Ausstellung „Verborgene Moderne“
Spiritualismus, gesunde Ernährung, Einheit mit der Natur – unzählige Menschen sind heute getrieben vom Wunsch, abseits der totalen Vermarktung aller Gesellschaftsbereiche Sinn zu finden. Die Sonderausstellung „Verborgene Moderne“ im Leopold-Museum beleuchtet die kunstgeschichtlichen Wurzeln dieser Lebensreformbewegungen. Von Konstantin Korn
Bis heute vermarktet Wien erfolgreich seine Vergangenheit als eine der bedeutendsten Kunstmetropolen Europas. Mit der Ringstraßenära war das Wiener Bürgertum endgültig zu dem sozialen Subjekt aufgestiegen, das das Kulturleben bestimmte. Die expandierende Wirtschaft nährte den Fortschrittsglauben am Ende des 19. Jahrhunderts. Künstler fanden reichlich Aufträge zur Dekoration der Palais des Geldadels und der öffentlichen Repräsentationsgebäude. Dennoch blieben Gegenbewegungen in der Kunst nicht aus. So mancher Freigeist wollte nicht länger in den ausgetretenen Pfaden der Malerei und Architektur wandeln. Man experimentierte mit Stilen und Techniken, war offen für neue Impulse. So nahm Gestalt an, was heute als „Wiener Moderne“ gilt.
Angesichts der Auswüchse der kapitalistischen Gesellschaft machten sich immer mehr Künstler und Intellektuelle auf die Suche nach einer neuen Spiritualität und fanden in den Werken des Komponisten Richard Wagner Inspiration. Der Alt-1848er-Revolutionär Wagner, der ein reaktionärer Antisemit geworden war, hatte mit seinen Opern auch das Wiener Konzertpublikum erobert. Seine Verarbeitung von mythologischen Stoffen (Tristan und Isolde, Nibelungen…) beeinflusste nicht nur die Maler seiner Zeit, sondern wurde auch als Manifest für eine bürgerliche Gegenkultur verstanden.
Der Maler und eigenwillige Wagnerianer Karl Wilhelm Diefenbach versuchte mit der Gründung einer Kommune in einer Villa am Stadtrand von Wien, die Ideen der Lebensreformbewegung (Freikörperkultur, Tierrechte usw.) in die Tat umzusetzen. Sein Freund und Künstlerkollege Hugo Höppener („Fidus“) brachte Esoterik in das Kommunenleben ein. „Zurück zur Natur” lautete das Motto der Künstlergemeinschaft, was als Rückkehr ins Paradies gepriesen wurde. Das Bild „Der Liebe Macht” zeigt genau das: Ein nacktes Paar wendet sich vom Inferno des Industriezeitalters ab und lässt sich von Kindern den Weg in den Garten Eden weisen. Dort warten zahme Tiere, üppige Vegetation und eine Sphinx als Hüterin der Weisheit. Eine ähnliche Botschaft transportiert Diefenbachs weit verbreitetes Fries „Per aspera ad astra” (Durch Mühsal zu den Sternen), mit dem er seine Ideen von Lebensreform bildlich darstellte. Diefenbachs Kommunenprojekte scheiterten kläglich, Höppener, der in seiner Jugend anarchistisch angehaucht war, fand später über die Esoterik in der nationalsozialistischen Bewegung eine neue Heimat.
Die Ausstellung porträtiert auch andere bürgerliche Zirkel, in denen Spiritualismus und Okkultismus praktiziert wurden. Das Spektrum reichte von der großbürgerlichen Frauenrechtlerin über Naturwissenschaftler mit einem Faible für fernöstliche Religionen, Yoga und Tantra bis zu ideologischen Vorläufern des Nationalsozialismus.
„Verborgene Moderne“ zeigt aber auch, wie diese neuen Geistesströmungen berühmte Künstler des Expressionismus, wie Munch, Kokoschka, Gerstl und nicht zuletzt Egon Schiele, beeinflussten.
In den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg hatten die Vorstellungen von Lebensreform keine besondere Reichweite. Die marxistische Arbeiterbewegung polemisierte offen gegen diese obskuren, bürgerlichen Weltverbesserer. In der Folge fanden diese klassenfremden Ideologien jedoch Eingang in die reformistische Arbeiterbewegung. Mit der totalen ideologischen Krise und dem Niedergang des Reformismus in den vergangenen Jahrzehnten erlebten die verschiedensten Lebensreformideen und der Spiritualismus in all ihrer Widersprüchlichkeit einen zweiten Frühling und wurden zum Massenphänomen, das nicht selten mit reaktionärem Gedankengut einhergeht. Daraus ergibt sich die brennende Aktualität dieser nicht nur kunstgeschichtlich spannenden Ausstellung.