Der folgende Text wurde 2017 von Alan Woods als Vorwort zur schwedischen Ausgabe von Staat und Revolution geschrieben. Er behandelt den Charakter des bürgerlichen Staates und die Rolle der Sozialdemokratie in Schweden.
Ich bin von meinen schwedischen Genossen gebeten worden, ein kurzes Vorwort zu Lenins Staat und Revolution zu schreiben – eine Aufgabe, der ich angesichts der enormen Bedeutung dieses Werkes für den weltweiten Kampf für den Sozialismus gerne zugestimmt habe. Seltsamerweise ist die Frage des Staates, trotz ihrer kolossalen Bedeutung etwas, das normalerweise nicht einmal die fortgeschrittensten Arbeiter beschäftigt.
Das ist kein Zufall. Der Staat wäre für die herrschende Klasse nutzlos, wenn die Menschen nicht glauben würden, dass er etwas Harmloses, Unparteiisches und über den Interessen von Klassen oder Individuen Stehendes ist – etwas, das „einfach da“ ist und als selbstverständlich angesehen werden kann.
Genau aus diesem Grund liegt es nicht im Interesse des Establishments, die Aufmerksamkeit der Massen auf den wahren Inhalt jener Institutionen zu lenken, die wir den Staat nennen. Die Verfassung, die Gesetze, die Armee, die Polizei oder das „Justiz“-System – all diese Dinge sind im gegenwärtigen System, das sich „Demokratie“ nennt, praktisch tabu. Es wird fast nie gefragt, warum es diese Institutionen gibt, oder wie und wann sie ersetzt werden könnten. Jede ernsthafte Diskussion über sie gilt als unangebracht, inakzeptabel oder geschmacklos – ähnlich wie in einer Kirche zu fluchen. Letztendlich ist der Staat „unser aller Eigentum“. Nicht wahr?
Aber die Dinge sind selten so, wie sie scheinen. Der Marxismus hat gezeigt, dass der Staat (d.h. jeder Staat) ein Instrument zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andere ist. Der Staat kann nicht neutral sein. Schon im Kommunistischen Manifest, das vor über 150 Jahren geschrieben wurde, erklären Marx und Engels, dass der Staat „nur ein Ausschuß [ist], der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet“. Und das ist tatsächlich der Fall. Wer dieses Produktionssystem kontrolliert, kontrolliert letztlich auch die Staatsmacht. Die Ursprünge der Staatsmacht sind in den Produktionsverhältnissen und nicht in persönlichen Charaktereigenschaften begründet.
In frühen menschlichen Gesellschaften hing die Autorität des Stammeshäuptlings von seiner Tapferkeit im Kampf ab, die der Stammesältesten von ihrer Weisheit usw. Heutzutage jedoch wird der Staat von einer Armee gesichtsloser Individuen, anonymer Bürokraten und Funktionäre geführt, deren Autorität durch das Amt, das sie bekleiden, und die Titel, die ihnen zugesprochen wurden, verliehen wird. Der Staatsapparat ist ein entmenschlichtes Monster, das zwar theoretisch den Menschen dient, in Wirklichkeit aber als ihr Herr und Meister über ihnen steht.
Die staatliche Macht in Klassengesellschaften ist notwendigerweise zentralisiert, hierarchisch und bürokratisch. Ursprünglich hatte sie einen religiösen Charakter und war mit der Macht der Priesterkaste verflochten. An ihrer Spitze stand der Gottkönig, und unter ihm ein Heer von Beamten, die Mandarine (Bürokratenwissenschaftler), die Schreiber, Aufseher usw. Die Schrift selbst wurde als eine geheimnisvolle Kunst, die nur diesen wenigen bekannt war, mit Ehrfurcht betrachtet. So werden die Ämter des Staates von Anfang an mystifiziert und die realen sozialen Beziehungen erscheinen in einem verfremdeten Gewand.
Das ist immer noch der Fall. In Großbritannien wird diese Mystifizierung bewusst durch Zeremonien, Prunk und Tradition kultiviert. In den USA wird sie mit anderen Mitteln gefördert: dem Kult um den Präsidenten, der die personifizierte Staatsmacht darstellt. Jede Form von Staatsmacht bedeutet die Vorherrschaft einer Klasse über den Rest der Gesellschaft. Selbst in ihrer demokratischsten Form steht sie für die Diktatur einer einzigen Klasse – der herrschenden Klasse -, der Klasse, die die Produktionsmittel besitzt und kontrolliert.
Die Frage des Staates ist für Marxisten seit jeher von grundlegender Bedeutung und nimmt einen zentralen Platz in einigen der wichtigsten Texte des Marxismus ein, wie z. B. “Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates” von Friedrich Engels und “Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte” von Karl Marx. Engels fasst seine historische Analyse des Staates wie folgt zusammen:
„Der Staat ist also keineswegs eine der Gesellschaft von außen aufgezwungne Macht; ebensowenig ist er „die Wirklichkeit der sittlichen Idee“, „das Bild und die Wirklichkeit der Vernunft“, wie Hegel behauptet. Er ist vielmehr ein Produkt der Gesellschaft auf bestimmter Entwicklungsstufe; er ist das Eingeständnis, daß diese Gesellschaft sich in einen unlösbaren Widerspruch mit sich selbst verwickelt, sich in unversöhnliche Gegensätze gespalten hat, die zu bannen sie ohnmächtig ist. Damit aber diese Gegensätze, Klassen mit widerstreitenden ökonomischen Interessen nicht sich und die Gesellschaft in fruchtlosem Kampf verzehren, ist eine scheinbar über der Gesellschaft stehende Macht nötig geworden, die den Konflikt dämpfen, innerhalb der Schranken der „Ordnung“ halten soll; und diese, aus der Gesellschaft hervorgegangne, aber sich über sie stellende, sich ihr mehr und mehr entfremdende Macht ist der Staat.“ (Friedrich Engels: „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“, MEW 21 S. 165)
Nach Engels‘ bahnbrechendem Werk ist Lenins Staat und Revolution, eines der wichtigsten Werke des 20. Jahrhunderts, zweifellos das Werk, das das Wesen der marxistischen Staatstheorie am besten erklärt. Es wurde im Sommer 1917 in der Hitze der russischen Revolution geschrieben und ist ein Schlüsselwerk des Marxismus. Darin erklärt Lenin, dass der Staat, von allem Unwesentlichen befreit, letztlich aus „Formationen bewaffneter Menschen“ besteht: der Armee und der Polizei. Er ist ein Organ der Unterdrückung einer Klasse gegen eine andere.
Die Reformisten und der Staat
Die bürgerliche Rechtstheorie betrachtet den Staat als unparteiischen Schiedsrichter, der über den Klassen und Partikularinteressen steht. Diese Auffassung wird von den Reformisten aller Couleur geteilt. Sie ignoriert jedoch die grundlegende Tatsache, dass das Wesen jedes Staates mit seinen bewaffneten Verbänden, seiner Polizei, seinen Gerichten und anderen Insignien darin besteht, dass er den Interessen einer Klasse in der Gesellschaft dient, im Falle des Kapitalismus: der Kapitalistenklasse.
Der berühmte französische Schriftsteller Anatole France schrieb: „Das Gesetz, in seiner majestätischen Gleichheit, verbietet den Reichen wie den Armen, unter Brücken zu schlafen, auf der Straße zu betteln und Brot zu stehlen.” Jahrhunderte zuvor hatte Solon der Große, der Autor der Verfassung von Athen, jemand der sich mit Verfassungen und Gesetzen etwas auskannte, die folgende Feststellung getroffen: „Das Gesetz ist wie ein Spinnennetz; die Kleinen werden gefangen, und die Großen zerreißen es.“ Diese Worte zeigen die Realität der bürgerlichen Rechtsordnung mit erbarmungslosem Scharfsinn.
In einem Regime der formellen bürgerlichen Demokratie wie in Schweden kann jeder (mehr oder weniger) sagen, was er will, solange die Banken und großen Monopole entscheiden, was geschieht. Mit anderen Worten: Die bürgerliche Demokratie ist nur ein anderer Ausdruck für die Diktatur des Großkapitals. Diese Behauptung lässt sich leicht durch die jahrzehntelangen Erfahrungen sozialdemokratischer Regierungen belegen.
In Schweden hat die Sozialdemokratie immer noch eine Massenbasis. Sie war die meiste Zeit des vergangenen Jahrhunderts an der Macht und hat viele wichtige Reformen durchgeführt. Dies war möglich, weil der schwedische Kapitalismus in der Lage war, Zugeständnisse zu machen, während die schwedische Arbeiterklasse mit ihren mächtigen Organisationen solche Maßnahmen fordern konnte und dies auch tat. Aber die Sozialdemokratie war immer darauf bedacht, die Leitung und Kontrolle der Gesellschaft in den Händen der Bankiers und Kapitalisten zu belassen. Nun aber, da sich die Bedingungen geändert haben, steht die schwedische Arbeiterklasse nicht vor Reformen, sondern vor Gegenreformen.
Im Laufe der Jahrzehnte, insbesondere in Zeiten des Wohlstands und der relativen Klassenruhe, bildet sich eine dicke Kruste von Bürokratie, die als mächtige Bremse für die Arbeiterbewegung wirkt und somit die Hauptverteidigungslinie der Kapitalistenklasse darstellt. Dies ist insbesondere in Schweden der Fall. So wie sich der Staat über die Gesellschaft erhebt, so erhebt sich die reformistische Bürokratie der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften über die Arbeiterklasse und beherrscht sie.
Die schwedische Sozialdemokratie ist eng mit dem bürgerlichen Staat verbunden, den sie eifrig hütet. Der bürokratische Apparat der Sozialdemokratischen Partei, der SSU und des Gewerkschaftsbundes LO, ist in der Tat das Spiegelbild des bürgerlichen Staates. Oberflächlich betrachtet sind sie „demokratisch“, aber in Wirklichkeit sind sie das genaue Gegenteil von Demokratie. Die Sozialdemokratie stellt einen Repressionsapparat dar, der wie ein Polizist agiert, der seit langem jede ernsthafte Meinungsverschiedenheit und Opposition rücksichtslos unterdrückt und revolutionäre Marxisten mit einem Eifer und einer Effizienz verfolgt und ausschließt, um die ihn der KGB beneiden würde.
Der fanatische Eifer bei der Hexenjagd auf oppositionelle Tendenzen ist nicht das Ergebnis einer Hingabe an die Grundsätze der Demokratie. Vielmehr ist er Ausdruck des glühenden Wunsches, die materiellen Interessen einer aufgeblähten und verwöhnten Funktionärskaste zu schützen, die die Partei und die Jugend kontrolliert. Auch in dieser Hinsicht ist die Sozialdemokratie dem bürgerlichen Staat, dem sie so treu dient, sehr ähnlich.
Die schwedische Linkspartei entstand 1917, als der linke Flügel der sozialdemokratischen Partei wegen seiner Kritik am Rechtsruck der Partei ausgeschlossen wurde. Der Jugendabteilung wurde vorgeworfen, eine „Partei in der Partei“ zu sein, da sie sich weigerte, ein Verbot interner Kritik zu akzeptieren. Unter dem Einfluss der Russischen Revolution bewegte sich die neu gegründete Partei zunächst schnell in eine marxistische Richtung. Die Linkspartei hat jedoch längst ihre revolutionären Ursprünge verloren und wurde jahrzehntelang zu einem treuen Gefolgsmann und Papagei der Sowjetunion und der Moskauer Stalinisten degradiert.
In jüngster Zeit haben sie zunehmend die Sozialdemokraten unterstützt und ihnen geholfen, indem sie ihren Kürzungen einen linken Anstrich gaben. Ironischerweise gibt es gerade in der Linkspartei Drohungen gegen revolutionäre Marxisten wegen ihrer Kritik an der Politik der Führung. Nach jahrzehntelanger Arbeit in den bürgerlichen Parlamenten haben sie sich an die Bedingungen der bürgerlichen Politik angepasst und haben oft mehr mit den Berufspolitikern der Sozialdemokraten gemeinsam als mit den Arbeitern, die einst das Rückgrat der Partei bildeten.
Der Staat in Schweden
Während die britische herrschende Klasse ihre Herrschaft hinter einem dicken Vorhang aus Tradition, Pomp und Zeremoniell verbirgt, der aus der mittelalterlichen Barbarei stammt, hat die schwedische Bourgeoisie einen raffinierteren und „moderneren“ Ansatz. Der schwedische Staat erscheint sympathischer, menschlicher und demokratischer. Es ist kein Zufall, dass die schwedischen Behörden die ersten in der Welt waren, die die förmliche Anrede zwischen Chefs und „einfachen Arbeitern“ abschafften und sich nur noch mit dem formlosen „du“ oder mit dem Vornamen ansprachen.
Aber trotz aller Höflichkeit bleiben die Chefs Chefs und die Arbeiter Arbeiter. Die „Höflichkeit“ der Form soll den wahren Inhalt der Klassenspaltung, Unterdrückung und Ausbeutung verschleiern. Sie ist ebenso eine Täuschung und eine Illusion wie der mittelalterliche Müll, mit dem der britische Staat geschönt wird, um seine wahre Natur zu verschleiern.
In Schweden sitzen die Illusionen in die bürgerliche Demokratie tief. Diese Tatsache ist auf materielle Bedingungen zurückzuführen. Der schwedische Kapitalismus hat eine lange Periode des Wirtschaftswachstums erlebt, die es ihm ermöglichte, der Arbeiterklasse bestimmte Zugeständnisse zu machen und so den Klassenkampf abzuschwächen und die Illusion einer friedlichen demokratischen Gesellschaft zu schaffen.
In Wirklichkeit ist der Staat organisierte Gewalt. Das gilt für einen demokratischen Staat wie Schweden genauso wie für jeden anderen. Der einzige Unterschied ist, dass die Realität geschickt hinter der lächelnden Maske der bürgerlichen Demokratie verborgen wurde. Aber diese Illusion wird in der turbulenten Periode, die sich jetzt international auftut und von der Schweden nicht isoliert bleiben kann, nicht bestehen bleiben.
Wenn man sich ein genaues Bild von der Natur des schwedischen Staates machen will, muss man nur jene Migranten befragen, die Opfer von Polizeigewalt geworden sind. Es wird sofort deutlich, dass die Polizei keineswegs unparteiisch gegenüber Einwanderern ist und auch nicht unparteiisch gegenüber Faschisten und Antifaschisten. Die Fakten sprechen für sich.
In Malmö griff die Polizei 2014 eine friedliche antifaschistische Demonstration gewaltsam an. Die Demonstration wurde von der Polizei nicht gewarnt, bevor die berittene Polizei gemeinsam mit gepanzerten Bussen in die ahnungslose Menge fuhr. Zehn Demonstranten wurden später wegen Randalierens verurteilt, unter anderem weil sie eine Plastikflasche nach der Polizei geworfen und sie geschubst hatten – relativ milde Vergehen im Vergleich zum Reiten von Pferden in eine Menschenmenge. In der Zwischenzeit wurden die Voruntersuchungen der Polizei natürlich eingestellt. Dies war eine in einer Reihe von Demonstrationen (Jönköping, Stockholm usw.), bei denen kleine Gruppen von Faschisten von der Polizei geschützt wurden. Auch auf die wiederholten Angriffe auf Moscheen und Flüchtlingsunterkünfte hat die Polizei bisher nicht reagiert.
Während Antifaschisten mit Polizeigewalt und harten Strafen für angeblichen Landfriedensbruch rechnen müssen, werden die Faschisten, die Gewalt auf der Straße provozieren, lediglich mit einem Klaps auf die Hand bestraft. Der Mordversuch an dem linken Aktivisten Showan Shattak im Jahr 2014 führte zu einer Verurteilung wegen „Körperverletzung“ und nur zu drei Jahren Haft für einen Faschisten, während der andere von allen Anschuldigungen freigesprochen wurde. Aus Sicht des bürgerlichen Rechts ist ein Messerstich in den Rücken einer Person „Notwehr“ – wenn man ein Faschist ist. Inzwischen sind zahlreiche Antifaschisten zu Geld- und Haftstrafen von bis zu fünfeinhalb Jahren verurteilt worden, weil sie sich gegen ähnliche faschistische und polizeiliche Angriffe gewehrt haben.
Natürlich hat die schwedische herrschende Klasse in diesem Stadium keine unmittelbare Verwendung für faschistische Banden. Die Interessen der schwedischen Bankiers und Kapitalisten werden sehr gut von anderen, respektableren Kräften geschützt, nämlich den Führern der Sozialdemokratie und der schwedischen Gewerkschaften. Die Nazis und Faschisten stellen winzige Kräfte dar, die von der herrschenden Klasse größtenteils als ein Ärgernis betrachtet werden, das es zu beseitigen gilt. In den letzten Jahren hat sie jedoch begonnen, ihnen einen größeren Handlungsspielraum einzuräumen und sie in gewissem Maße sogar zu ermutigen. Die herrschende Klasse weiß, dass sie ihre Dienste in Zukunft brauchen könnte.
Es muss darauf hingewiesen werden, dass die Gewalt, die die Polizei heute gegen Immigranten einsetzt, morgen gegen die schwedischen Arbeiter und Jugendlichen eingesetzt wird. Die privilegierte Stellung Schwedens im Weltkapitalismus wird nicht ewig andauern. Die eisigen Winde der kapitalistischen Krise werden die letzten Reste des komfortablen Wohlstands wegfegen und zu einer Verschärfung des Klassenkampfes führen.
Wenn die herrschende Klasse die Arbeiterklasse nicht mehr mit „normalen“ Mitteln in Schach halten kann, wird sie nicht zögern, Gewalt anzuwenden. Es wäre fatal, sich diesbezüglich irgendwelche Illusionen zu machen. In dem Maße, in dem die globale Krise des Kapitalismus beginnt, Schweden ernsthaft zu treffen, wird diese Maske fallen und die Realität der polizeilichen Unterdrückung und der staatlichen Gewalt zum Vorschein kommen. Die Illusionen in die Demokratie werden durch den Knüppel eines Polizisten aus den Köpfen der Menschen geschlagen werden.
Die „Diktatur des Proletariats“
Bei der Beschreibung des Übergangszustandes zwischen Kapitalismus und Sozialismus sprach Marx von der „Diktatur des Proletariats“. Dieser Begriff hat zu einem schweren Missverständnis geführt. Heutzutage hat das Wort Diktatur Konnotationen, die Marx unbekannt waren. In einem Zeitalter, das die schrecklichen Verbrechen Hitlers und Stalins kennt, beschwört es alptraumhafte Vorstellungen von totalitären Monstern, Konzentrationslagern und Geheimpolizei herauf. Aber so etwas gab es zu Marx‘ Zeiten noch nicht einmal in der Phantasie.
Für Marx stammte das Wort Diktatur aus der römischen Republik, wo es eine Situation bezeichnete, in der in Kriegszeiten die normalen Regeln für eine vorübergehende Zeit außer Kraft gesetzt wurden. Die Vorstellung einer totalitären Diktatur wie Stalins Russland, in der der Staat die Arbeiterklasse im Interesse einer privilegierten Kaste von Bürokraten unterdrückt, hätte Marx zutiefst entsetzt. In Wirklichkeit ist Marx‘ „Diktatur des Proletariats“ lediglich eine andere Bezeichnung für die politische Herrschaft der Arbeiterklasse oder eine Arbeiterdemokratie.
Marx begründete seine Idee der Diktatur des Proletariats mit der Pariser Kommune von 1871. Die Kommune war eine glorreiche Episode in der Geschichte der weltweiten Arbeiterklasse. Zum ersten Mal stürzten die Volksmassen mit den Arbeitern an ihrer Spitze den alten Staat und begannen zumindest mit der Umgestaltung der Gesellschaft. Ohne klar definierten Plan, ohne Führung und ohne Organisation zeigten die Massen ein erstaunliches Maß an Mut, Initiative und Kreativität. Doch letztlich führte das Fehlen einer mutigen und weitsichtigen Führung und eines klaren Programms zu einer furchtbaren Niederlage.
Marx und Engels zogen eine gründliche Bilanz der Kommune und wiesen auf ihre Fortschritte, aber auch auf ihre Fehler und Mängel hin. Diese lassen sich fast alle auf das Versagen der Führung zurückführen. Die Führer der Kommune waren ein gemischter Haufen, der von einer Minderheit von Marxisten bis zu Elementen reichte, die dem Reformismus oder Anarchismus näher standen. Einer der Gründe für das Scheitern der Kommune war, dass sie keine revolutionäre Offensive gegen die reaktionäre Regierung startete, die sich im nahe gelegenen Versailles eingerichtet hatte. Dies gab den konterrevolutionären Kräften Zeit, sich zu sammeln und Paris anzugreifen. Mehr als 30.000 Menschen wurden von der Konterrevolution abgeschlachtet. Die Kommune wurde buchstäblich unter einem Berg von Leichen begraben.
Marxismus und Anarchismus
Der moderne Staat ist ein bürokratisches Monster, das einen gewaltigen Teil des von der Arbeiterklasse produzierten Reichtums verschlingt. Marxisten stimmen mit den Anarchisten darin überein, dass der Staat ein monströses Instrument der Unterdrückung ist, das beseitigt werden muss. Die Frage ist nur: Wie? Durch wen? Und was wird an seine Stelle treten? Dies ist eine grundlegende Frage für jede Revolution.
Anarchisten lehnen den Staat einfach generell und aus Prinzip ab. Auf den ersten Blick scheint diese Position sehr revolutionär zu sein. Aber in der Praxis stellt sich heraus, dass sie genau das Gegenteil ist. Um dies zu beweisen, müssen wir von der Theorie des Anarchismus zu seiner Praxis übergehen. 1936 erhoben sich die anarchistischen Arbeiter – der mutigste und revolutionärste Teil der spanischen Arbeiterklasse – in einem Aufstand in Barcelona und schlugen die Faschisten nieder, die sich anschickten, sich Francos konterrevolutionärem Aufstand anzuschließen.
In kürzester Zeit hatten die Arbeiter die Kontrolle übernommen. Die Fabriken wurden unter Arbeiterkontrolle besetzt und die einzige Macht in Barcelona waren die bewaffneten Milizen der anarchistischen CNT und der linken POUM. Die alte Staatsmacht war zerstört, und die bürgerlich-nationalistische Regierung der Generalitat hing in der Luft. Die Macht lag faktisch in den Händen der Arbeiterklasse.
Diese Tatsache wurde von Companys, dem Präsidenten der Generalitat, anerkannt. Er lud die anarchistischen Führer in sein Büro ein und wandte sich mit folgenden Worten an sie: „Nun meine Herren, es scheint, dass Sie die Macht haben. Ihr solltet eine Regierung bilden.“ Die Anarchisten lehnten diesen Vorschlag entrüstet ab, weil sie gegen jede Regierung waren. Dies war ein fataler Fehler, der die Revolution zerstörte.
In Wirklichkeit wäre es für die Anarchisten sehr einfach gewesen, eine Arbeiterregierung in Katalonien zu bilden. Man hätte nur einen Kongress von Delegierten einberufen müssen, die von den Fabrikkomitees und Arbeitermilizen gewählt worden wären, und dieser hätte sich dann als revolutionäre Arbeiterregierung konstituiert, die die Arbeiter und Bauern im übrigen Spanien hätte auffordern können, ihrem Beispiel zu folgen.
Wenn den Anarchisten das Wort Regierung oder Staat nicht gefiel, hätten sie es auch Kommune oder etwas anderes nennen können. Aber die einzige Möglichkeit, den Erfolg der Revolution zu garantieren, bestand darin, der faktischen Macht der Arbeiterklasse eine organisierte Form zu geben. Das haben sie abgelehnt. Das Ergebnis war katastrophal. Innerhalb weniger Monate stellte die Bourgeoisie mit Hilfe der Stalinisten den alten Staat wieder her und ging dazu über, die Revolution zu brechen. Im Mai 1937 inszenierten die Stalinisten eine Provokation und schlugen das Proletariat von Barcelona nieder.
Welche Rolle spielten die anarchistischen Führer bei all dem? Nachdem sie sich geweigert hatten, eine Arbeiterregierung in Katalonien zu bilden, schlossen sie sich der bürgerlichen Regierung der Republik an, die gerade dabei war, die Errungenschaften der spanischen Revolution zu vernichten und den Weg für den Sieg Francos zu bereiten. Die anarchistischen Minister (ja, es gab anarchistische Minister!) beteiligten sich aktiv an der Unterdrückung der Revolution in Barcelona. Federica Monseny ging persönlich auf die Barrikaden, um die Arbeiter zur Kapitulation zu überreden. Sie legten ihre Waffen nieder und die Stalinisten starteten sofort eine heftige Offensive gegen die Anarchisten und die POUM. Dies war der Anfang vom Ende der spanischen Revolution.
Dies ist kein Einzelfall. Vor dem Ersten Weltkrieg wurden die französischen Gewerkschaften von den Anarcho-Syndikalisten dominiert. Sie traten für einen Generalstreik gegen den Krieg ein. Aber sobald der Krieg 1914 ausbrach, vergaßen die anarchosyndikalistischen Führer ihre Prinzipien und schlossen sich einer patriotischen Koalition mit der Bourgeoisie an, der sogenannten Regierung der „Heiligen Einheit“ (Union Sacrée).
All dies beweist die Richtigkeit dessen, was Trotzki schrieb, als er sagte, die anarchistischen Theorien über den Staat seien wie ein Regenschirm voller Löcher – nutzlos, genau dann, wenn es regnet. In einer Rede über den Anarchismus während des Bürgerkriegs, der auf die Russische Revolution folgte, fasste Trotzki die marxistische Position zum Staat sehr gut zusammen:
„Die Bourgeoisie sagt: Berühre nicht die Staatsmacht; es ist das heilige Erbprivileg der gebildeten Klassen. Aber die Anarchisten sagen: Berühre es nicht; es ist eine grässliche Erfindung, ein teuflisches Gerät, halte dich davon fern. Die Bourgeoisie sagt, berühre es nicht, es ist heilig. Die Anarchisten sagen: Berühre es nicht, weil es sündig ist. Beide sagen: Fass es nicht an. Aber wir sagen: Fasst sie nicht nur an, nehmt es in eure Hände und nutzt sie in eurem eigenen Interesse, für die Abschaffung des Privateigentums und die Emanzipation der Arbeiterklasse.“ (Leo Trotzki, How The Revolution Armed, Vol. 1, 1918. London: New Park, 1979)
Aus der Erfahrung der Pariser Kommune verallgemeinernd, erklärte Marx, dass die Arbeiterklasse sich nicht einfach auf die bestehende Staatsmacht stützen kann, sondern sie stürzen und zerstören muss. Die grundlegende Position wurde in Staat und Revolution dargelegt, wo Lenin schreibt: „Der Marxsche Gedanke besteht gerade darin, daß die Arbeiterklasse ‚die fertige Staatsmaschine‘ zerschlagen, zerbrechen muß und sich nicht einfach auf ihre Besitzergreifung beschränken darf.“
Gegen die wirren Ideen der Anarchisten argumentierte Marx, dass die Arbeiter einen Staat brauchen, um den Widerstand der Ausbeuterklassen zu überwinden. Aber dieses Argument von Marx ist sowohl von den Bourgeois als auch von den Anarchisten verzerrt worden. Die Arbeiterklasse muss den bestehenden (bürgerlichen) Staat zerstören. In dieser Frage stimmen wir mit den Anarchisten überein. Aber was dann? Um den sozialistischen Aufbau der Gesellschaft zu erreichen, ist eine neue Macht notwendig. Ob man sie nun Staat oder Kommune nennt, ist dabei gleichgültig. Die Arbeiterklasse muss sich selbst organisieren und sich damit als führende Kraft in der Gesellschaft konstituieren.
Die Arbeiterklasse braucht ihren eigenen Staat, aber es wird ein Staat sein, der völlig anders ist als alle anderen Staaten, die es in der Geschichte je gab. Ein Staat, der die große Mehrheit der Gesellschaft repräsentiert, braucht kein riesiges stehendes Heer oder eine riesige Polizeitruppe. In der Tat wird es gar kein Staat sein, sondern ein Halbstaat, wie die Pariser Kommune. Weit davon entfernt, ein bürokratisch-totalitäres Monster zu sein, wird er weitaus demokratischer sein als selbst die demokratischste bürgerliche Republik – und sicherlich weitaus demokratischer als Schweden es heute ist.
In einem Kommentar zu Lenins „Staat und Revolution“ in seinem Buch „Die verratene Revolution“ schrieb Trotzki:
„Dieselbe kühne Anschauung vom Staat der proletarischen Diktatur fand anderthalb Jahre nach der Machteroberung endgültige Gestalt im Programm der bolschewistischen Partei, unter anderem in dem Kapitel über das Heer. Ein starker Staat, aber ohne Mandarine; bewaffnete Gewalt, aber ohne Samurais! Nicht aus den Aufgaben der Verteidigung entstehe die Militär- und Staatsbürokratie, sondern aus dem Klassengefüge der Gesellschaft das sich auch auf den Verteidigungskörper überträgt. Das Heer sei nur ein Abbild der sozialen Verhältnisse. Der Kampf gegen die äußeren Gefahren setze selbstverständlich auch im Arbeiterstaat eine spezialisierte militärisch-technische Organisation voraus, aber keinesfalls eine privilegierte Offizierskaste. Das Programm fordert die Ersetzung des stehenden Heeres durch das bewaffnete Volk.
Das Regime der proletarischen Diktatur höre auf diese Weise schon bei seiner Geburt auf, ein „Staat“ im alten Sinne des Wortes zu sein, d.h. ein besonderer Apparat zwecks Anhaltung der Volksmehrheit zu Gehorsam. Die materielle Macht geht mit den Waffen direkt und unmittelbar in die Hände von Organisationen der Werktätigen, wie der Sowjets über. Der Staat als bürokratischer Apparat beginnt vorn ersten Tage der proletarischen Diktatur an abzusterben.“ (Trotzki 1936, Verratene Revolution, Arbeiterpresseverlag 1997, S. 102)
Der Staat 1917
Der durch die bolschewistische Revolution von 1917 errichtete Arbeiterstaat war weder bürokratisch noch totalitär. Im Gegenteil: Bevor die stalinistische Bürokratie die Kontrolle über die Massen an sich riss, war er der demokratischste Staat, den es je gab. Die Grundprinzipien der Sowjetmacht wurden nicht von Marx oder Lenin erfunden. Sie basierten auf den konkreten Erfahrungen der Pariser Kommune und der Sowjets, die in der Russischen Revolution von 1905 und 1917 organisch entstanden.
Die Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten waren gewählte Versammlungen, die nicht aus Berufspolitikern und Bürokraten, sondern aus einfachen Arbeitern, Bauern und Soldaten bestanden. Es handelte sich nicht um eine fremde Macht, die über der Gesellschaft stand, sondern um eine Macht, die auf der direkten Initiative des Volkes von unten beruhte. Ihre Gesetze waren nicht wie die Gesetze einer kapitalistischen Staatsmacht. Sie war eine ganz andere Art von Macht als die, die in den parlamentarischen bürgerlich-demokratischen Republiken, wie sie in den fortgeschrittenen Ländern Europas und Amerikas noch vorherrschen, üblich ist. In der einen oder anderen Form sind Sowjets, Arbeiterräte oder Embryos von Sowjets in mehr oder weniger jeder Revolution seither spontan entstanden.
Engels erklärte schon vor langer Zeit, dass in jeder Gesellschaft, in der Kunst, Wissenschaft und Regierung das Monopol einer Minderheit sind, diese Minderheit ihre Position für ihre eigenen Interessen nutzen und missbrauchen wird. Lenin erkannte schon früh die Gefahr der bürokratischen Entartung der Revolution unter den Bedingungen allgemeiner Rückständigkeit.
Ein echter Arbeiterstaat hat nichts mit dem bürokratischen Monstrum von heute gemein, und noch weniger mit dem Monster, das im stalinistischen Russland existierte. Lenin war ein erklärter Feind der Bürokratie. Er betonte stets, dass das Proletariat nur einen Staat braucht, der „so beschaffen ist, dass er sofort abzusterben beginnt und nicht anders kann als abzusterben.“ Die Grundbedingungen für die Arbeiterdemokratie wurden in Staat und Revolution dargelegt:
- Freie und demokratische Wahlen mit dem Recht auf Abberufung aller Beamten.
- Kein Beamter darf einen höheren Lohn erhalten als ein Facharbeiter.
- Keine stehende Armee oder Polizei, sondern das bewaffnete Volk.
- Nach und nach sollen alle Verwaltungsaufgaben abwechselnd von allen erledigt werden. „Jeder Koch sollte Premierminister sein können – wenn jeder ein ‚Bürokrat‘ ist, kann niemand mehr ein Bürokrat sein.“
Das waren die Bedingungen, die Lenin festgelegt hat, nicht für den vollständigen Sozialismus oder Kommunismus, sondern für die allererste Periode eines Arbeiterstaates – die Periode des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus. Dieses Programm der Arbeiterdemokratie richtet sich direkt gegen die Gefahr der Bürokratie. Dies wiederum bildete die Grundlage für das Parteiprogramm von 1919.
Der Übergang zum Sozialismus – einer höheren Gesellschaftsform, die auf echter Demokratie und Überfluss für alle beruht – kann nur durch die aktive und bewusste Beteiligung der Arbeiterklasse an der Leitung der Gesellschaft, der Industrie und des Staates erreicht werden. Das ist nichts, was den Arbeitern von gutherzigen Kapitalisten oder Bürokraten-Mandarinen freundlicherweise übertragen wird. Die gesamte Konzeption von Marx, Engels, Lenin und Trotzki beruhte auf dieser Tatsache. Jeder kann sehen, dass dieses Programm vollkommen demokratisch und das genaue Gegenteil von bürokratischer Diktatur ist. Der Sozialismus, wie ihn die Marxisten verstehen, ist demokratisch oder er ist nichts.
Kommunismus oder Stalinismus?
Die Bourgeoisie und ihre Apologeten wollen die Arbeiter und Jugendlichen verwirren, indem sie versuchen, die Idee des Kommunismus mit dem monströsen bürokratischen und totalitären Regime des stalinistischen Russlands gleichzusetzen. „Wollt ihr Kommunismus? Hier ist er! Das ist Kommunismus! Die Berliner Mauer ist Kommunismus! Ungarn 1956 ist Kommunismus! Der sowjetische Gulag ist Kommunismus!“ Nicht nur die Bourgeoisie und die Reformisten, sondern auch die Anarchisten wiederholen diese Argumente. Dies ist eine dumme Verleumdung.
Der von der bolschewistischen Revolution errichtete Arbeiterstaat war das genaue Gegenteil des von Stalin geschaffenen bürokratischen totalitären Monsters. Unter Lenin und Trotzki wurde der Sowjetstaat aufgebaut, um die Heranziehung der Arbeiter zu den Aufgaben der Kontrolle und der Buchhaltung zu erleichtern und den ununterbrochenen Abbau der „Sonderfunktionen“ des Beamtentums und der Macht des Staates zu gewährleisten. Die Gehälter, die Macht und die Privilegien der Beamten wurden strikt begrenzt, um die Bildung einer privilegierten Kaste zu verhindern. Wie Lenin erklärte:
„Die Grundmerkmale dieses Typus sind: 1. Ursprung der Macht ist nicht das vom Parlament beratene und beschlossene Gesetz, sondern die direkte, von unten kommende Initiative der Volksmassen im Lande, die direkte „Usurpation“, um sich des landläufigen Ausdrucks zu bedienen; 2. Ersetzung von Polizei und Armee, als vom Volke getrennter und dem Volk gegenübergestellter Institutionen, durch die direkte Bewaffnung des gesamten Volkes; die Staatsordnung wird bei einer solchen Macht geschützt von den bewaffneten Arbeitern und Bauern selbst, vom bewaffneten Volke selbst; 3. entweder Ersetzung der Beamten, der Bürokratie, wiederum durch die unmittelbare Herrschaft des Volkes selbst, oder zumindest ihre Stellung unter eine besondere Kontrolle, ihre Verwandlung in nicht nur wählbare, sondern auf die erste Forderung des Volkes hin absetzbare einfache Beauftragte; ihre Verwandlung aus einer privilegierten Schicht mit der hohen bourgeoisen Bezahlung ihrer „Pöstchen“ in Arbeiter einer besonderen „Waffengattung“, deren Entlohnung nicht höher ist als der übliche Lohn eines qualifizierten Arbeiters.
Darin und nur darin besteht das Wesen der Pariser Kommune als eines besonderen Staatstypus.“ (Lenin, Über die Doppelherrschaft, Lenin Werke Bd. 24, S. 21)
Die frühe Sowjetrepublik war in Wirklichkeit gar kein Staat in dem Sinne, wie wir ihn normalerweise verstehen, sondern nur der organisierte Ausdruck der revolutionären Macht der Werktätigen. Um es mit den Worten von Marx zu sagen, war sie ein „Halbstaat“, ein Staat, der so konzipiert war, dass er schließlich absterben und sich in der Gesellschaft auflösen würde, um der kollektiven Verwaltung der Gesellschaft zum Nutzen aller, ohne Gewalt und Zwang, Platz zu machen. Das, und nur das, ist die echte marxistische Vorstellung von einem Arbeiterstaat.
Das durch die Oktoberrevolution geschaffene Regime der sowjetischen Arbeiterdemokratie hat jedoch nicht überlebt. Zu Beginn der 1930er Jahre waren alle oben genannten Punkte abgeschafft worden. Unter Stalin durchlief der Arbeiterstaat einen Prozess der bürokratischen Degeneration, der in der Errichtung eines monströsen totalitären Regimes und der physischen Vernichtung der Partei Lenins endete. Der entscheidende Faktor für die stalinistische politische Konterrevolution in Russland war die Isolierung der Revolution in einem rückständigen Land. Die Art und Weise, in der diese politische Konterrevolution stattfand, wurde von Trotzki in Die verratene Revolution erläutert.
Unter den Bedingungen von entsetzlicher Rückständigkeit, Armut und Analphabetismus war die russische Arbeiterklasse nicht in der Lage, die von ihr eroberte Macht zu halten. Die Revolution unterlag einem bürokratischen Entartungsprozess, der zur Errichtung des Stalinismus führte. Im Gegensatz zu den Lügen der bürgerlichen Historiker war der Stalinismus nicht das Produkt des Bolschewismus, sondern sein erbittertster Feind. Stalin steht zu Marx und Lenin ungefähr im gleichen Verhältnis wie Napoleon zu den Jakobinern oder der Papst zu den ersten Christen.
Kampf für den Sozialismus!
In der heutigen Zeit, in der die Bourgeoisie weltweit einen brutalen Angriff auf den Lebensstandard, die Löhne, die Renten, die Arbeitsplätze und die Arbeitsbedingungen gestartet hat, muss man verstehen, dass selbst wenn es der Arbeiterklasse gelingt, den Kapitalisten Zugeständnisse abzuringen, diese nur vorübergehend sein werden. Was die Unternehmer heute mit der rechten Hand geben, wird morgen mit der linken Hand wieder zurückgenommen. Das wird ab einem bestimmten Punkt eine enorme Verschärfung des Klassenkampfes bedeuten.
Es versteht sich von selbst, dass wir alle verfügbaren demokratischen Möglichkeiten nutzen müssen, um unsere Rechte zu verteidigen und den Weg für die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft zu bereiten, einschließlich der Teilnahme an lokalen, regionalen und nationalen Wahlen. Im Gegensatz zu den Anarchisten verstehen wir, dass ohne den täglichen Kampf um den Fortschritt im Kapitalismus, den Kampf für alle möglichen Teilforderungen und Reformen, die sozialistische Revolution nicht denkbar ist. Nur so können die Massen organisiert und im Kampf erzogen werden – nur so können die notwendigen Waffen zur Umgestaltung der Gesellschaft geschmiedet werden.
Während wir gegen jeden Versuch der Kapitalisten kämpfen, die Last der Krise auf die Schultern der arbeitenden Menschen und ihrer Familien abzuwälzen, müssen wir auch für eine echte Arbeiterregierung kämpfen, die ein Programm zur Verstaatlichung der Banken, des Bodens und der großen Monopole unter demokratischer Arbeiterkontrolle und -verwaltung durchführt. Dies ist der einzige Weg, um den Lebensstandard und die hart erkämpften Rechte zu verteidigen.
Vor allem ist es notwendig, der Arbeiterklasse, die der Lügen und Täuschungen längst überdrüssig ist, die Wahrheit zu sagen. Der einzige Weg zur Lösung der gegenwärtigen Krise besteht in einer radikalen Umgestaltung der Gesellschaft, die der Vorherrschaft der Großbanken und Monopole ein Ende setzt. Jede andere Lösung wird sich als katastrophal erweisen. Es wäre naiv zu glauben, dass die herrschende Klasse im Falle einer Regierung der Arbeiterklasse, die wirklich entschlossen ist, die Gesellschaft zu verändern, das einfach tatenlos hinnehmen würde. Eine Arbeiterregierung wird sofort mit dem erbitterten Widerstand der Banker und Kapitalisten konfrontiert sein.
Die Bourgeoisie und ihre Verteidiger beschuldigen Marxisten immer, Gewalt zu befürworten. Das ist höchst ironisch, wenn man die riesigen Waffenarsenale bedenkt, die die herrschende Klasse angehäuft hat, die Heere schwer bewaffneter Truppen, Polizisten, Gefängnisse und so weiter und so fort. Und die ganze Geschichte zeigt, dass keine herrschende Klasse jemals ihren Reichtum, ihre Macht und ihre Privilegien kampflos aufgibt – und das bedeutet in der Regel einen Kampf, der keine Grenzen kennt. Jede revolutionäre Bewegung wird mit diesem staatlichen Repressionsapparat zusammenstoßen.
Wir sind es nicht, die zur Gewalt aufrufen. Wir sind bereit, alle Möglichkeiten zu nutzen, die uns die bürgerliche Demokratie bietet. Aber wir sollten uns keinen Illusionen hingeben. Unter dem dünnen Deckmantel der Demokratie verbirgt sich in Wirklichkeit die Diktatur der Banken und Großkonzerne. Während dem Volk weisgemacht wird, es könne durch Wahlen demokratisch über die Richtung des Landes entscheiden, werden in Wirklichkeit alle wichtigen Entscheidungen von den Unternehmern getroffen. Die Interessen einer winzigen Handvoll von Bankern und Kapitalisten haben viel mehr Gewicht als die Stimmen von Millionen von Bürgern.
Die herrschende Klasse ist keineswegs gegen Gewalt an sich. Tatsächlich beruht ihre Herrschaft auf Gewalt in vielen verschiedenen Formen. Die einzige Gewalt, die die herrschende Klasse verabscheut, ist, wenn die armen, unterdrückten und ausgebeuteten Massen versuchen, sich gegen die organisierte Gewalt des bürgerlichen Staates zu wehren. Das heißt, sie ist gegen jede Gewalt, die sich gegen ihre Klassenherrschaft, ihre Macht und ihr Eigentum richtet. Diese Diktatur des Großkapitals verbirgt sich normalerweise hinter einer freundlichen Maske. Aber in kritischen Momenten verrutscht die lächelnde Maske der „Demokratie“ und enthüllt das hässliche Gesicht der Diktatur des Kapitals.
Die Frage ist, ob wir, das Volk, das Recht haben, gegen diese Diktatur zu kämpfen und ihren Sturz anzustreben. Die Gründerväter der Vereinigten Staaten von Amerika haben das sicherlich so gesehen. Sie haben das Recht des Volkes auf einen bewaffneten Aufstand gegen eine tyrannische Regierung bekräftigt. In der Verfassung von New Hampshire aus dem Jahr 1784 heißt es, dass „Nicht-Widerstand gegen willkürliche Macht und Unterdrückung absurd, sklavisch und zerstörerisch für das Wohl und Glück der Menschheit ist“. Das ist kein schlechter Ratschlag.
Bedeutet Revolution zwangsläufig Gewalt? Das hängt von einer Reihe von Umständen ab. Die herrschende Klasse hat immer ein Gewaltmonopol, das am deutlichsten im Staat selbst zum Ausdruck kommt. Aber es gibt eine Kraft in der Gesellschaft, die viel stärker ist als selbst der mächtigste Staat oder die mächtigste Armee: Das ist die Macht der Arbeiterklasse, wenn sie organisiert und mobilisiert ist, um die Gesellschaft zu verändern. Kein Rad dreht sich, kein Telefon klingelt, keine Glühbirne leuchtet ohne die Erlaubnis der Arbeiterklasse! Wenn diese enorme Macht einmal mobilisiert ist, kann keine Macht der Welt sie aufhalten.
Die schwedische Arbeiterbewegung stellt eine enorme Kraft dar, die das Potenzial hat, die Gesellschaft zu verändern. Es gibt mächtige Gewerkschaftsorganisationen, die mehr als fähig wären, den Kapitalismus zu stürzen, wenn die Millionen von Arbeitnehmern, die sie vertreten, zu diesem Zweck mobilisiert würden. Die Führer der Gewerkschaften und der reformistischen Parteien verfügen über eine Macht, die eine friedliche Umgestaltung der Gesellschaft herbeiführen kann. Aber wenn die Gewerkschafts- und Reformistenführer nicht bereit sind, diese Macht zu nutzen, könnte das Traditionen für ein gewaltsames Ergebnis in der Zukunft schaffen und dafür wären ausschließlich die Reformistenführer verantwortlich.
Ohne die Hilfe der reformistischen Führer wäre es nicht möglich, das kapitalistische System für längere Zeit aufrechtzuerhalten. Das Problem ist, dass diese Führer nicht die Absicht haben, einen ernsthaften Kampf gegen den Kapitalismus zu führen. Im Gegenteil, sie fürchten einen solchen Kampf wie der Teufel das Weihwasser. Deshalb sagte Trotzki, dass sich die Krise der Menschheit letztlich auf eine Krise der Führung des Proletariats reduziert. Die dringendste Aufgabe der schwedischen Arbeiter ist nicht der Sturz des Staates, sondern der Kampf um die Rückgewinnung der Kontrolle über ihre eigenen Organisationen.
Revolutionäre Traditionen
Die schwedische Arbeiterklasse hatte in der Vergangenheit eine sehr kämpferische und revolutionäre Tradition. Die Arbeiterorganisationen entstanden inmitten einer Reihe von intensiven Klassenkämpfen und Streiks. Die bolschewistische Revolution von 1917 erweckte die Sympathie der schwedischen Arbeiter und löste eine Welle von Protesten aus, auch in der Armee.
Vor vielen Jahren traf ich Anton Nilson, den bekannten schwedischen Revolutionär. In seiner Jugend war er zum Tode verurteilt worden, weil er eine Bombe auf einem mit Streikbrechern besetzten Schiff platziert hatte. Das Urteil wurde später in lebenslange Haft umgewandelt, und es gab eine Massenbewegung für seine Freilassung, die in den Protesten von 10.000 Arbeitern am 1. Mai 1917 gipfelte, die zum Gefängnis marschierten, um ihn freizulassen. Die Demonstration scheiterte, doch im Oktober 1917 wurden Anton Nilson und die beiden anderen von der Koalitionsregierung aus Liberalen und Sozialdemokraten begnadigt.
Unmittelbar nach seiner Entlassung ging Anton Nilson nach Russland, wo er sich den Bolschewiki anschloss und als Pilot im Bürgerkrieg kämpfte. Nilson half bei der Organisation der Luftverteidigung Moskaus und übernahm später das Kommando über die Luftwaffe an der Baltischen Front. Für seine Verdienste wurde er von seinen Genossen gewählt, um eine Auszeichnung von Leo Trotzki zu erhalten.
Als ich ihn traf, war er bereits ein alter Mann in seinen 90ern, aber die Flamme der Revolution brannte immer noch hell in seiner Seele. Sein Verstand war so scharf wie eh und je, seine Augen leuchteten, seine Stimme war kräftig und sein Glaube an die sozialistische Revolution war so fest wie in den Tagen seiner Jugend. Bei seiner Ankunft in London bestand Anton Nilson darauf, zum Highgate-Friedhof, zum Grab von Karl Marx, gebracht zu werden. Vor dem Grab seines Helden stehend, hielt er eine Rede, die mit den Worten begann: „Nun, Karl Marx, hier bin ich endlich.“ An den Rest erinnere ich mich nicht, nur dass es eine bewegende und inspirierende Bekräftigung seiner revolutionären Überzeugungen war. Er starb nicht lange danach.
Die stürmische Streikwelle in der ersten Hälfte der 1920er Jahre betraf durchschnittlich 90.000 Arbeitnehmer und führte zu vier Millionen Ausfalltagen pro Jahr. Auch Anfang der 1930er Jahre kam es zu erbitterten Auseinandersetzungen, an denen zwar weniger Arbeitnehmer beteiligt waren, die aber ebenso viele Streiktage zur Folge hatten. Im Mai 1931 eröffnete das schwedische Militär während eines Generalstreiks in Ådalen, Schweden, das Feuer mit einem schweren Maschinengewehr auf friedliche Demonstranten. Vier Demonstranten und ein Zuschauer wurden erschossen, fünf weitere Demonstranten wurden verletzt.
Die Erschießungen lösten eine massive Protestbewegung aus. Der Bezirksgouverneur wurde vor Gericht gestellt, aber freigesprochen. Die verantwortlichen Offiziere, Hauptmann Mesterton und Beckman, wurden zunächst vor einem Kriegsgericht verurteilt, in der Berufung jedoch freigesprochen – ein Urteil, das vom Obersten Gerichtshof bestätigt wurde. Die Soldaten, die das Maschinengewehr bedienten, wurden ebenfalls vor Gericht gestellt. Einer wurde freigesprochen, während der andere für schuldig befunden und zu drei Tagen „Hausarrest mit Gehaltsverlust“ verurteilt wurde.
Diese Milde gegenüber Mördern stand im Gegensatz zu den harten Strafen, die gegen Demonstranten verhängt wurden: Axel Nordström, der als Anführer galt, wurde zu 2-1/2 Jahren Haft mit Zwangsarbeit verurteilt. Weder die verletzten Demonstranten noch die Familien der fünf toten Arbeiter erhielten eine Entschädigung. Hier sehen wir das wahre Gesicht des schwedischen Staates in seiner ganzen Rohheit. Das sollte die schwedische Arbeiterklasse niemals vergessen.
Nach einer langen Periode des Klassenfriedens nahm die Streikbewegung in den 1970er Jahren wieder zu und gipfelte im Generalstreik (Storkonflikten) von 1980, als einer Massenaussperrung mit einem Streik begegnet wurden, an dem über 800.000 Arbeitnehmer beteiligt waren und 4,2 Millionen Arbeitstage bestreikt wurden.
Leider schlummern diese Traditionen seit vielen Jahren, aber sie sind dazu bestimmt, unter radikal veränderten Bedingungen wieder zum Vorschein zu kommen. Die Bedingungen für die Aufrechterhaltung einer Politik des Konsens zwischen der Arbeiterklasse und dem Kapital sind längst nicht mehr gegeben. Eine wachsende Zahl von Aktivisten wird die Notwendigkeit eines konsequenten revolutionären Programms erkennen. Dies kann nur der Marxismus bieten.
Die zentrale Aufgabe, vor der die schwedischen Marxisten stehen, ist der Aufbau einer revolutionären Tendenz mit einer soliden Basis in der Arbeiterklasse und der Jugend. Und es ist unmöglich, eine revolutionäre Strömung ohne revolutionäre Theorie aufzubauen. Die revolutionäre Partei ist das Gedächtnis der Arbeiterklasse. Wir haben die Pflicht, die Arbeiter und die Jugend Schwedens an die großen Traditionen der Vergangenheit zu erinnern und ihnen die Werke von Marx, Engels, Lenin und Trotzki zugänglich zu machen. Und zu den wichtigsten dieser Werke gehört Staat und Revolution, ein Buch, das heute noch so aktuell ist wie bei seiner Entstehung vor einem Jahrhundert.
London, 7. Juli 2017