Die Angst vor den Massen erzwingt Waffenstillstand – wie kann Palästina frei sein?
Der Waffenstillstand im Gazastreifen ist am 10. Oktober in Kraft getreten. Doch Trumps sogenannter „Friedensplan“ löst keines der grundlegenden Probleme. Den Völkermord dauerhaft beenden und die Palästinenser befreien kann nur eine sozialistische Revolution. Von Florian Keller.
Der Waffenstillstand steht auf extrem wackeligen Beinen. In Wirklichkeit hat sich das Morden nur verlangsamt. Zu Redaktionsschluss sind schon weitere 100 Palästinenser durch die israelische Armee ermordet worden – inklusive einer 11-köpfigen Familie, die in einem Auto in Gaza-Stadt unterwegs war. Zentrale Fragen, etwa wer den Gazastreifen in Zukunft kontrollieren wird und ob die Hamas entwaffnet wird, sind noch völlig ungeklärt. Der offene Völkermord kann jederzeit weitergehen – und Trump hat Netanjahu seine volle Unterstützung zugesagt.
Doch selbst wenn er halten sollte: Der „Friedensplan“ formalisiert für die Palästinenser im Gazastreifen nur das Leben in einer Hölle auf Erden. Nach mehr als zwei Jahren des Massenmords durch die israelische Armee mit zehntausenden Toten, der systematischen Aushungerung, dem Fehlen von Wasser und der Ausbreitung von Krankheiten lässt die israelische Armee immer noch nur einen Bruchteil der benötigten Lieferungen durch. Während die Mehrheit der Menschen in Zeltlagern lebt, steht ein möglicher Wiederaufbau noch völlig in den Sternen.
Über 50% des Gazastreifens stehen weiter unter israelischer Besatzung, zum Teil soll das auch dauerhaft bleiben. Der Rest wird unter Kolonialverwaltung unter der Schirmherrschaft der USA und Trump gestellt. Gestützt soll dieses Gebilde durch die Bajonette ausländischer Truppenkontingente werden – vorzugsweise aus arabischen und muslimischen Ländern, die aber wegen der absehbaren innenpolitischen Probleme eines solchen Hilfsdienstes noch zögern. Im Westjordanland haben die israelische Armee und die rechtsradikalen Siedler weiter komplett freie Hand für Mord, Landraub und Unterdrückung.
Unter diesen Umständen, die „Zweistaatenlösung“ wiederzubeleben, hat nichts mit der Realität zu tun. Es ist der Versuch, unter allen Umständen die Situation zu beruhigen, um den Status-Quo der Unterdrückung stabil zu halten.
Auch das Konzept eines nationalen und religiösen Befreiungskrieges, der rein militärisch geführt wird, ist gescheitert. Die Palästinenser sind heute tiefer unterdrückt, marginalisiert und den Imperialisten ausgeliefert als vor dem 7. Oktober 2023. Die allgemeine Stimmung unter den Palästinensern, sei es im Westjordanland oder im Gazastreifen, ist daher verzweifelt, demoralisiert und perspektivlos.
Letztendlich wurde der Waffenstillstand Israels Regierung von US-Präsident Trump gegen ihren Willen aufgezwungen. Dass das möglich, ist zeigt, wie entscheidend die Unterstützung des Westens für Israel und damit die Komplizenschaft mit dem Völkermord immer war. Doch was war entscheidend dafür, dass Trump auf einmal das ganze Gewicht des US-Imperialismus hinter einen Waffenstillstand geworfen hat?
Es gibt viele Gründe – einer der Wendepunkte war sicherlich der israelische Luftangriff auf die Hamas-Chefverhandler in Katar, der eine Welle der Empörung in der arabischen Welt erzeugte und zu nur wenig verborgenen Drohungen insbesondere der Golfstaaten führte, dass sie sich weiter Richtung China und Russland orientieren könnten, falls die USA ihren wild gewordenen Schoßhund Israel nicht zurückpfeifen würde.
Doch diese rein geopolitische Interpretation des Waffenstillstandes greift zu kurz: Die arabischen Regimes haben seit Jahrzehnten kein Problem damit, sich vor dem US-Imperialismus in den Staub zu werfen und bei jeder Verletzung ihrer Souveränität brav auch die andere Wange hinzuhalten.
Was sich in den letzten Wochen Entscheidendes geändert hat, ist der Eingriff der Massen in einem Land nach dem anderen in die dreckigen Machenschaften der Herrschenden. Die arabischen Regimes zittern vor der Revolution – die Massen hassen sie nicht nur für ihre Korruption und die Perspektivlosigkeit, die sie produzieren, sondern auch dafür, dass sie sie davon abhalten, den Palästinensern zur Hilfe zu kommen. Indonesien, Nepal, Madagaskar und andere Länder sind ihnen warnende Beispiele. In Marokko, einem der treuesten westlichen Verbündeten, sind tatsächlich bereits massenhafte Jugendproteste ausgebrochen.
Israel selbst wurde durch den Krieg auch zunehmend destabilisiert. Zwei Drittel der Israelis wollten einen Deal, um den Krieg zu beenden, hunderttausende gingen auf die Straßen. Und auch wenn die Mehrheit in Israel weiter der zionistischen Lüge folgte, dass nur ein militärisch starker Staat Israel die Sicherheit der Juden gewährleisten könne, bröckelte die Kriegsmaschinerie in der Praxis. So viele Reservisten wie noch nie verweigerten den Dienst in der Armee (trotz hoher Entlohnung), die Armeeführung warnte öffentlich vor einer Zersetzung wie im Vietnam-Krieg. Eine kleine, tapfere Minderheit verteidigt auch explizit die Rechte der Palästinenser.
Doch vor allem die Entwicklungen in Europa haben den Herrschenden das Fürchten gelehrt. Der gewaltige internationalistische Generalstreik gegen den Völkermord in Italien ist dabei nur die Spitze des Eisbergs. Ein Generalstreik in Spanien, der noch nach Verkündigung des Waffenstillstandes durchgesetzt wurde, hat ebenfalls tausend Betriebe lahmgelegt und genauso wie in Italien die Schüler und Studenten auf die Barrikaden gebracht. Darüber gehören in jeder Massenbewegung in Europa in den letzten Wochen Palästinafahnen und die Forderung nach einem Ende des Völkermords wie selbstverständlich dazu.
Diese Politisierung der Arbeiterklasse und -bewegung ist ein Zeichen für die revolutionäre Wut, die sich unter der Oberfläche aufgestaut hat. Der Kampf gegen die Unterdrückung der Palästinenser und gegen den Kapitalismus ist ein Kampf. Wenn die Kraft der Arbeiterklasse gebündelt und organisiert wird, hat sie das Potential den eigenen Herrschenden die Waffen aus der Hand zu schlagen.
Nur die Perspektive einer sozialistischen Revolution kann die Kapitalistenklasse stürzen, die in Israel ein direktes, in Europa und den arabischen Ländern ein indirektes Interesse an der Fortführung der Unterdrückung der Palästinenser hat. Nur die Arbeiterklasse kann mit einer demokratisch geplanten Wirtschaft die materielle Grundlage und mit einer sozialistischen Föderation des Nahen Ostens die politische Grundlage dafür schaffen, dass die Palästinenser ein eigenes Heimatland und volle demokratische und soziale Rechte erlangen werden und dass alle Völker und Religionen in einem wirklichen, dauerhaften Frieden zusammenleben können.