde gesehen wurde, kann man sich der Frage nicht ganz verwehren, ob seine verbitterte Meinung zu Schostakowitsch nicht zumindest ein wenig von dem allzu menschlichen Gefühl des Neids herrührt. Wenn man ehrlich ist, hört heutzutage niemand die Musik der sogenannten Avantgarde – Schönberg, Webern, Pierre Boulez – , die sich als Sackgasse erwiesen hat. Der einzige Ort, wo man deren Musik heutzutage hören kann, ist das Kino – sie geben Horrorfilmen eine wunderbare Untermalung. Die Hundertjahrfeier hat dahingegen die Popularität der Symphonien des großen Schostakowitsch bewiesen. Nicht weil sie „vulgär“, „kitschig“ und schon gar nicht „leer“ sind, sondern weil diese Musik eine Botschaft über einige der wichtigsten Ereignisse unserer Zeit vermittelt.
Die Hundertjahrfeier hat bewiesen, dass Schostakowitschs Musik trotz der böswilligen Verleumdungen ein stetig wachsendes Publikum genießt. Noch vor nicht allzu langer Zeit spielte das Borodin-Quartett alle Streichquartette Schostakowitschs im Bantry House in West Cork (Irland). In der Ankündigung des Festivals hieß es:
„Die Quartette … erzählen vom Kampf eines Mannes gegen die Tyrannei, von der Stimme eines Künstlers, der blieb und für sein Volk sprach. Das Erste schon, 1938 nach der Vorladung beim gefürchteten NKWD geschrieben, ist kein unschuldiges Experiment. Und das außergewöhnliche 15. Quartett mit seinen sechs Adagios schrieb er 1974, ein Jahr vor seinem Tod. In diesen sechsunddreißig Jahren schrieb er eine Reihe von Quartetten voller innerer Kraft. Nicht nur Musik des Leids, sondern Musik der Fähigkeit, mit dem Leid umgehen zu können – reine Musik, die Essenz seines Lebens und der schrecklichen Geschichte dieses Lands.“
Solange die Menschen Musik lieben, wird Schostakowitschs Musik leben, weil er wie sein Idol Beethoven ein Mann war, der etwas Wichtiges zu sagen hatte.
London, 16. Dezember 2006
[1] Dem entspricht in der deutschen Übersetzung sinngemäß folgende Passage: „[…] ich bin ein sowjetischer Künstler, und ich bin in der Sowjetunion aufgewachsen. Ich sollte und ich will einen Weg zum Herzen des Volkes finden.“ Sovetskaja muzyka Nr. 9, 1948, zitiert nach Meyer, Krzysztof: Schostakowitsch, Bergisch Gladbach 1995, S. 335.
[2] William Wordsworth: The Prelude (1805), Book X: Residence in France and the French Revolution, Line 689-705, hier in der Übersetzung von Dietrich H. Fischer (http://www.william-wordsworth.de/translations/the%20Prelude%20Bliss%20was%20it.html)
[3] Oblako v shtanakh, engl. A Cloud in Trousers, 1914 – dt. Übersetzung von Alexander Nitzberg.
[4] Die Gedichtzeile stammt von Jewgeni Jewtuschenko (1932-2017) aus dem 1961 geschriebenen Gedicht „Babi Jar“, das Schostakowitsch später als Textgrundlage für die 13. Symphonie verwendete; hier in der deutschen Übersetzung von Paul Celan.
[5] Aranowitsch/Sokurow, Leningrad 1981.
[6] Dem entspricht sinngemäß folgende Passage aus dem Artikel „Meine Arbeit an der Lenin-Symphonie“: „Es ist eine ungeheuer schwierige Aufgabe, das titanische Bild des Führers in der Musik darzustellen, und ich bin mir dessen durchaus bewußt.“ (Moja rabota nad Leninskoj Simfoniej, in: Literaturnaja gazeta, 20.9.1938, Übersetzung nach Meyer, a.a.O., S. 266).
[7] Gemeint ist der Musikkritiker Assafjew.
[8] Sowjetische Musikwissenschaftlerin (1917-2000), mehrere Veröffentlichungen über das Werk Schostakowitschs.
[9] Der eigentliche Wortsinn entspricht eher dem als Trinkspruch gebrauchten „Gesundheit“. Es handelt sich um eine Kantate, mit der auf Stalin angestoßen werden soll.
[10] Meyer erwähnt, dass das Buch ein Zufallsfund in der Auslage einer Buchhandlung war. „Er kaufte den Band, in der Annahme, darin die ihm unbekannte jüdische Musikfolklore kennenzulernen.“ (a.a.O., S. 339)
[11] in der deutschen Übersetzung von Paul Celan lautet der Schluss: „Ich habe kein jüdisches Blut in den Adern. / Aber verhaßt bin ich allen Antisemiten. / Mit wütigem, schwieligem Haß, / so hassen sie mich – / wie einen Juden. / Und deshalb bin ich / ein wirklicher Jude.“ (Paul Celan: Gesammelte Werke, Bd. 5, Frankfurt/Main 2000, S. 288ff.)
[12] Beginn des Gedichts 9. Januar von Arkadij Jakowljewitsch Koz.
[13] Ursprünglich ein ukrainisches sozialistisches Lied (1889). Die erste Strophe lautet in der gängigen deutschen Übersetzung: Ja, wütet nur Henker und tobet wie toll / Nährt Spitzel und steckt die Gefängnisse voll! / Wir wollen uns im Kampf die Freiheit erwetten. / Zerreißt, Zerreißt, Zerreißt eure Ketten.
[14] Der deutsche Liedtext entspricht nur ungefähr: Feindliche Stürme durchtoben die Lüfte, / drohende Wolken verdunkeln das Licht. / Mag uns auch Schmerz und Tod nun erwarten, / gegen die Feinde ruft auf uns die Pflicht. / usw.
[15] Die deutsche Übersetzung von Paul Celan (Paul Celan: Gesammelte Werke, Bd. 5, Frankfurt/Main 2000, S. 288ff.) weicht im letzten Vers inhaltlich ab. Bei ihm heißt es „und deshalb bin ich ein wirklicher Jude“. Das Original von Jewtuschenko endete aber – wie oben im Artikel zitiert – auf „deshalb bin ich ein echter Russe“.
[16] Es hat sich eine Reihe sowjetischer Musiker zum Buch geäußert, teils positiv, überwiegend aber negativ, insbesondere Schostakowitschs engere Freunde.