Der fünfte Juni, neunter Tag der Massenbewegung gegen die autoritäre und reaktionäre Regierung Erdogans, war gekennzeichnet durch gemeinsame Streikaktionen der Gewerkschaften KESK und DISK. Gleichzeitig waren einige Regierungsmitglieder damit beschäftigt, von Zugeständnissen zu reden, um die Bewegung einzudämmen. Von Jorge Martin.
Noch am letzten Wochenende gab es viele Diskussionen über die Notwendigkeit, einen Generalstreik einzuberufen. Die Menschen auf den Plätzen verstanden instinktiv, dass dies der logische nächste Schritt für die Bewegung sein würde. Dank glücklicher Fügung hatte die Gewerkschaftskonförderation des öffentlichen Sektors KESK für den fünften Juni schon zu einem 24-stündigen landesweiten Streik aufgerufen, um das Recht auf kollektive Tarifverhandlungen, das von der rechten muslimischen Regierung unter der AKP angegriffen wird, zu verteidigen. Eine Notfallsitzung der KESK-Führung entschied, den Streik auszuweiten und ihn schon auf den 4. Juni um 12 Uhr mittags vorzuverlegen. Die Konförderation der revolutionären Gewerkschaften, DISK, schloss sich, angesichts der brutalen Repression der Regierung, dem Aufruf zu Streikaktionen an.
Schließlich riefen KESK, DISK, die Gewerkschaft der türkischen Ingenieure und Architekten (TMMOB) und der Türkische Medizinerverband (TTB) in einer gemeinsamen Erklärung zu Warnstreikaktionen, Betriebsversammlungen und Massendemonstrationen gegen den „Faschismus der AKP“ auf.
Hunderttausende ArbeiterInnen traten in den Streik, zehntausende nahmen an den Demonstrationen im ganzen Land teil. Gemäß KESK gab es Streikaktionen „von Edirne (nahe der griechischen Grenze) bis Kars (in der Nähe Armeniens), von Ardahan (nahe Georgien) bis Hakkari (in der Nähe des Iraks), von Ankara bis Bursa, von Istanbul bis Van (an der iranischen Grenze), von Antalya am Mittelmeer bis Trabzon am Schwarzen Meer, von Izmir an der Ägäis bis Diyarbakir (im Südosten des Landes)“, was die nationale Ausbreitung der Bewegung verdeutlicht.
Dutzende von führenden KESK-Mitgliedern sitzen seit Februar im Gefängnis. Sie sind angeklagt, einer „terroristischen Vereinigung“ anzugehören. Angesichts dieser Tatsachen ist die Entscheidung der KESK, sich an die Spitze der Bewegung zu setzen, umso lobenswerter.
Obwohl die Streiks am fünften Juni kein richtiger, alles umfassender Generalstreik war, der nicht ohne den hauptsächlichen Gewerkschaftsbund Turk-Is stattfinden kann, war es doch eine äußerst starke Aktion. Hunderttausende ArbeiterInnen beteiligten sich und unterstützen die offen politischen Forderungen, die weit über die „traditionellen“ Gewerkschaftsforderungen hinausgehen.
Riesige Demonstrationen fanden tagsüber in den wichtigsten Städten statt. Die Arbeiter versammelten sich außerhalb ihrer Arbeitsplätze und marschierten vorwärts in Richtung der Hauptplätze.
KESK und DISK marschieren zum Taksimplatz
https://www.youtube.com/watch?v=Bp4eF2yTW6o
Marsch der KESK in Antalya
Der Einmarsch der DISK auf dem Taksimplatz war für von besonderer Bedeutung: Hier fand am 1. Mai 1977 das Taksim-Massaker statt, bei dem dutzende DISK-Gewerkschafter ermordet wurden, hier wurde die Gewerkschaft am diesjährigen 1. Mai brutal von der Polizei attackiert. (video)
Obwohl es schon der neunte Tag der Bewegung war, gingen in den großen Städten wieder zehntausende auf die Abenddemonstrationen, davon zeugend, dass die Bewegung immer noch lebt. Ein Istanbuler Genosse sagte: „Die Istiklalallee war mehr oder weniger halb voll. Aber der Taksim und der Gezipark waren so überfüllt, dass man dort kaum noch gehen konnte. Es gab Gesang, Tanz, Diskussionen, Gelächter.“ Die Polizei vom Platz gezwungen zu haben war der erste Sieg der Bewegung. Und die Massen sind stolz auf ihre Errungenschaft.
Vom Lächeln, von Handschlägen, von Tränengas und Wasserwerfern
In der Zwischenzeit nutzte die Regierung alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel, um die Bewegung einzudämmen und zu stoppen. Während Premierminister Erdogan vier Tage durch Nordafrika reiste, hielten Präsident Abdullah Gül und der stellvertretende Premierminister Bülent Arınç versöhnliche Reden und trafen sich mit Oppositionsführern.
Arınç ging sogar so weit, sich öffentlich für den Einsatz von Tränengas zu entschuldigen und ein Treffen mit Vertretern der Protestbewegung vom Gezipark abzuhalten. Das Treffen sollte es so aussehen lassen, als ob die Regierung „den Sorgen der Menschen Gehör schenkt“. In Wirklichkeit änderte sich nichts. Es wurden keine echten Zugeständnisse gemacht. Arınç erklärte, dass das Bauvorhaben am Gezipark „gestoppt wurde“, sagte aber nicht dass es aufgegeben worden war. Er versprach eine „umfassende Untersuchung der Verantwortlichen der Polizeigewalt“ gegen die Polizeigewalt. Außerdem erklärte er, dass „die Polizei nicht einschreiten wird, außer die Demonstranten setzen Gewalt ein, oder beschädigen öffentliches Eigentum.“ Ein leeres Versprechen, das in Istanbul nur teilweise respektiert wird, anderswo offen gebrochen wird.
Dies sind in Wirklichkeit leere Worte, um die Bewegung zu entschärfen. Sie zeigen, dass die Herrschende Clique Angst davor hat, die Bewegung zu provozieren und sie vollkommen eskalieren zu lassen.
Als die Vertreter der Platzbesetzung das Treffen verließen, verdeutlichten sie dass sich die Bewegung nicht mehr nur auf die Frage des Geziparks bezieht, sondern auch „auf die Haltung gegen die Kriegspolitik der Regierung, auf das Bedürfnis nach Frieden, auf die Bedürfnisse unserer Alewitischen Mitbürger, auf die berechtigten Anliegen der Opfer der städtischen Transformation, auf die Stimmen gegen konservative männliche Politiker die weibliche Körper kontrollieren wollen, auf den Widerstand gegen die Ansprüche der Regierung an Hochschulen, Justiz und Kunst, auf die Angriffe gegen die Rechter der ArbeiterInnenklasse inklusive den ArbeiterInnen von Turkish Airlines, auf den Kampf gegen jede Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung und auf die Beseitigung aller Hindernisse für den Zugang aller Menschen zu Bildung und gesundheitlicher Fürsorge.“
Im Grunde genommen sagen sie, dass die Bewegung gegen die gesamte Regierungspolitik ist. Das heißt aber auch, dass die Regierung keinen Raum hat, um wirkliche Zugeständnisse machen zu können, die alle Forderungen der Protestierenden erfüllen.
Darüber hinaus sind die Worte Arınçs heuchlerisch und doppelzüngig, gemacht um die öffentliche Meinung zu täuschen. Die echte Politik der reaktionären Regierung findet nicht in Arınçs Erklärungen statt. Sie findet auf der Straße statt, sie bedeutet die brutale Niederschlagung der Demonstrationen außerhalb Istanbuls. Zum Beispiel in Ankara: Hier wurde eine Gewerkschaftsdemonstration ohne jede Provokation einfach von der Polizei angegriffen (video). In Adana, Dersim, Antakya und anderen Städten griff die Polizei ebenfalls Demonstrationen an. In Antakya richteten sich die Attacken gegen die Begräbnisfeier Abdullah Cömerts, den 22-jährigen CHP-Jugendaktivisten, der zwei Tage vorher erschossen wurde.
In Izmir marschierten zehntausend Menschen, vor allem Jugendliche unter lautem Applaus und anfeuernden Zurufen von den Balkonen der Anwohner. Sie brüllten Slogans gegen den „chemischen Erdogan“, gegen die „gekauften Medien“, skandierten: „Schulter an Schulter gegen Faschismus“ und forderten den Rücktritt der Regierung. Am Ende wurden sie von der Polizei mit Tränengas und Wasserwerfern attackiert, die Auseinandersetzungen dauerten bis tief in die Nacht.
Das ist das wahre Gesicht der AKP-Regierung. Lächeln und Handschlag für die Kameras, Tränengas und Wasserwerfer für die Straße. Die Polizeigewalt ist in Istanbul etwas zurückgegangen, weil hier das Zentrum der Bewegung ist. Die Regierung befürchtet, dass mehr Repression nur einen grössere Antwort provozieren würde. Sie versuchen, die Bewegung zu spalten und zu zermürben und warten nur auf den richtigen Augenblick, und mit eiserner Faust zuzuschlagen.
Zur gleichen Zeit will die Regierung den Anschein bewahren, ansprechbar für die Bewegung zu sein. Listig wie sie sind, versuchen sie die Bewegung in „legitime und ehrliche“ Demonstranten und „Plünderer und Radikale“ die „gewalttätig sind und Eigentum zerstören“, zu spalten. Wie heuchlerisch! Die Gewalt der Demonstranten war nur eine Antwort auf die brutale Polizeigewalt gegen unbewaffnete friedliche Demonstranten!
Die Regierung verbreitet gleichzeitig die These, dass eine geheime Verschwörung von ausländischen Agenten und Terroristen hinter der Bewegung steht. In Izmir überfiel die Polizei 26 Häuser und nahm dutzende Jugendliche fest, die „Fehlinformationen verbreiten“ und in sozialen Medien zu „Revolten anstiften“. Das sind im Grunde genommen nur junge Leute, die Facebook und Twitter nutzen, um sich für die nächsten Demonstrationen abzusprechen.
Gleichzeitig wurden in verschiedenen Landesteilen zwölf Ausländer verhaftet. Ihr Verbrechen? Teilnahme an Demonstrationen. Das sind wohl kaum die genannten „ausländischen Agenten“; einer ist Austauschstudent im Erasmusprogramm, zwei andere sind Iranische Flüchtlinge, die an der Bewegung gegen ihr Regime teilnahmen.
Die Gesten des Zugeständnisses von Arınç sind für Erdogan bereits zu viel. Er machte deutlich, dass die Ottomanische Artilleriekaserne im Gezipark gebaut wird, ohne Wenn und Aber. Er kritisierte offen die Gespräche zwischen seinem Stellvertreter und der Taksim-Plattform: „Die Logik ‚Wenn ich nehme, muss du geben,‘ ‚Wenn du gibt, will ich das‘, hat keinen Platz im Staat.“
Die arrogante Haltung Erdogans kann die Situation für die Regierung verschlechtern. Er nutzt seine Rückkehr ins Land, um Stärke zu zeigen, indem er seine Anhänger versammelt. In Rezi, seiner Heimatstadt, hat eine Gruppe AKP-Anhänger bereits eine kleine Gruppe von Demonstranten attackiert. Jede Bewegung in diese Richtung kann die Bewegung neu entfachen – mit erneuerter Kraft.
Im Moment ist die Bewegung führerlos und ohne klaren Fokus oder Strategie. An den Plätzen, an denen die Polizei nicht einschreitet, herrscht Feststimmung. Bis zu einem gewissen Grade kann man von Karnevalsstimmung auf dem Taksimplatz sprechen. Eine Bibliothek wurde aufgebaut, die Menschen diskutieren ihre Ideen, teilen ihre Erfahrungen. Nach der brutalen Repression der ersten Tage ist das eine willkommene Atempause.
Ein Genosse aus Izmir beschreibt die Situation so: „Nach der Arbeit versammeln sich tausende auf einem Platz im Stadtzentrum. Sie entspannen, singen, reden, trinken. Manchen skandieren Parolen. Da draußen herrscht ein großartiger Geist der Solidarität. Jeder versucht, zu helfen wo er kann, jeder teilt alles, Essen, Medikamente, Bücher… So wie es sein sollte.“ Wo es möglich ist, genießen die Massen die Freiheit des ersten, hart erkämpften Freiraums.
Aber: Das wird nicht ewig so bleiben. Entweder die Bewegung geht weiter und fordert die Bewegung heraus, oder die Bewegung verschwindet langsam. In beiden Fällen wird die Repression zunehmen.
Die Kurdenfrage
Ein anderer Genosse aus Istanbul beschrieb den Geist der Solidarität, der zwischen den Demonstranten der verschiedenen politischen Gruppierungen, vereint im gemeinsamen Kampf gegen die Repression und die reaktionäre AKP-Regierung herrscht. „Ich war Augenzeuge eines herzerwärmenden und hoffnungsvollen Zwischenfalls. Da war also eine Gruppe mit 50 Mitglieder der kurdischen BDP. Sie schwenkten Kurdische Flaggen, Flaggen der PKK und Flaggen mit dem Bild von Abdullah Öcalan. Dann hat jemand aus der Gruppe jemanden erkannt, der auf dem Platz umherlief. Er begrüsste seinen Bekannten. Danach fragte der Kurde seinen Freund, ob er ein Foto davon machen könne, wie er eine Flagge mit Öcalans Bild hielte. Der Bekannte sagte: ‚OK, ich mache das Foto. Eigentlich bin ich ein türkischer Nationalist, aber heute sind wir alle Brüder‘.“
Die zeigt, was wir in anderen Artikel immer und immer wieder behaupteten: Nationalismus, Rassismus und Chauvinismus können im Kampf verschwinden. Sie sind aber nicht komplett verschwunden. In der nächsten Periode können sie ihr hässliches Gesicht wieder zeigen.
Die Kurdische Bewegung ist im über die Frage der Proteste gespalten. Bekannte Führer der BDP, wie z.B. Onder, befanden sich seit dem Beginn der Bewegung auf dem Taksimplatz. Er wurde beim Versuch die Bulldozer zu stoppen verletzt und ins Krankenhaus eingeliefert. Andere wiederum befürchten, dass jeder Angriff auf die AKP die Friedensverhandlungen mit der PKK torpedieren könnte.
So sagte zum Beispiel der Präsident der BDP, Selahattin Demirtas, er unterstütze die legitimen Proteste der Leute, und lehne die Repression ab. Aber er würde nicht „die Rassisten, Faschisten und Nationalisten auf dem Taksimplatz“ unterstützen. Er warnte davor, dass in der Anti-AKP-Bewegung Elemente wären, die den Friedensprozess auffliegen lassen wollen.
Das ist eine extrem kurzsichtige Herangehensweise. Der einzige Weg, um Freiheit und demokratische Rechte für die Kurden zu erreichen, führt über eine revolutionäre Bewegung in der Türkei. Erdogan startete den Friedensprozess mit der PKK aus reaktionären Gründen. Er will die Kurden im Irak und in Syrien benutzen, um im mittleren Osten Einfluss und Märkte der Türkei zu erweitern. Für ihn sind die nationalen und demokratischen Rechte der Kurden das Wechselgeld, dass er für seinen Traum von regionaler Dominanz eintauscht. Genauso wie er die Hisbollah gegen Israel unterstütze, und jetzt Israel und die Freie Syrische Armee gegen Assad und die Hisbollah, kann er morgen wieder die Seiten wechseln, wenn es ihm passt. Der einzige Gott Erdogans ist das Geld; die einzigen nationalen Interessen die er vertritt, sind die der Börse.
Die Einheit im Kampf der Kurden, Türken, Alewiten und anderer nationalen und religiösen Gruppen in der Türkei und der Region ist der einzige Weg um echte Demokratie, nationale Selbstbestimmung und vor allem soziale Befreiung zu erreichen.
Wohin mit der Bewegung?
Die Streikaktionen am 4. und am 5. Juni zeigten das existierende Potential auf. Die Bewegung muss organisierter und reifer werden. In einem Interview für eine britische Zeitung drückte es ein KESK-Gewerkschafter sehr präzise aus:
„Dieser Aufstand ist nicht ordentlich organisiert. Die richtige Richtung einzunehmen, ist unter diesen Umständen sehr schwierig. Die Gewerkschaften und Gewerkschaftsbünde sollten die Rebellion mit einem Generalstreik unterstützen, um die Bewegung zu unterstützen und aufzubauen. Die organisierte ArbeiterInnenklasse hat die Möglichkeit, den richtigen Weg intuitiv zu finden. Leider ist die arbeitende Klasse als ‚politischer Akteur‘ der Rebellion noch nicht beigetreten.“
Für diesen Zweck müssen Aktionskomitees gegründet werden. So kann der Rebellion eine verantwortliche demokratische Struktur gegeben werden, mit Vertretern von Arbeitsplätzen, Fabriken, Nachbarschaften, Schulen und Universitäten. Es müssen Vorbereitungen getroffen werden um einen politischen Streik aller Werktätigen zu führen, um diese Regierung zu stürzen.