Während bundesweit am 9. November die Erinnerung an die Pogromnacht im Jahre 1938 im Mittelpunkt von Gedenkveranstaltungen steht, zeigte der Historiker Peter Scherer in einem Vortrag die Entwicklung vom revolutionären 9. November 1918 über den gescheiterten rechten Putschversuch am 9. November 1923 bis zur Reichspogromnacht am 9. November 1938 auf.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Freunde,
zunächst recht herzlichen Dank für die Einladung, auf dieser vielleicht einzigen Veranstaltung zur Erinnerung an die Novemberrevolution 1918 zu sprechen. Es ist etwas Seltsames mit dem 9. November. Kein anderer Tag vereinigt in gleicher Weise Hoffnung und Tragödie der deutschen Geschichte, und doch sind die amtlichen Traditionswahrer und Geschichtspfleger vor diesem Tag gleichsam auf der Flucht.
Auch die Stadt Frankfurt versendet ihre Einladungen auf Büttenpapier unter der Überschrift „Die Reichspogromnacht – Erinnerung und Zukunft“, so als habe es diese „Tage voll Verheißung und Seelenaufruhr“ nie gegeben, als „aus dem Novembergrau rote Fahnentücher leuchteten“, wie Carl von Ossietzky später schrieb. Man anerkennt nur das Verbrechen der Nazis, so als habe am Frankfurter Hauptbahnhof nie eine Tafel die heimkehrenden Soldaten und Matrosen im Namen des Arbeiter- und Soldatenrates empfangen: „Die Deutsche sozialistische Republik grüßt Euch.
Die alten Gewalten sind durch die Revolution des schaffenden Volkes gestürzt. Künftig seid Ihr Herr Eurer Geschicke !“ Selbst als der Zufall den so lange herbeigewünschten Bankrott des ostdeutschen Grenzregimes 1989 unter dieses Datum setzte, wich man aus. Wer weiß schon, warum wir ausgerechnet am 3. Oktober einen Feiertag haben? Als dieser Feiertag dann als mögliches Objekt der Sparpolitik ins Gerede kam, entrüstete sich die FAZ, man möge doch bedenken, was die Franzosen von einem Politiker halten würden, der vorschlüge, den 14. Juli einem kurzfristigen Ausgleich des Staatshaushaltes zu opfern. Nun, das ist eben der Unterschied: Die Franzosen wissen, warum sie den 14. Juli feiern. Mit dem Sturm auf die Bastille hatte 1789 die Revolution begonnen. Und was den Franzosen ihr 14. Juli, das müsste uns Deutschen der 9. November sein.
An diesem Tag dankte der Kaiser ab, und mit ihm stürzten auch die übrigen Fürstenthrone. An diesem Tag wurde der Friede erkämpft nach vier Jahren Krieg und an diesem Tag wurde die Bahn freigemacht für das Frauenwahlrecht, für die Beseitigung des Dreiklassenwahlrechts, für den Achtstundentag, für die Anerkennung der Gewerkschaften als Tarifvertragspartei. Innerhalb von Tagen wurde mehr erkämpft als zuvor in Jahrzehnten.Das Bürgertum hatte sich 1918 feige hinter herabgelassenen Rollläden versteckt, als auf den Straßen die Matrosen und Soldaten, die Arbeiter und die Frauen aus den Rüstungsbetrieben Seite an Seite für die sozialistische Republik demonstrierten. Fünf Jahre später, am 9. November 1923, gab ein gewisser Adolf Hitler das Signal zur Konterrevolution, zum „Marsch auf Berlin“, zur Beseitigung der Republik. Der Schlag misslang. 20 Jahre später, am 9. November 1938, ließ derselbe Hitler, inzwischen Diktator und Vertrauensmann des deutschen Großkapitals, seine Terrorbanden auf die Juden los. Das Pogrom der sog. „Reichskristallnacht“ ist das dritte Ereignis mit dem Datum des 9. November.
Warum zählt gegenwärtig nur dieses letzte Datum? Wenn wir unter dem Lernen aus der Geschichte mehr verstehen als die Plattheit, dass alles Lernen sich auf Vergangenes bezieht, weil die Gegenwart „allenfalls die Breite eines Messers“ besitze, dann müsste doch ganz von selbst gefragt werden nach den Ursprüngen des Antisemitismus, nach der Funktion des Massenmordes an einer Minderheit. Dann dürfte doch keiner von uns ruhen, bis wir nicht jenseits von Rassenideologie und inszenierter „Volkswut“ die materiellen Interessen aufgedeckt hätten, die auch dieses politische Handeln leiteten. Statt dessen wird derzeit als „fortschrittlich“ empfunden, diesem Teil der faschistischen Politik in Deutschland einen Sonderstatus der „Unvergleichbarkeit“ zu geben.
Haben wir denn ganz vergessen, dass es die Hauptmethode bürgerlicher Geschichts-Einnebelung ist, jedes Ereignis für einmalig, für unvergleichlich zu erklären, um damit dem notwendig vergleichenden Schlussfolgern und Lernen die Grundlage zu entziehen? Die gewollte, planmäßige Ausrottung von Minderheiten und ganzen Völkern ist durchaus nichts Einmaliges, sondern Teil imperialistischer Politik von Anfang an. Die Politik des Terrors, das Aushungerns und Abschlachtens ist nicht auf die Epoche des Kapitalismus beschränkt, sie ist aber in ihr treibhausartig angewachsen, ungeachtet aller Menschenrechts-Deklarationen.
Bürgerliche Herrschaft und Aufklärung, Fortschritt der Wissenschaft und Abschaffung der Folter sind nur bei sehr oberflächlicher Betrachtung automatisch miteinander verbundene Prozesse. Die Verkündung der Republik am 9. November 1918 war Teil eines qualvoll über Jahrhunderte hingestreckten Prozesses bürgerlicher Revolution. Sie war aber auch Teil eines nicht minder komplizierten Prozesses proletarischer Revolution. In keinem anderen Land waren die Bedingungen bürgerlicher Herrschaft so früh herangereift wie in Deutschland, dessen Städte und Dörfer schon zu Beginn des 16. Jh. Schauplatz revolutionärer Massenbewegungen wurden. Aber es gilt auch: In keinem anderen Land kann die Konterrevolution auf vergleichbar lange Erfahrungen und scheußlichere Verbrechen zurückblicken.
Von 1525 bis 1848, das sind 323 Jahre, war das deutsche Volk der Willkür seiner Fürsten ausgesetzt, die im Großen Bauernkrieg gelernt hatten, ihren eigenen Untertanen mehr zu misstrauen als jeder fremden Macht. Verwüstung, auf russisch „Pogrom“: Ist das nicht ein passendes Wort für eine Politik gegen das eigene Volk, der im 17. Jh. zwischen 33 und 40 Prozent der deutschen Bevölkerung zum Opfer fielen? Wir fangen an, zu begreifen, was die öffentliche Verbrennung tausender Frauen, was die Vertreibung religiöser Minderheiten, was die Begünstigung jeder Art von Obskurantismus in diesem System bedeutet haben. 1848 endlich stehen Kleinbürgertum und Arbeiter für die deutsche Republik auf den Barrikaden. Für die demokratische Verfassung sterben sie auf den Schlachtfeldern und in den Kasematten. Die Konterrevolution triumphiert ein zweites Mal.
1918 sind die Forderungen nach Republik und Demokratie noch immer nicht erfüllt. Für das Bürgertum sind sie längst keine Bedingungen seiner Herrschaft mehr, aber sie sind es für die Befreiung des Arbeiters. Er nimmt die Losungen der unvollendeten Revolution wieder auf: Abdankung der Fürsten, Pressfreiheit, Entlassung der politischen Gefangenen, ja selbst die Aufhebung von Feudallasten und Gesindeordnungen. All das steht noch zur Lösung an, dazu, wie 1848, die Beseitigung des Hungers und, allem übergeordnet, die Forderung nach Frieden. Das alles sind keine spezifisch proletarischen Forderungen, und es ist schwer zu verstehen, weshalb das Geschichtsbewusstsein der zweiten deutschen Republik so wenig mit dem 9. November 1918 anzufangen weiß. Noch weniger ist zu verstehen, dass die Friedensbewegung unseres Landes diesen eindrucksvollen Sieg über Militarismus und Krieg nie gefeiert hat.
Hat die Beendigung des Ersten Weltkrieges am 11. November 1918 vielleicht deshalb einen so geringen Kurswert, weil auch ein Teil der militärischen Führung ein Ende des Krieges verlangte? Ist der Sieg der Matrosen und Soldaten über die Admirale und Generäle vielen deshalb weniger wert, weil er gegen die ultrareaktionäre Fronde der Kriegsverlängerer erkämpft wurden? In gewissem Sinne könnte man sagen, dass 1918 die Konterrevolution da war, noch ehe die Revolution sich formierte. Denn was war es anderes als das Signal zur Konterrevolution, wenn die Admiralität den Befehl zum Auslaufen der Hochseeflotte gab, ohne davon den Reichskanzler zu informieren, in dessen Kabinett seit dem 3. Oktober auch Sozialdemokraten saßen?
Bereits am zweiten Tag seines Bestehens hatte das Kabinett des Prinzen Max von Baden den US-Präsidenten um Waffenstillstandsverhandlungen ersucht. Wie es einen Antisemitismus ohne Juden gibt, so gibt es die Kontra schon vor der Revolution. „Die Revolution ist im Begriff, siegreich zu sein. Wir können sie nicht niederschlagen, vielleicht aber ersticken. Jetzt heraus mit der Abdankung (Wilhelms II.), heraus mit der Berufung Eberts … Vielleicht gelingt es, die revolutionären Energien in die legalen Bahnen des Wahlkampfes zu lenken.“ So erinnert sich Prinz Max von Baden zehn Jahre später an den 9. November 1918. Die Matrosen haben mit ihrer Meuterei am 3. November 1918 alle Pläne zur Fortführung des Krieges durchkreuzt, auch die eines angeblich so aufgeklärten Unternehmers wie Robert Bosch, der noch am 15. Oktober 1918 lamentiert hatte: „Gibt es denn in unserem Heer tatsächlich keinen Menschen von hervorragenden Fähigkeiten, der auf unserer Seite steht? Ist es unmöglich, einen neuen Geist auch in unseren Offiziersstand zu bringen?“
Unternehmer und Hochadel, Offizierskorps und kleinbürgerliche Nationalisten: Sie alle waren sich einig gegen die Revolution, und das hieß gegen demokratische und soziale Rechte der arbeitenden Menschen, gegen Sozialismus und Republik. Sie waren sich nicht einig in ihren Zielen. Sie hätten sich notfalls gegenseitig ans Messer geliefert. Aber sie brauchten eine verbindende Formel, so lange die Arbeiterbewegung weder niedergeschlagen noch erstickt war. Die Formel, die sie fanden, hieß: Die Juden sind unser Unglück! Genauso schrie die Konterrevolution in Russland 1918: Rettet Russland, schlagt die Juden! Antisemitismus und Konterrevolution haben sich nicht zufällig miteinander verbunden.
Als die Generation Hitlers in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg und im Verlauf dieses Krieges sich ihr politisches Weltbild zimmerte, war das eigentliche Inbild einer revolutionären Bewegung die russische Revolution von 1905. Sie fand die leidenschaftliche Anteilnahme der deutschen Arbeiter. Sie hatte in Rosa Luxemburg eine glänzende Sprecherin, und es ist leider so gut wie unbekannt, in welchem Ausmaß die Organisationen der jüdischen Arbeiter in den westlichen Gebieten des russischen Reiches einschließlich Polens an den Massenkämpfen dieser Revolution beteiligt waren. Die Juden waren nicht nur der ärmste und gedrückteste Teil des russischen Proletariats. Sie waren durch die Erfahrung der Pogrome auch wie kein anderer Teil auf die Notwendigkeit der Selbstbewaffnung hingewiesen. Nirgends war die Intensität der Streiks größer als in den Westgebieten, die zugleich den sog. „Ansiedlungsrayon“ bildeten, eine Art riesiges Ghetto, vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer, auf das die Bewegungsfreiheit der Juden innerhalb Russlands eingeschränkt war. Städte wie Bialystok, Minsk, Wilna, Warschau und Lodz waren zugleich Zentren der jüdischen Arbeiterbewegung und Zentren der Revolution. In Lodz wurden die ersten Barrikaden gegen das zaristische Militär gebaut. Der „Bund“, die politische Organisation der jüdischen Arbeiter, übernahm zeitweilig polizeiähnliche Funktionen, trieb Steuern für die Streikenden ein, organisierte die Lebensmittelversorgung. Pogrome stießen nun auf bewaffneten Widerstand.
Otto Bauer schrieb 1905:“Welche Wandlung sich in den Köpfen der jüdischen Arbeiter vollzogen hat, das hat Europa seit Beginn der russischen Revolution staunend gesehen: Aus den furchtsamen, demütigen Juden des Ghettos sind die heldenmütigen Kämpfer der großen Revolution geworden.“ Und Grigorji Sinowjew, Vorsitzender des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationalen sagte 1923 rückblickend: „Wenn wir heute die Geschichte unserer Partei … überblicken, glaube ich, dass wir der kühnen jüdischen Handwerker und Arbeiter gedenken müssen, die als erste den Kampf aufnahmen und uns halfen, die ersten Steine zu unserem Parteigebäude zu legen.“
Das sind für viele wohl unbekannte Tatsachen. Wer hätte auch ein Interesse an ihrer Verbreitung haben sollen? Und wer hat heute ein solches Interesse? Die politischen Erben des Zionismus gewiss nicht, waren die „Bundisten“ doch ihre entschiedensten Gegner; die Nationalisten, seien es nun Russen oder Polen, ebenso wenig. Und die Linke? Sie hatte jahrzehntelang damit zu tun, sich gegen die Gleichsetzung von Bolschewismus und Judentum zu wehren, war also stets bemüht, darzulegen, dass die Juden eben keine herausragende Rolle in der revolutionären Bewegung spielten. Es bleibt festzuhalten: Für die Konterrevolution waren die Juden nicht nur ein besonders bequemes Angriffsziel. Sie waren gewissermaßen der verdichtete Ausdruck des Andersseins, des Widerstehens und des Widerstandes.
Am 22. Mai 1919, wenige Wochen nach der Niederschlagung der Bayerischen Räterepublik schrieb die in Nürnberg erscheinende „Fränkische Tagespost“, eines der führenden SPD-Blätter, im Hinblick auf die Welle des Antisemitismus: „Sie schlagen die Juden und meinen die Revolution. Das ist das ganze Geheimnis der antisemitischen Hetze, die sich immer drohender auswächst.“ In diesen Tagen des Jahres 1919 waren in der Arbeiterhochburg Nürnberg Klebezettel verbreitet worden, die in den Appell mündeten „Kauft nicht bei Juden!“ Die anonymen Hetzer erklärten: „Wer ist … unser ärgster Feind in der Maske des Führers? Nicht der Franzose, nicht der Engländer, nicht der Amerikaner, nicht der Italiener, nein einzig und allein für alle Zeit: der Jude!“ Das war die konterrevolutionäre Umkehrung der Liebknecht’schen Losung von 1916: „Der Hauptfeind steht im eigenen Land!“ „Schlagt ihre Führer tot! Tötet Liebknecht und Luxemburg!“ So hatten die Freikorps im Januar desselben Jahres mit dem Geld der Reichsregierung plakatiert.
Die Rädelsführer-Theorie, nach der die kreuzbraven deutschen Arbeiter von sich aus „anständig“ sind und sich nur aus Idealismus und Dummheit verführen lassen, ist gleichsam das Bindeglied zwischen den „vernünftigen“ Gegnern des „politischen Extremismus“ und den Fanatikern des Antisemitismus. In ein System gebracht, liest sich das so: „Er (der Verführer) macht sich an den Arbeiter heran, heuchelt Mitleid … um auf diesem Wege das Vertrauen zu gewinnen. Er bemüht sich, alle die einzelnen tatsächlichen oder auch eingebildeten Härten seines Lebens zu studieren – und die Sehnsucht nach Änderung eines solchen Daseins zu erwecken. Das … Bedürfnis nach sozialer Gerechtigkeit steigert er in unendlich kluger Weise zum Hass gegen die vom Glück besser Bedachten …“ Muss eine solche Verführungstheorie notwendigerweise antisemitisch sein? Haben wir nicht Ende der 70er Jahre eine Welle antikommunistischer Verdächtigungen erlebt, die unter dem Schlagwort einer sog. „Unterwanderung“ stand und sich der genau gleichen Schablone bediente, ohne antisemitisch zu sein. Das Zitat stammt übrigens aus Hitlers „Mein Kampf“ und macht keinen Unterschied zwischen marxistischen Intellektuellen und Juden.
Der Antisemitismus war kein Monopol der Nazis, wie auch die Verknüpfung von Nationalismus und sozialistischer Phrase spätestens im August 1914 vollzogen war. Die „Deutsche Arbeiterpartei“, die Keimzelle der NSDAP, wurde in München am 5. Januar 1919 gegründet, sechs Tage nach der Gründung der KPD und zehn Tage vor der Ermordung von Rosa Luxemburg. Adolf Hitler komprimierte nur, was die Atmosphäre des konterrevolutionären Bayern ausmachte. Die nach Bamberg geflüchtete sozialistische Regierung ruft am 16. April 1919 auf: „Bayern, Landsleute! In München rast der russische Terror, entfesselt von landfremden Elementen. Diese Schmach darf keinen Tag, keine Stunde weiter bestehen …“ Die im bayerischen Landtag vertretenen Parteien steigern drei Tage später die Hetze: „Die Not Bayerns ist aufs Äußerste gestiegen.
In der Landeshauptstadt München übt eine machthungrige, von land- und rassefremden Führern irregeleitete und verhetzte Minderheit eine Gewaltherrschaft schlimmster Art.“ Auch die SPD unterschreibt diesen Aufruf. Am selben Tag wird der Kriegszustand verhängt. Wie schon in Berlin und Bremen, geben jetzt auch in München sozialistische Politiker ihren eingefleischten Gegnern freie Hand gegen andere Sozialisten. Der Glaube, die Freikorps-Banden kurzfristig benutzen zu können, ohne selbst Schaden zu leiden, sollte sich als ein folgenreicher Irrtum erweisen. Im deutschen Bürgerkrieg, der von den Januarkämpfen in Berlin über den Münchener Blutmai bis zum Ruhrkrieg 1920 reicht, bilden sich alle Merkmale der Menschenverachtung heraus, die später für den Faschismus kennzeichnend sein sollten. Selbst Flammenwerfer werden gegen die Münchener Arbeiter herangeführt. Weit über tausend Menschen werden in den Tagen des Blutmai ermordet, russische Kriegsgefangene ebenso wie katholische Arbeiter. Eugen Léviné, der „land- und rassefremde Führer“ wird nach einem Schnellverfahren am 5. Juni 1919 hingerichtet.
Von diesen Tagen an ist München ein Sammelpunkt der Konterrevolution und des Antisemitismus. Zwischen den Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 und den Reichstagswahlen am 6. Juni 1920 verliert die SPD die Hälfte der Stimmen. München ist 1923 nicht zufällig der Schauplatz des Hitler-Putsches, dieses zweiten großen Versuchs, die Republik zu stürzen. Ende September 1923 hatte Hugo Stinnes, der markanteste Sprecher des deutschen Großkapitals, dem US-amerikanischen Botschafter erklärt, dass die Wiedereinführung des Zehnstundentages wirtschaftlich notwendig sei. Der deutsche Arbeiter sei dazu aber nicht bereit. Deshalb müsse er gezwungen werden.
Eine große, von Bayern ausgehende Bewegung sei nahe. Stinnes rechnete mit einem Aufstandsversuch der Kommunisten. „Sobald die Kommunisten ihre Operation beginnen, wird Ebert im Namen der Republik einen Mann … als Dikator ernennen … Von da ab wird die parlamentarische Regierung zu Ende sein. Die Kommunisten werden rücksichtslos zerschmettert … Der Sozialismus wird … als eine politische Daseinsform in Deutschland für immer beseitigt, und die Gesetze und Verordnungen, die die Produktion hindern … werden unverzüglich widerrufen werden.“ Stinnes schloss seine Bemerkungen mit der Feststellung, er hoffe, dass so bald Ordnung und nationale Produktion in Deutschland wiederhergestellt seien, es möglich sein werde, jeden notwendigen Kapitalbetrag vom Ausland zu entleihen. Später wurde bekannt, dass auch schon 1923 die Hoechster Farbwerke wie später die IG Farben zu Hitlers Geldgebern zählten. Der Putschversuch des 9. November 1923 hatte nach dem kurz zuvor erfolgten Einmarsch der Reichswehr in Thüringen und Sachsen keine schlechten Chancen. Wo die Reichsregierung gegen Länderregierungen putschte, nur weil dem Kanzler ihre Zusammensetzung nicht gefiel, warum sollte da nicht gegen die Reichsregierung geputscht werden, wenn ihre Politik nicht den Münchener Vorstellungen entsprach? Der Putsch scheiterte dennoch. Die Verhältnisse waren noch nicht reif.
Der Prozess der konterrevolutionären Durchdringung und Zersetzung der deutschen Republik und halb Europas brauchte Zeit, genau zehn Jahre, bis das Szenario des Hugo Stinnes Wirklichkeit werden konnte, nun nicht mit Ebert, sondern mit Hindenburg als Reichspräsident, nicht mehr mit Stinnes, dafür mit Kirdorf, Krupp und all den andern. Gleichgeblieben waren 1933 der Kandidat für das Diktatorenamt und seine Politik. Thomas Mann sprach von der „wütenden Vollendung einer Gegenrevolution, in der wir seit 14 Jahren leben“. Zerschmettert wurden nun nicht nur die Kommunisten, sondern die Sozialdemokraten gleich mit. Verlängerung des Arbeitstages, Einfrieren der Löhne auf den Niveau der Krise, Zwangsverpflichtung, Aufrüstung und Krieg, das war ein sehr einleuchtendes Programm aus der Sicht des Großkapitals. Seit dem Münchener Abkommen vom 30. September 1938 war Hitler zudem der Partner Großbritanniens und Frankreichs bei der „Rettung des Weltfriedens“ auf Kosten der Tschechoslowakei. Ganz Mitteleuropa hatte die Entente den deutschen Faschisten ausgeliefert.
Warum und wozu am 9. November 1938, fünf Wochen nach München, das Juden-Pogrom? Paul Silverberg, einer der mächtigsten Unternehmer jüdischer Herkunft, der König der rheinischen Braunkohlindustrie vor 1933, ließ sich in seinem Schweizer Exil auch nach fünf Jahren faschistischer Diktatur nicht davon abbringen, dass Hitlers Politik im Prinzip richtig sei. Bedauernd stellte Silverberg im Herbst 1938 nach dem Pogrom fest, der Nationalsozialismus hätte die Welt erobern können, wenn er die Juden nicht verfolgt hätte.
Warum also dieses quasi mittelalterliche Element des Judenhasses? Die Politik Hitlers war nicht nur imperialistisch, sie war auch, und das bis zuletzt, konterrevolutionär. Eine imperialistische Politik im Stil Großbritanniens wäre in der Tat ohne Judenhetze weit besser gefahren. Aber im Deutschland der 30er Jahre war aggressive Politik nach außen nur möglich durch terroristische Politik nach innen. Bayerische Arbeiter hatten nach der Niederlage 1919 ihren Feinden geschworen: „Bei Dachau sehen wir uns wieder!“ Dachau, das war der Ort eines siegreichen Gefechts der bayerischen Roten Armee gegen die Truppen Hoffmanns und Noskes. „Die Prophezeiung“, so höhnte die Nazi-Presse im März 1933, „ist rasch in Erfüllung gegangen. Morgen wird bei Dachau das vorzugsweise für Kommunisten bestimmte KZ eröffnet.“ So eng war die faschistische Politik mit den Revolutionsjahren 1918/19 verknüpft, dass nicht nur diese ersten Tage der Diktatur in ihrem Zeichen standen, sondern auch die letzten, als 1945 auf Trümmerwände die Parole gemalt wurde: „November 1918? – Nie wieder!“ Dazwischen liegt die systematische Anwendung der Terrors als Mittel der Politik. Einer der Glaubenssätze Hitlers lautete: „Der Terror auf der Arbeitsstätte, in der Fabrik, im Versammlungslokal und anlässlich der Massenkundgebung wird immer von Erfolg begleitet sein, so lange nicht ein gleich großer Terror entgegentritt.“
Hitler griff den vor 1914 von den Unternehmern tagtäglich gebrauchten Begriff des gewerkschaftlichen „Terrorismus“ auf, mit dem jegliche Form der Agitation und Disziplin denunziert wurde. Ob Mitgliederwerbung oder Streikpostenstehen, alles war „Terrorismus“. Dabei hatte die Arbeiterbewegung den Terror nicht nötig, wohl aber jene sog. „Bewegung“, die ihren Geldgebern versprochen hatte, den „Marxismus“ auszurotten. Was aber konnte den Terror mehr steigern, als die Entrechtung einer ganzen Gruppe der Bevölkerung ohne Ansehen des Standes, der politischen Überzeugung, der Religion? Was bedeutete schon „Rasse“ in einem Mischvolk wie dem deutschen außer der Umschreibung nackter Willkür? Hitler wusste sehr genau und hat sich oft dazu geäußert, dass Terror unberechenbar sein muss, um zu wirken. So ordnete er während des Krieges an, dass in wichtigen Fällen Hinrichtungen nicht in den besetzten Gebieten selbst, sondern erst nach vorheriger Deportation in das Reich stattzufinden hätten. Er begründete diesen „Nacht- und Nebel-Befehl“ ausdrücklich mit der so herbeigeführten „Ungewissheit“ über das Schicksal der Deportierten. War aber nicht die Willkür gegen die Juden, ihre Rechtlosigkeit und ihr späteres Verschwinden die höchste Steigerung dieser Politik? Bei der Ankunft eines Judentransportes aus dem Rheinland in Riga äußerte ein lettischer Antisemit sein Unverständnis darüber, weshalb man die Juden nach Lettland bringe und nicht in Deutschland selbst totschlage. Er hatte von der Politik der deutschen Faschisten wenig begriffen.
Die Massenmorde an den Juden gehören in den Rahmen des konterrevolutionären Terrors. Nicht völkischer Irrationalismus leitete Hitler, sondern faschistische Rationalität. Nicht der „Mythos des 20.Jahrhunderts“ leitete ihn (er hat sich über Rosenberg oft genug lustig gemacht ) sondern die Erfahrung des europäischen Bürgerkrieges, der 1917 begonnen hatte. Am 4. Oktober 1943 erklärte Himmler vor SS-Führern: „Von euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammenliegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1.000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei, abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen, anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte, denn wir wissen, wie schwer wir uns täten, wenn wir heute noch in jeder Stadt, bei den Bombenangriffen, bei den Lasten und Entbehrungen des Krieges, noch die Juden als Geheimsaboteure, Agitatoren und Hetzer hätten. Wir würden wahrscheinlich jetzt in das Stadium des Jahres 1916/17 gekommen sein, wenn die Juden noch im deutschen Volkskörper säßen.“
Goebbels diktierte am 12. Februar 1942 nach einem Gespräch mit Hitler in sein Tagebuch: „Mit dem Bolschewismus wird zweifellos auch das Judentum seine große Katastrophe erleben … wir müssen diesen Prozess (der Vernichtung) mit einer kalten Rücksichtslosigkeit beschleunigen …“ Der Übergang von der Drangsalierung Wehrloser zum systematischen Völkermord geht nicht zufällig einher mit dem Übergang von der Vernichtung der Arbeiterbewegung im eigenen Land zur Vernichtung der Sowjetunion. Zwischen dem Überfall auf die UdSSR am 22. Juni 1941 und der Wannsee-Konferenz am 31. Juli liegen nur wenige Wochen. Die Tötung einer nach Millionen zählenden Minderheit ordnet sich ein in die Perspektive der Versklavung aller Völker Osteuropas, die nach einem siegreich beendeten Krieg den Terror als Mittel der Politik verewigt hätte.
Heute, fast neun Jahrzehnte nach der revolutionären Welle, die 1917 einsetzte, und genau 60 Jahre nach dem Ende des Massenmordes an den Juden fällt es schwerer denn je, auch nur die einfachsten Begriffe der allgemeinen Verwirrung zu entreißen. Die UNO hat dieser Tage beschlossen den Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, den 27. Januar, zu einem weltweiten Gedenktag zu machen.
Wem wird das Gedenken gelten? Der Tatsache, dass es Soldaten der Roten Armee waren, die den wenigen Überlebenden die Freiheit brachten? Der Tatsache, dass die Alliierten sich konstant geweigert hatten, die Transportwege nach Auschwitz zu unterbrechen? Wird man sich an Szmuel Zygelboym erinnern, den Vertreter der Juden in der polnischen Exilregierung, der am 12. Mai 1943 in London Selbstmord beging.
In seinem Testament schrieb er: „Die Verantwortung für das Verbrechen der Ermordung der gesamten jüdischen Bevölkerung in Polen tragen in erster Linie die Mörder selbst, indirekt aber lastet sie auch auf der gesamten Menschheit, auf den Völkern und Regierungen der verbündeten Staaten, die sich bisher nicht bemüht haben, konkrete Aktionen zur Einstellung dieses Verbrechens durchzuführen. Indem sie passiv der Ermordung von Millionen wehrloser, zu Tode gequälter Kinder, Frauen und Männer zugesehen haben, sind diese Länder zu Helfershelfern der Verbrecher geworden … Durch meinen Tode möchte ich den schärfsten Protest gegen die Passivität zum Ausdruck bringen, mit der die Welt der Ausrottung des jüdischen Volkes zusieht und sie duldet. Ich weiß, dass ein Menschenleben in unserer Zeit wenig bedeutet. Da ich jedoch zu Lebzeiten nichts tun konnte, trage ich vielleicht durch meinen Tod dazu bei, dass die Gleichgültigkeit derjenigen gebrochen wird, die die Möglichkeit haben, vielleicht im letzten Augenblick, die noch am Leben bebliebenen polnischen Juden zu retten.“
Auch sein Opfer war vergeblich. Das Morden ging bis in die letzten Kriegstage weiter, und selbst danach hatte man es nicht eilig, den überlebenden Opfern zu helfen. Wenige Monate nach dem Ende des Krieges auf dem europäischen Schauplatz zündete die US-Luftwaffe eine Atombombe über Hiroshima, und es bereitete ihr offenbar keine technischen Schwierigkeiten, dies punktgenau über einem zentral gelegenen Krankenhaus der Stadt zu tun. Es ist notwendig, an die faschistischen Verbrechen zu erinnern. Keines darf jemals vergessen werden. Aber das genügt nicht. Es hat keinen Sinn, die radikale Verneinung vor Augen zu stellen, ohne zu fragen, was denn da verneint wurde, wogegen sich diese höchste Steigerung imperialistischer Menschenverachtung richtete. Die Nazis schworen sich bei Kriegsbeginn 1939: „Ein November 1918 wird sich niemals mehr in der deutschen Geschichte wiederholen.“
Und sie scheuten kein Verbrechen, diesen Schwur einzulösen. Von Hitler redet heute alle Welt. Wer aber redet von Karl Liebknecht, von Rosa Luxemburg? Wenn die Erinnerung an die revolutionäre Tat des 9. November 1918 ganz aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht ist, wenn sie ganz unter der Faszination des Verbrechens begraben liegt, dann erst hat die Reaktion ihr Ziel erreicht. An uns ist es, und vor allem an uns Gewerkschaftern, das Erbe der Novemberrevolution zu bewahren. Was Barbarei ist, haben wir gelernt und lernen es täglich. Vielleicht lernen wir ja auch eines Tages, was Sozialismus ist.
Der Historiker Peter Scherer war von 1987 bis 2004 Leiter der Zentralbibliothek der IG Metall in Frankfurt/Main.