Das folgende Interview entstand auf Grund von Fragen, die Fred Zeller an Leo Trotzki richtete. Genosse Zeller war Sekretär der Seine-Organisation der Jugend der französischen Sozialistischen Partei (SFIO). Nach seinem Ausschluss aus der Jugendorganisation und aus der Partei wegen seiner Propaganda für den revolutionären Defätismus ist Fred Zeller Sekretär der «Jeunesses Socialistes Revolutionnaires», die sich zusammensetzt aus den mit Fred Zeller und mit den Bolschewiki-Leninisten aus der SFIO und ihrer Jugendorganisation ausgeschlossenen Jugendlichen.
Folgende Fragen wurden von Fred Zeller gestellt:
«Wenn Sie, Genosse Trotzki, von ihrem Recht gegen Stalin überzeugt waren, warum haben Sie dann ihre Funktionen als Volkskommissar für Militärwesen und als Haupt der Roten Armee niedergelegt: Warum bedienten Sie, nach Lenin der populärste Mensch, sich nicht des mächtigen Apparates, den Sie in der Hand hatten, um Widerstand zu leisten und die bürokratische Clique zu hindern, ihre Diktatur zu festigen?
Gab sich Lenin vor seinem Tode Rechenschaft von der ernsten Gefahr, welche die beängstigende Entwicklung des bürokratischen Apparates für die Errungenschaften der Oktoberrevolution darstellte und versuchte er nicht, die Lage zu retten?
Andererseits, wenn Lenin nicht so früh gestorben wäre, hätte er zugelassen, dass die Dritte Internationale zu einer Agentur des Völkerbundes wurde? Wäre er mit Stalin einverstanden? Hätte er es zugelassen, dass seine Internationale sich in den Dienst des Weltimperialismus stellt, und, wie z.B. im italienisch-abessinischen Konflikt, die Anwendung wirtschaftlicher und militärischer Sanktionen forderte anstelle des systematischen Boykotts seitens der politischen und der gewerkschaftlichen Organisationen der Arbeiterklasse im internationalen Maßstabe? Wenn Lenin 1935 noch leben würde, hätte er dem Vertreter des französischen Imperialismus dieselbe Erklärung gegeben wie Stalin ?
Hätte Lenin den Zustand geduldet, dass die Führer der kommunistischen Partei in der ganzen Welt nichts anderes sind als bezahlte Angestellte eines großen Unternehmens, ohne jede Selbstständigkeit und die nur als gehorsam ausführende Agenten ihren 8-Stunden-Arbeitstag ausfüllen und Verbrüderung mit den Ministern des Schwerkapitals predigen? Hätte Lenin geduldet, dass sie in Frankreich eine «Volksfront» bilden würden mit den feigen und verachtungswürdigen radikalen Führern, die sich nach vielen und unseligen Erfahrungen kompromittiert haben, – und ihnen so zu gestatten, ihr Wappenschild neu zu vergolden und wieder eine Massenbasis zu finden? Hätte Lenin geduldet, dass Kämpfer, die die Arbeiter auf den wahren Weg der Revolution führen wollen, als Abenteurer, Provokateure oder Polizeiagenten verleumdet werden ?»
Die Fragen, die Gen. Zeller in seinem Brief stellt, sind nicht nur von historischem, sondern auch aktuellem Interesse. In der politischen Literatur und in Privatgesprächen geschieht es häufig, dass man auf sie stößt, dabei in verschiedenster, meist persönlicher Form: «Wie und warum verloren Sie die Macht?». «Auf welche Weise bekam Stalin den Apparat in die Hände?». «Worin liegt Stalins Stärke?». Die Frage der inneren Gesetze von Revolution und Konterrevolution wird durchweg rein individualistisch gestellt, als handelte es sich um eine Schachpartie oder um ein Sportmatch, und nicht um tiefe Konflikte und Verschiebungen sozialen Charakters. Die vielen Scheinmarxisten unterscheiden sich in dieser Beziehung nicht im geringsten von den Vulgärdemokraten, die auf die großen Volksbewegungen die Kriterien der Parlamentskorridore anwenden.
Jeder, der einigermaßen mit der Geschichte vertraut ist, weiß, dass jede Revolution nach sich eine Konterrevolution heraufbeschwor, die zwar auf wirtschaftlichem Gebiet die Gesellschaft nie ganz auf den Ausgangspunkt zurückwarf, aber dem Volke stets einen erheblichen, wenn nicht den Löwenanteil seiner politischen Eroberungen wieder entrang. Das Opfer bereits der ersten reaktionären Welle wurde in der Regel diejenige Schicht der Revolutionäre, die in der ersten, angreifenden, «heroischen» Periode der Revolution an der Spitze der Massen stand. Schon diese allgemeine geschichtliche Betrachtung muss uns auf den Gedanken bringen, dass es sich nicht einfach um Gewandtheit, List und Können zweier oder mehrerer Personen handelt, sondern um viel tiefere Gründe
Die Marxisten leugnen, zum Unterschied von den oberflächlichen Fatalisten (vom Schlage Leon Blums, Paul Faures usw.) durchaus nicht die Rolle der Persönlichkeit, ihrer Initiative und Kühnheit im sozialen Kampf. Doch zum Unterschied von den Idealisten wissen die Marxisten, dass letzten Endes das Bewusstsein dem Sein unterworfen ist. Die Rolle der Führung in der Revolution ist eine gewaltige. Ohne richtige Führung kann das Proletariat nicht siegen. Aber auch die beste Führung ist nicht imstande, die Revolution auszulösen, wenn die objektiven Bedingungen dazu fehlen. Zu einer der hervorragendsten Eigenschaften der proletarischen Führung heißt es die Fähigkeit zählen, zu erkennen, wann der Angriff möglich und wann ein Rückzug notwendig ist. In dieser Fähigkeit bestand die Hauptstärke Lenins*.
Erfolg oder Misserfolg des Kampfes der Linken Opposition gegen die Bürokratie hing selbstverständlich in diesem oder jenem Grade von den Eigenschaften der Führung beider widerstreitender Lager ab. Bevor man aber von diesen Eigenschaften spricht, muss man klar den Charakter der kämpfenden Lager selbst begriffen haben; denn der beste Führer des einen kann absolut untauglich sein im anderen, und umgekehrt. Die so übliche (und so naive) Frage: «Warum machte Trotzki nicht rechtzeitig von dem Militärapparat gegen Stalin Gebrauch?» ist ein grelles Zeugnis für die Abneigung oder das Unvermögen über die allgemeinen geschichtlichen Ursachen des Sieges der Sowjetbürokratie über die revolutionäre Avantgarde des Proletariats nachzudenken. Von diesen Ursachen habe ich in einer ganzen Reihe von Arbeiten geschrieben, angefangen mit meiner Autobiographie. Ich werde versuchen, in einigen Zeilen die wichtigsten Schlussfolgerungen daraus zusammenzufassen.
Nicht die heutige Bürokratie war es, die den Sieg der Oktoberrevolution sicherte, sondern die Arbeiter- und Bauernmassen unter der bolschewistischen Führung. Die Bürokratie begann erst nach dem endgültigen Sieg zu wachsen, wobei sie in ihre Reihen nicht nur revolutionäre Arbeiter aufnahm, sondern auch Vertreter anderer Klassen (ehemalige zaristische Beamte, Offiziere, bürgerliche Intellektuelle usw.). Nimmt man die ältere Generation der heutigen Bürokratie, so stand sie während der Oktoberrevolution in ihrer überwältigenden Mehrheit im Lager der Bourgeoisie (man greife als Beispiel einige beliebige Sowjetbotschafter heraus: Potemkin, Majski, Trojanowski, Ssuriz, Chintschuk usw.). Diejenigen der heutigen Bürokraten, die in den Oktobertagen im Lager der Bolschewiki standen, spielten in ihrer Mehrheit keine irgendwie nennenswerte Rolle, weder bei der Vorbereitung noch bei der Durchführung des Umsturzes, noch in den nächstfolgenden Tagen. Das gilt vor allem auch für Stalin persönlich. Was die jungen Bürokraten betrifft, so sind sie von den alten ausgelesen und erzogen, in den meisten Fällen sind es ihre eigenen Söhne. «Führer» dieser neuen, nachrevolutionären Schicht wurde eben Stalin.
Die Geschichte der Gewerkschaftsbewegung aller Länder ist nicht nur eine Geschichte von Streiks und überhaupt von Massenbewegungen, sondern auch die Geschichte des Entstehens der Gewerkschaftsbürokratie. Es ist zur Genüge bekannt, zu welch gewaltiger konservativer Macht diese Bürokratie auszuwachsen vermochte und mit welch unfehlbarem Instinkt sie ihre «genialen» Führer auswählt und entsprechend erzieht: die Gompers, Green, Legien, Leipart, Jouhaux, Citrine usw. Konnte Jouhaux bisher seine Stellung mit Erfolg gegen die Attacken von links halten, so nicht, weil er ein großer Stratege wäre (obgleich er zweifelsohne seine bürokratischen Kollegen überragt: nicht umsonst steht er unter ihnen an erster Stelle), sondern weil sein ganzer Apparat täglich und stündlich zähe um seine Existenz kämpft, kollektiv die besten Kampfmethoden wählt, für Jouhaux denkt und ihm die notwendigen Entscheidungen eingibt. Aber das bedeutet durchaus nicht, dass Jouhaux unerschütterlich sei. Bei einem jähen Wechsel der Lage – in der Richtung zur Revolution oder zum Faschismus – wird der gesamte Gewerkschaftsapparat mit einem Schlage seine Selbstsicherheit verlieren, seine,schlauen Manöver werden sich als machtlos erweisen und selbst Jouhaux wird keinen großartigen, sondern einen kläglichen Eindruck machen. Erinnern wir doch nur daran, als welch erbärmliche Nullen sich die mächtigen und hochmütigen deutschen Gewerkschaftsführer herausstellten sowohl 1918, als gegen ihren Willen die Revolution ausbrach, wie 1932, als Hitler zum Angriff überging.
Aus diesen Beispielen sind die Quellen der Kraft und der Schwäche der Bürokratie zu ersehen. Sie entsteht aus der Massenbewegung in der ersten, heroischen Periode des Kampfes. Doch hat sie einmal sich über die Massen erhoben und ihre eigene «soziale Frage» gelöst (Existenz, Einfluss, Ansehen usw. gesichert), so trachtet die Bürokratie immer mehr die Massen im Zaum zu halten. Wozu riskieren? Sie hat ja etwas zu verlieren. Zur höchsten Blüte gelangt der Einfluss und Wohlstand der reformistischen Bürokratie in der Epoche der kapitalistischen Prosperität und relativer Passivität der werktätigen Massen. Sobald aber diese Passivität von rechts oder von links zerstört ist, ist es auch mit der Herrlichkeit der Bürokratie aus. Ihr Witz und ihre Schläue verwandeln sich in Dummheit und Ohnmacht. Die Natur der «Führer» entspricht der Natur der Klasse (oder Schicht), die sie führen, sowie der objektiven Lage, in die diese Klasse (oder Schicht) gerät.
Die Sowjetbürokratie ist weitaus mächtiger als die reformistische Bürokratie aller kapitalistischen Länder zusammengenommen, hält sie doch in ihren Händen die staatliche Macht und alle damit verbundenen Vorteile und Privilegien. Allerdings erwuchs die Sowjetbürokratie auf dem Boden der siegreichen proletarischen Revolution. Es wäre aber höchst naiv, aus diesen Grunde die Bürokratie selbst zu idealisieren. In einem armen Land – und die UdSSR ist auch heute noch ein sehr armes Land, wo ein eigenes Zimmer, ausreichende Nahrung und Kleidung noch immer nur einer kleinen Minderheit der Bevölkerung zugänglich sind – in einem solchen Land streben Millionen großer und kleiner Bürokraten vor allem danach, ihre eigene «soziale Frage» zu lösen, d. h. das eigene Wohlergehen zu sichern. Daher der unmäßige Egoismus und Konservatismus der Bürokratie, daher ihre Furcht vor der Unzufriedenheit der Massen, ihr Hass auf die Kritik, ihre zähe Wut in der Erstickung jeden freien Gedankens, daher schließlich ihre heuchlerisch-religiöse Anbetung des «Führers», der ihre unbeschränkte Machtfülle und ihre Privilegien verkörpert und beschirmt. All dies zusammen bildet eben den Inhalt des Kampfes gegen den «Trotzkismus».
Ganz unwiderleglich und bedeutungsvoll ist die Tatsache, dass die Sowjetbürokratie umso mächtiger wurde, je heftigere Schläge die Weltarbeiterklasse trafen. Die Niederlagen der revolutionären Bewegungen in Europa und Asien nahmen den Sowjetarbeitern allmählich den Glauben an den internationalen Bundesgenossen. Im Innern des Landes herrschte die ganze Zeit bittere Not. Die kühnsten und aufopferndsten Vertreter der Arbeiterklasse kamen entweder im Bürgerkrieg ums Leben, oder stiegen einige Stufen höher und assimilierten sich in ihrer Mehrzahl in der Bürokratie unter Einbuße ihres revolutionären Geistes. Müde von der furchtbaren Anspannung der Revolutionsjahre, die Perspektive verlierend, verbittert durch eine ganze Reihe Enttäuschungen, fiel die breite Masse in Passivität. Eine derartige Reaktion war, wie bereits gesagt, nach jeder Revolution zu beobachten. Der unermessliche geschichtliche Vorzug der Oktoberrevolution als einer proletarischen besteht darin, dass die Müdigkeit und Enttäuschung der Massen nicht dem Klassenfeind in der Person der Bourgeoisie und des Adels zu Gute kam, sondern der Oberschicht der Arbeiterklasse selbst und den mit ihr verbundenen Mittelgruppen, die in die Sowjetbürokratie eingingen.
Die echten proletarischen Revolutionäre in der UdSSR schöpften ihre Kraft nicht so sehr aus dem Apparat, als aus der Aktivität der revolutionären Massen. Im Besonderen war die Rote Armee nicht von «Apparatleuten» geschaffen worden (in den kritischen Jahren war der Apparat noch sehr schwach), sondern von Kadern heroischer Arbeiter, die unter der Führung der Bolschewiki die jungen Bauern um sich sammelten und in den Kampf führten. Der Niedergang der revolutionären Bewegung, die Müdigkeit, die Niederlagen in Europa und Asien, die Enttäuschung in den Arbeitermassen mussten unvermeidlich und unmittelbar die Positionen der revolutionären Internationalisten schwächen, und umgekehrt die der national-konservativen Bürokratie stärken. Es beginnt ein neues Kapitel in der Revolution. Die Führer der vorigen Periode gehen in die Opposition. Hingegen die konservativen Apparatpolitiker, die in der Revolution eine zweitrangige Rolle gespielt hatten, treten als triumphierende Bürokratie in den Vordergrund.
Was den Militärapparat betrifft, so war er ein Teil des gesamten bürokratischen Apparats und unterschied sich seinen Eigenschaften nach nicht von ihm. Es genügt zu sagen, dass die Rote Armee in den Bürgerkriegsjahren zehntausende ehemaliger zaristischer Offiziere in sich aufsog. Am 13. März 1919 sagte Lenin auf einer Petrograder Versammlung: «Als mir neulich Gen. Trotzki mitteilte, dass bei uns im Militär die Zahl der Offiziere einige zehntausend beträgt, da bekam ich eine konkrete Vorstellung davon, worin das Geheimnis der Ausnutzung unseres Feindes besteht: wie den Kommunismus von denen erbauen lassen, die seine Gegner waren, den Kommunismus aus Ziegelsteinen erbauen, welche die Kapitalisten gegen uns aufgehäuft hatten! Andere Ziegelsteine hat man uns nicht gegeben!» (Lenins Gesammelte Werke, Band XXIV, russische Ausgabe von 1932, stenographischer Bericht, S.65). Diese Offiziers- und Beamtenkader leisteten ihre Arbeit in den ersten Jahren unmittelbar unter dem Druck und der Aufsicht der fortgeschrittenen Arbeiter. Im Feuer des erbitterten Kampfes konnte von einer privilegierten Stellung der Offiziere keine Rede sein: das Wort allein schon war aus dem Wörterbuch verschwunden. Doch nach den errungenen Siegen und dem Übergang zum Frieden, strebte gerade der Militärapparat danach, der einflussreichste und privilegierteste Teil des ganzen bürokratischen Apparats zu werden. Sich zwecks Ergreifung der Macht auf die Offiziere stützen hätte nur der können, der bereit gewesen wäre, den Kastenwünschen der Offiziere entgegenzukommen, d. h. ihnen eine Stellung zu garantieren, Ränge und Orden einzuführen, kurz, sofort und mit einem Schlage das zu tun, was die Stalinbürokratie allmählich im Laufe der letzten 10-12 Jahre tat. Es ist kein Zweifel, dass es damals keine Mühe, ja, auch kein Blutvergießen gekostet haben würde, gegen die Fraktion Sinowjew-Kamenew-Stalin einen Militärumsturz durchzuführen; doch das Resultat eines solchen Umsturzes wäre in beschleunigterem Tempo dieselbe Bürokratisierung und derselbe Bonapartismus gewesen, gegen die die linke Opposition zu Felde zog.
Die Aufgabe der Bolschewiki-Leninisten bestand ihrem eigenen Wesen gemäß nicht darin, sich auf die Militär- gegen die Parteibürokratie zu stützen, sondern darin, sich auf die proletarische Avantgarde und durch sie auf die Volksmassen zu stützen und die Bürokratie als Ganzes zu zügeln, sie von fremden Elementen zu säubern, eine wachsame Kontrolle der Werktätigen über sie zu gewährleisten und ihre Politik auf die Geleise des revolutionären Internationalismus umzuleiten. Da aber nach den Jahren des Bürgerkriegs, des Hungers und der Epidemien, der lebendige Quelle der revolutionären Massenkraft versiegt war, die Bürokratie aber an Zahl und Frechheit furchtbar wuchs, so erwiesen sich die proletarischen Revolutionäre als die Schwächeren. Um das Banner der Bolschewiki-Leninisten scharten sich zwar zehntausende bester revolutionärer Kämpfer, darunter auch Soldaten. Die fortgeschrittenen Arbeiter standen der Opposition mit Sympathie gegenüber. Doch diese Sympathie blieb passiv: den Glauben, dass man mit Kampf ernstlich die Lage ändern könne, hatte die Masse schon nicht mehr. Unterdessen behauptete die Bürokratie: «Die Opposition will die internationale Revolution und plant uns in einen revolutionären Krieg zu verwickeln. Wir haben selbst Erschütterungen und Not genug. Wir haben uns das Recht erworben auszuruhen. Wir brauchen ja keine «permanenten Revolutionen» mehr. Wir werden bei uns selber die sozialistische Gesellschaft schaffen. Arbeiter und Bauern, verlasst Euch auf uns, Eure Führer!». Diese nationalkonservative Agitation, die, beiläufig gesagt, von einer wütenden, mitunter absolut reaktionären Verleumdungskampagne gegen die Internationalisten begleitet war, schloss die Bürokratie des Militärs sowohl wie des Staats fest zusammen und fand unzweifelhaft Widerhall bei den müden und zurückgebliebenen Arbeiter- und Bauernmassen. So war die bolschewistische Avantgarde isoliert und in Stücke geschlagen. Darin liegt das ganze Geheimnis des Sieges der thermidorianischen Bürokratie.
Das Gerede von irgendwelchen außergewöhnlichen taktischen oder organisatorischen Eigenschaften Stalins stellt einen Mythos dar, der bewusst von der Bürokratie der UdSSR und der Komintern geschaffen und von den linksbürgerlichen Intellektuellen aufgegriffen wurde, die trotz ihres Individualismus sich gern vor dem Erfolg verneigen. Diese Herren haben Lenin nicht erkannt und anerkannt, als dieser, von dem internationalen Gesindel gehetzt, die Revolution vorbereitete. Dafür «anerkannten» sie Stalin, als diese Anerkennung nichts als Vergnügen einbringt, und mitunter auch direkte Vorteile.
Die Initiative des Kampfes gegen die linke Opposition ergriff eigentlich nicht Stalin, sondern Sinowjew. Stalin schwankte anfangs und wartete ab. Es wäre ein Fehler zu meinen, dass Stalin von Anfang an einem strategischen Plan nach vorging. Er tastete den Boden ab. Ohne Zweifel bedrückte ihn die revolutionär-marxistische Vormundschaft. Er suchte faktisch eine einfachere, nationalere, «zuverlässigere» Politik. Der Erfolg, der ihm in den Schoß fiel, kam überraschend vor allem für ihn selbst. Es war dies der Erfolg der neuen herrschenden Schicht, der revolutionären Aristokratie, die sich von der Kontrolle durch die Massen befreien wollte, und die einen starken und zuverlässigen Schiedsrichter in ihren inneren Angelegenheiten brauchte. Stalin, diese zweitrangige Figur der proletarischen Revolution, offenbarte sich als der unbestrittone Führer der thermidorianischen Bürokratie, als der erste in ihrer Mitte – nicht mehr.**
Der italienische faschistische oder halbfaschistische Schriftsteller Malaparte gab eine Broschüre heraus «Die Technik des Staatsumsturzes», in der er den Gedanken entwickelt, dass «Trotzkis revolutionäre Taktik», im Gegensatz zur Strategie Lenins, den Sieg in jedem beliebigen Lande und unter beliebigen Umständen garantieren könne. Es fällt einem schwer, eine albernere Theorie auszudenken! Indessen, die Obergescheiten, die uns hinterher beschuldigen, wir hätten die Macht infolge Unentschiedenheit verloren, stellen sich im Wesen auf Malapartes Standpunkt: sie glauben an irgendwelche besonderen technischen «Geheimnisse», mit deren Hilfe man die revolutionäre Macht erobern oder behalten könne, unabhängig von den Wirkungen der großen objektiven Faktoren: Sieg oder Niederlage der Revolutionen im Westen und im Osten, Aufstieg oder Niedergang der Massenbewegung innerhalb des Landes usw. Die Macht ist keine Beute, die dem «Geschickteren» zuteil wird. Die Macht ist ein Verhältnis zwischen den Menschen, in letzter Hinsicht zwischen den Klassen. Eine richtige Führung ist, wie bereits gesagt, ein wichtiger Hebel für Erfolge. Aber das bedeutet keineswegs, dass die Führung den Sieg unter allen Umständen garantieren könne. Entscheidend sind letzten Endes der Klassenkampf und die inneren Verschiebungen, die innerhalb der kämpfenden Massen vor sich gehen.
Doch die Frage, wie wäre der Kampf verlaufen, wenn Lenin am Leben geblieben wäre, kann man natürlich nicht mit mathematischer Genauigkeit beantworten. Dass Lenin unversöhnlicher Gegner der habgierigen konservativen Bürokratie und der Politik Stalins war, der sein Schicksal immer mehr an das ihre heftete, geht unwiderleglich aus einer ganzen Reihe von Briefen, Artikeln und Vorschlägen hervor, die Lenin in der letzten Periode seines Lebens schrieb, insbesondere aus seinem «Testament», in dem er empfahl, Stalin vom Posten des Generalsekretärs zu entfernen, schließlich aus seinem letzten Brief, in dem er «alle persönlichen und kameradschaftlichen Beziehungen» zu Stalin abbrach. In einer Periode zwischen zwei Krankheitsanfällen schlug Lenin mir vor, mit ihm zusammen eine Fraktion zur Bekämpfung der Bürokratie und ihres Generalstabs, des Orgbüros des ZK, wo Stalin die Leitung inne hatte, zu bilden. Zum XII. Parteikongress bereitete Lenin, einem von ihm selbst gebrauchten Ausdruck nach, eine «Bombe» gegen Stalin vor. All dies ist – auf Grund genauer und unanfechtbarer Dokumente – in meiner Autobiographie und einer besonderen Arbeit: «Lenins Testament» behandelt. Lenins vorbereitende Maßnahmen beweisen, dass er den bevorstehenden Kampf für sehr schwer hielt; natürlich nicht weil er Stalin persönlich, als Gegner, fürchtete (davon zu reden ist lächerlich), sondern weil er hinter Stalins Rücken deutlich die .Verflechtung der Lebensinteressen der mächtigen Schicht der herrschenden Bürokratie erkannte. Schon zu Lebzeiten Lenins legte Stalin gegen ihn Minen, indem er vorsichtig durch seine Agenten das Gerücht verbreitete, Lenin sei geistig ein Invalide, kenne sich in der Lage nicht aus usw., mit einem Wort, brachte dieselbe Legende in Umlauf, die heute zur inoffiziellen Version der Komintern zur Erklärung der scharfen Feindschaft zwischen Lenin und Stalin in Lenins letzten anderthalb Lebensjahren geworden ist. In Wirklichkeit stellen alle die Artikel und Briefe, die Lenin bereits als Kranker diktierte, wohl die reifsten Produkte seines Denkens dar. Der Scharfsinn dieses «Invaliden» würde mit Leichtigkeit für ein Dutzend Stalins reichen.
Man kann mit Sicherheit sagen, dass, hätte Lenin länger gelebt, der Vorstoß der bürokratischen Allmacht, wenigstens in den ersten Jahren, langsamer erfolgt wäre. Doch schon 1926 sagte Krupskaja im Kreise der Linksoppositionellen: «Wenn Iljitsch lebte, säße er gewiss schon im Gefängnis». Lenins Befürchtungen und angstvolle Vorausblicke waren damals noch frisch in ihrem Gedächtnis, und sie machte sich keinerlei Illusion über Lenins persönliche Allmacht, denn sie begriff, nach ihren eigenen Worten, die Abhängigkeit des besten Steuermanns von der Gunst oder Ungunst der Winde und Strömungen.
* *
Heißt das, dass Stalins Sieg unabwendbar war? Heißt das, dass der Kampf der linken Opposition (Bolschewiki-Leninisten) aussichtslos war? Eine solche Fragestellung ist abstrakt, schematisch, fatalistisch. Der Verlauf des Kampfes zeigte zweifellos, dass die Bolschewiki-Leninisten in der UdSSR den vollständigen Sieg davontragen, d. h, die Macht erobern und die Pestwunde des Bürokratismus ausbrennen, weder konnten noch können werden ohne Unterstützung durch die Weltrevolution. Aber das bedeutet keineswegs, dass ihr Kampf wirkungslos verhallt sei. Ohne die kühne Kritik der Opposition und ohne die Furcht der Bürokratie vor der Opposition hätte Stalin-Bucharins Kurs auf den Kulaken unvermeidlich zur Wiederauferstehung des Kapitalismus geführt. Unter der Knute der Opposition sah sich die Bürokratie gezwungen, wichtige Entlehnungen aus unserer Plattform vorzunehmen. Das Sowjetregime vor den Entartungsprozessen und dem scheußlichen persönlichen Regime zu retten, vermochten die Leninisten nicht. Doch retteten sie es vor dem völligen Zusammenbruch, indem sie der kapitalistischen Restauration den Weg versperrten. Die progressiven Reformen der Bürokratie waren Nebenprodukte des revolutionären Kampfes der Opposition. Das ist für uns viel zu wenig. Aber es ist etwas.
Auf der Arena der Weltarbeiterbewegung, von der die Sowjetbürokratie nur indirekt abhängig ist, stand die Sache noch weit ungünstiger als in der UdSSR. Durch Vermittlung der Komintern wurde der Stalinismus zum schlimmsten Hemmschuh der Weltrevolution. Ohne Stalin, gäbe es Hitler nicht. Heute bereitet der Stalinismus in Frankreich mit der «Volksfront»-Politik genannten Politik der Entmannung eine neue Niederlage des Proletariats vor. Aber auch hier war der Kampf der linken Opposition durchaus nicht fruchtlos. In der Welt wachsen und mehren sich die Kader der echten proletarischen Revolutionäre, der wahren Bolschewiki, die sich nicht der Sowjetbürokratie angeschlossen haben, um deren Autorität und deren Kasse auszunutzen, sondern dem Programm Lenins und dem Banner der Oktoberrevolution. Unter wahrhaft ungeheuerlichen, in der Geschichte schier unerhörten Verfolgungen seitens der vereinten Kräfte des Imperialismus, des Reformismus und des Stalinismus wachsen und erstarken die Bolschewiki-Leninisten, gewinnen sie immer mehr das Vertrauen der fortgeschrittenen Arbeiter. Ein einwandfreies Symptom für diesen vollzogenen Wechsel ist beispielsweise die prächtige Entwicklung der Pariser sozialistischen Jugend. Die Weltrevolution wird unter dem Banner der Vierten Internationale marschieren. Bereits ihre ersten Erfolge werden von der allmächtigen Stalinclique, ihren Legenden, ihren Verleumdungen und ihren falschen Reputationen nicht einen Stein auf dem anderen lassen. Die Sowjetrepublik wie die weltproletarische Avantgarde werden sich ein für allemal von den bürokratischen Polypen befreien. Der geschichtliche Zusammenbruch des Stalinismus ist vorherbestimmt, und es wird ihm die verdiente Strafe für seine zahllosen Verbrechen an der Weltarbeiterklasse zuteil werden. Eine andere Rache wollen wir nicht und erwarten wir nicht!
12. November 1935.
* Bei den Stalinisten verhält sieh die Sache umgekehrt. Während der wirtschaftlichen Wiederbelebung und des relativen politischen Gleichgewichts proklamierten sie die «Eroberung der Straße», «Barrikaden», «Überall Sowjets!» (die «dritte Periode»), heute aber, wo Frankreich eine ungemein tiefe soziale und politische Krise durchlebt, werfen sie sich den Radikalen an den Hals, d.h. einer gänzlich verfaulten bürgerlichen Partei. Es Ist längst gesagt worden: diese Herrschaften haben die Angewohnheit auf Hochzeiten Grabgesänge und bei Beerdigungen Brautlieder zu singen.
** Von Stalin als von einem marxistischen «Theoretiker» sprechen, können nur direkte Lakaien. Sein Buch «Fragen des Leninismus» ist ein eklektisches Sammelsurium, Voll von schülerhaften Fehlern. Allein, die nationale Bürokratie besiegte die marxistische Opposition durch ihr soziales Gewicht und keineswegs mit «Theorie».
[Nach der Broschüre Arbeiterstaat, Thermidor und Bonapartismus, Verlag Unser Wort, Paris 1936, S. 23-31]