Im Kontext der globalen Wirtschaftskrise entstehen weltweit Bewegungen, die sich gegen die zunehmende Verschlechterung der Lebensbedingungen wehren. Selbst in der kanadischen Provinz Québec finden – von den hiesigen Medien weitgehend ignoriert – riesige Uniproteste statt. Von Yola Kipcak.
Was vor 4 Monaten als StudentInnenstreik gegen die Erhöhung von Studiengebühren begonnen hat, hat längst eine politische Krise der Regierung ausgelöst. Mittlerweile beginnt die Protestwelle auch die restliche Bevölkerung mitzureißen.
Wie überall wurden auch in Kanada im letzten Jahr umfassende Sparmaßnahmen seitens der liberalen Regierung beschlossen. Unter anderem sollen die Studiengebühren in Québec über die nächsten 7 Jahre um 82% angehoben werden. Gegen diese Erhöhung lehnen sich die Studierenden auf, vor allem angesichts der Millionen, welche unterdes in Bankenrettung und die korrupte Bauindustrie fließen. Nachdem Kampagnen und Demonstrationen monatelang von der Regierung übergangen worden waren, entschieden sich die Studierenden für einen unbefristeten Streik. Am 13. Februar machte die Université Laval den Anfang. Nur 10 Tage später befanden sich offiziell bereits 40.000 StudentInnen im Streik – eine Zahl, die binnen weniger Wochen auf fast 180.000 anwuchs.
Organisation
Dies war möglich, da die fortschrittliche Studierendenvertretung ASSÉ aktiv für einen Streik eintrat, in Versammlungen die Studierenden über einen Streik abstimmen ließ und ihnen so die Möglichkeit gab ihrem Unmut einen bewussten Ausdruck zu geben. Universitäten, an denen ASSÉ stark ist, dienten als Vorbild für etliche andere Bildungseinrichtungen. So breiteten sich die Streiks schnell aus. Aus ASSÉ und anderen unabhängigen Assoziationen bildete sich das Bündnis CLASSE, welches die eher konservativen Vertretungen FEUQ und FECQ dazu brachte, die Streiks zu unterstützen. Bei der Planung hilfreich waren zudem organisatorische Struktur und politische Tradition der Studierendenvertretungen. Nach direkt-demokratischem Prinzip entscheiden gewählte RepräsentantInnen auf Generalversammlungen wöchentlich über das weitere Vorgehen. In kollektiver Zusammenarbeit, u.a. in freiwilligen Streikkomitees, wurde ein breites Spektrum an Demonstrationsformen an den Tag gelegt, was es der Regierung in den folgenden Wochen verunmöglichte, die Proteste einfach „auszusitzen.“ Am 22. März zog ein Marsch von etwa 300.000 Menschen durch Montreal und übertraf damit die großen Demonstrationen gegen Kanadas Beteiligung am Irakkrieg 2003.
Die Regierung Jean Charests begann daraufhin alle Register zu ziehen, um die Streiks zu brechen: Im April wurden gerichtliche Verfügungen erlassen, welche die Streiks für illegal erklärten. So wurde verboten, Streikposten zu errichten und den Universitätsbetrieb zu stören. Lehrende wurde beordert vor leeren Hörsälen zu unterrichten. Doch trotz enormem Polizeiaufgebot und rechtlichen Drohungen blieben die Verordnungen völlig wirkungslos – sie wurden einfach ignoriert. Lehrende solidarisierten sich nun mit den Protesten und weigerten sich, zu unterrichten. Sie stellten somit den ersten wichtigen Bündnispartner der Studierenden dar.
Auch die zwei größten Gewerkschaften Québecs, CSN und CUPE, stellten sich auf die Seite der Studierenden. Dieser Schnittpunkt ist von größter Wichtigkeit, um die Interessen der Studierenden mit denen der ArbeiterInnen zu verknüpfen und der Bewegung somit ökonomische Schlagkraft zu geben. CLASSE erkannte diese Notwendigkeit früh, als sie zu einem „Sozialen Streik“ gemeinsam mit den ArbeiterInnen Québecs aufrief. Konkrete Maßnahmen, um diesem Aufruf gerecht zu werden, blieben jedoch vorerst aus.
Indes wurde seitens der Regierung und der Industrie mit allen Mitteln versucht, die Proteste in den Medien zu diskreditieren. Vor allem CLASSE, die sich offen zu der Methode des zivilen Ungehorsams bekennt, wurde öffentlich attackiert und so deren Ausschluss von Verhandlungen mit der Bildungsministerin Line Beauchamp gerechtfertigt. Der Versuch, die Bewegung dadurch in zwei Lager – „radikale“ CLASSE vs. „gemäßigte“ FEUQ/FECQ – zu spalten, schlug allerdings fehl, als letztere Verhandlungen ohne CLASSE ablehnten. Nachdem Verhandlungen mit allen drei Vertretungen scheiterten und das dürftige Angebot der Regierung mit niederschmetternder Mehrheit, auch von nicht-streikenden Studierenden, abgelehnt wurde, sah sich die Bildungsministerin dazu gezwungen am 14. Mai von ihrem Amt zurückzutreten.
Repression
Die Bewegung hatte den Konflikt erfolgreich auf eine politische Ebene katapultiert und die Regierung in eine Ecke gedrängt. Die Summen, die in den vergangenen Monaten für Polizeieinsätze ausgegeben wurden, übersteigen längst die zu erwartenden zusätzlichen Einnahmen aus der Erhöhung der Studiengebühren. Es ist eindeutig, dass es in diesem Konflikt längst nicht mehr nur um höhere Budgeteinnahmen geht, sondern um eine politische Machtfrage. Die Regierung weiß, dass sie diesen Kampf gewinnen muss, koste es was es wolle. Streicht sie die Erhöhung der Studiengebühren, gibt es keinen Grund für den Rest der Bevölkerung die massiven Sparmaßnahmen einfach hinzunehmen. Ein Dominoeffekt an Forderungen wäre eine mögliche Folge. Die Härte und Gewalttätigkeit mit der Regierung und Polizei die Bewegung zu unterdrücken versuchen (über 2700 Festnahmen seit Februar, viele Verletzte und zwei Studenten, die bei Auseinandersetzungen mit der Polizei gar ein Auge verloren!), dient jedoch nur als Ansporn für die Menschen, eine derartige Politik nicht hinzunehmen und sich stattdessen mit den Protesten zu solidarisieren. Das zeigte sich besonders nach dem Erlass der Bill 78 am 18. Mai. Dieses Gesetz stellt so tiefe Eingriffe in die Grundrechte dar – Versammlungsverbot für mehr als 50 Leute um Bildungseinrichtungen, Einschnitte in das Demonstrationsrecht für ganz Québec, exorbitant hohe Strafen für das Initiieren von Widerstand u.a. – dass am 22. Mai, dem 100. Tag des Streiks, aus Protest ein illegaler ziviler Ungehorsam von bis dato ungesehenem Ausmaß stattfand: Zwischen 250.000 und 350.000 (18 – 24 % der Einwohner Montreals) marschierten durch die Stadt.
Ahorn-Frühling
Am 24. Mai wurde einer der inzwischen regelmäßig stattfindenden, nächtlichen Märsche erstmals begleitet von „Caserolaz“-Protesten (span. „Topf“, eine Protestform in Chile der 1970er). Dabei zogen Familien und Menschen allen Alters in vielen Nachbarschaften topf- und pfannenschlagend durch die Straßen. Sie sind ein Ausdruck dafür, dass die Protestwelle nun alle Schichten der Bevölkerung durchdrungen hat. In kanadischen Medien wird in Anlehnung an den Arabischen Frühling bereits von printemps érable („Ahorn Frühling“) gesprochen.
Die Grundlage für eine Massenbewegung ist geschaffen. Doch jede Massenmobilisierung stößt irgendwann zwangsläufig an ihre Grenzen (wenn sie nicht auf eine höhere Stufe gehoben wird). Um die Bewegung am Leben zu halten und der Erfüllung der Forderungen – auch über die Frage der Erhöhung der Studiengebühren hinaus – näher zu kommen, müssen die Interessen der Studierenden mit denen der ArbeiterInnen verbunden werden, mit dem Ziel eines gemeinsamen Streiks gegen das Sparpaket. Außerdem müssen Québecs Proteste auf das englischsprachige Kanada ausgeweitet werden. Unsere GenossInnen von der marxistischen Zeitung „Fightback“ waren die ersten, die politische Initiativen in diese Richtung setzten. Solidaritätsveranstaltungen in Ontario und Toronto lockten hunderte Menschen an, was die Bereitschaft, aktiv zu werden widerspiegelt. Es liegt an Gewerkschaften und Studierendenvertretungen im anglophonen Kanada, die Führung zu übernehmen und zum Streik aufzurufen.
Kanada ist ein gutes Beispiel, dass auch in Staaten, die bisher relativ gut durch die Krise gekommen sind, soziale Massenbewegungen möglich sind. In Österreich scheint der Unmut derzeit noch zu schlummern. Doch, wer weiß, was der nächste Frühling bringt?
Solidaritätserklärung der GPA-djp Studierenden zu den Studierendenprotesten in Québec