Bericht: Alle Macht den Zborovi – Serbien vor der Revolution

Dieser Bericht, datiert auf den 8. April, erreichte uns von Vincent Angerer. Das Bild zeigt den alten Slogan der Studierenden: „Alle Macht den Plena!“ Heute fordern die vorwärtstreibendsten Teile der Bewegung: „Alle Macht den Räten!“
Noch bevor es am 15. März zur wohl größten Massenkundgebung in Serbien seit der Befreiung Belgrads 1944 kam, riefen die Studierenden zu einer neuen Organisationsform auf: den Zborovi. Das Wort Zbor bedeutet so viel wie „Versammlung“. In der serbischen Verfassung ist die Möglichkeit vorgesehen, dass sich Bürger in lokalen Versammlungen zur Diskussion lokaler Fragen organisieren.
Was diese Zborovi in Wirklichkeit darstellen, sind embryonale Massenorgane. Breite Teile der Arbeiterklasse in Serbien sind dem Aufruf der Studierenden gefolgt und haben sich in Zborovi organisiert – teilweise ausdrücklich als Arbeiterklasse, wie etwa in Zborovi von Krankenpfleger oder bei Versuchen, sie in Betrieben zu etablieren.
Die Entwicklung dieser Organe war für mich eine völlige Überraschung. Nachdem es am 15. März trotz enormen Aufbaus von Druck, Anspannung und Erwartungen zu keinem konkreten Ergebnis gekommen war, rechnete ich mit einer Demoralisierung. Doch wenn es eine Konstante in dieser Bewegung gibt, dann diese: Sie überrascht mich.
Nicht nur geht sie weiter, sie tritt in ein höheres, intensiveres Stadium ein. Die Studierenden suchen die Verbindung zu den Massen. Man muss verstehen, dass die Bewegung in Serbien ein unvorstellbares Ausmaß erreicht hat. Die Teilnehmerzahlen sprechen Bände: Nach empirischen Schätzungen haben an der größten Demo sowie an weiteren Protesten in den letzten Wochen insgesamt rund 1,3 Millionen Menschen teilgenommen – knapp 20 Prozent der Bevölkerung. Auf die USA übertragen wären das über 60 Millionen Menschen. Und das ist wohl noch konservativ gerechnet.
Doch damit nicht genug: Seit vier Monaten sind fast alle Universitäten nahezu vollständig unter der Kontrolle der Studierenden. Niemand kommt hinein oder hinaus, ohne sich vor der Bewegung zu rechtfertigen. Nicht einmal ich wäre in Belgrad hineingekommen – ich hätte keinen aktuellen serbischen Studierendenausweis vorzeigen können.
Täglich finden Plenartreffen mit Hunderten Studierenden im ganzen Land statt. Selbst in Kleinstädten gehen Blockaden und Mobilisierungen weiter. Die Politisierung nimmt stetig zu.
Das Entscheidende aber ist: Die Studierenden appellieren direkt an die selbstständige Organisation der Massen – eine Tradition, die am Balkan bis in die Zeit der Befreiung vom Osmanischen Reich zurückreicht. Tatsächlich haben bereits dutzende Zborovi stattgefunden. Sie versuchen, sich zu vernetzen, Ideen auszutesten und Überlegungen weiterzuentwickeln. In Čačak, einer mittelgroßen Stadt in der Nähe der westlichen Morava, hat ein Zbor sogar den Bürgermeister gestürzt.
Trotzki erkannte einst:
„Der unbestreitbarste Charakterzug der Revolution ist die direkte Einmischung der Massen in die historischen Ereignisse. In gewöhnlichen Zeitläufen erhebt sich der Staat – der monarchistische wie der demokratische – über die Nation; Geschichte vollziehen die Fachmänner dieses Handwerks: Monarchen, Minister, Bürokraten, Parlamentarier, Journalisten. Aber an jenen Wendepunkten, wo die alte Ordnung den Massen unerträglich wird, durchbrechen diese die Barrieren, die sie vom politischen Schauplatz trennen, überrennen ihre traditionellen Vertreter und schaffen durch ihre Einmischung die Ausgangsposition für ein neues Regime.“
Genau das geschieht derzeit im Rahmen der Zborovi.
Es ist schwer, das alles von Wien aus einzuschätzen – noch schwerer, die ganze Tragweite zu begreifen. Aber wenn sich die Entwicklung der Zborovi so fortsetzt wie bisher, dann tritt Serbien gerade in eine revolutionäre Phase ein. Die Massen beginnen selbständig die Bühne der Geschichte zu betreten. So etwas auf diesem Niveau kenne ich bisher nur aus Büchern. In einem Fernsehinterview wurde eine Teilnehmerin gefragt, was sie von den Zborovi hält, und sie antwortete, es handle sich um eine neue Stufe – einen qualitativen Sprung.
Gleichzeitig kursiert in den Plena ein Gedanke aus der serbischen Revolution: die Selbstorganisation der Massen gegen sämtliche politischen Repräsentanten. Ein Volkslied aus dieser Zeit, Der Aufstand gegen die Dahija, formuliert es so:
„О lieber Gott! welch‘ großes Wunder!
Wenn es sich rührt im Lande Serbien,
Und sie beginnt: die neue Ordnung,
Doch kämpfen wollen nicht die Kneze,
Noch die Türken, wohlgenährt,
Nein, kampfbereit ist nur: die Raja.“
(Raja: die unterdrückten Bauernmassen, das Volk)
Dieses Gedicht spiegelt den tiefen Hass und die Ablehnung der Bewegung gegenüber der Politik und allen Vertretern wider. Die Raja sagt: “Keine Vertreter mehr! Keine Politiker, die über uns türmen und uns vorgeben, was zu tun ist! Niemand, absolut niemand!”
Das erklärt auch, warum es so schwer ist, dort zu intervenieren. Als ich beim Empfang der Fahrradfahrer in Wien war, führte ich ein längeres Gespräch mit Studierenden aus Serbien (die in Wien studieren). Sie warfen mir vor, die Bewegung von außen für meine Zwecke zu instrumentalisieren. Ich erklärte die Notwendigkeit einer Perspektive – und dass revolutionärer Kommunismus organisch zur Bewegung gehört. Doch nur eine Forderung drang zu ihnen durch: Alle Macht den Zborovi! Als ich sagte, dass alle Parteien Verräter seien und die Massen die Macht selbst übernehmen müssten, waren sie plötzlich überrascht – und stimmten mir zu. Eine Zeitung kauften sie trotzdem nicht, aber immerhin tolerierten sie mich und wollten mich nicht vertreiben.
Ich denke, wir haben es hier mit der größten Massenbewegung Europas seit Griechenland (Oxi) zu tun. Und das Auftreten embryonaler Räte, wie es die Zborovi darstellen, ist etwas genuin Neues – auf einer höheren Ebene als damals in Griechenland. Vielleicht ist es das erste Mal seit Jahrzehnten, dass tatsächlich so etwas wie Sowjets entsteht. Es fällt mir selbst schwer, das auszusprechen – ich habe immer gezögert und vorsichtig reagiert. Ich habe an vielen serbischen Bewegungen teilgenommen, seit ich 18 bin, und bin sehr zurückhaltend durch diese Erfahrung. Bei jeder Weggabelung der aktuellen Bewegung habe ich schon Demoralisierung gewittert.
Auch jetzt spüre ich diesen inneren Konflikt. Doch die Bewegung ist wie sich zu verlieben – nur weiß man nicht, ob man der Person vertrauen kann. Also fürchtet man sich, hält sich zurück. Aber vielleicht muss man es einfach tun. Sich in die Bewegung „verlieben“. Und eine große Einschätzung treffen. Eine Perspektive aufstellen.
In diesem Sinne: Die Bewegung geht in eine Revolution über.
Alle Macht den Zborovi! Nieder mit Vučić, nieder mit dem Staat –
Der Staat wird den Massen nur unter der Bedingung dienen,
dass die Massen ihn selbst führen. In jedem Betrieb, in jeder Stadt:
Alle Macht dem Zbor. Sva vlast zborovima!