Es sollte eigentlich ein ruhiger Kurzurlaub an den wunderschönen norwegischen Fjorden werden. Doch dann fanden wir uns plötzlich in einem Land wieder, in dem durch das gezielte Attentat beim traditionsreichen Sommerlager der sozialdemokratischen Jugendorganisation AUF und den Massenmord von rund 90 Jugendlichen am 22. Juli 2011 schlagartig nichts mehr so war wie zuvor. Von Hans-Gerd Öfinger
Die Nachrichten vom Massaker beim AUF-Camp auf der Insel Utøya 40 km westlich von Oslo verbreiteten sich wie ein Lauffeuer. Dass die über 800 dort versammelten Jugendlichen und ihre erwachsenen Helfer, die sofort per Handy die Polizei herbei riefen, qualvolle anderthalb Stunden bis zur Ankunft der Staatsorgane in Todesangst warten mussten und manche dieser Anrufe dem Vernehmen nach von den Behörden zuerst nicht für voll genommen wurden, ist nur eine von vielen Ungereimtheiten, die bei der Nachbereitung und Aufarbeitung dieses Massakers dringend zu klären sind. Ebenso stellt sich die Frage, wie der Massenmörder und christliche Fundamentalist Anders Behring Breivik, der offenbar einen rechtsextremistischen, rassistischen Hintergrund und Kontakte zur Neonazi-Szene hat, an die Polizeiuniform kam und sich so unbehelligt Zutritt zur Insel verschaffte. Auch wenn die meisten Medien Breivik als „Irren“ und „Amokläufer“ darstellen, spricht manches dafür, dass er bei der Vorbereitung und disziplinierten Durchführung einer derart kaltblütigen Massenhinrichtung kurz nach dem Bombenanschlag im Osloer Regierungsviertel Zuträger und ein Netzwerk hinter sich hatte. Es war nicht irgendein Terrorakt, sondern eine politisch motivierte Tat. Denn anders als bei Timothy McVeigh, dem Bombenleger im US-amerikanischen Oklahoma City, oder den Amokläufern an der Columbine High School, hatte der Rechtsextremist Anders Behring Breivik gezielt und politisch motiviert den Nachwuchs der norwegischen Arbeiterbewegung ins Visier genommen und hingerichtet. Schließlich ist die sozialdemokratische Arbeiterpartei die größte politische Kraft im Lande und gilt der Nachwuchsverband AUF mit über 5000 aktiven Mitgliedern als der mit Abstand größte politische Jugendverband im Fünf-Millionen-Land Norwegen. Wenige Stunden vor dem Massaker bekam der Parteinachwuchs auf Utøya noch Besuch von Gro Harlem Brundtland, Stoltenbergs Vorgängerin in den 1980er und 1990er Jahren. Einen Tag später wollte Stoltenberg das Camp besuchen. Vielleicht hatte Breivik auch Brundtland oder Stoltenberg im Visier.
Stundenlang waren die Menschen im Land wie gelähmt und verfolgten die Ereignisse und Bekanntgabe erster Ermittlungsergebnisse über Fernsehen und Internet. Die in westlichen Hauptstädten außerhalb Norwegens rasch verbreitete Hypothese, dass es sich in Oslo um einen Anschlag der Al Qaida handle und damit Norwegen einen eigenen „11. September“ erlebt habe, bestätigte sich nicht. Das hätte vielen Bürgerlichen in ihr Weltbild gepasst und eine unglaubliche reaktionäre Propagandawelle wie nach dem 11. September 2001 ausgelöst. Doch aufgrund der vorliegenden Erkenntnisse über Breivik, der nach anderthalb Stunden auf Utøya endlich von der Polizei überwältigt wurde, fielen solche Spekulationen rasch wie ein Kartenhaus zusammen. Keine bärtigen Dunkelhaarigen, sondern ein blonder nordischer Typ hatte die Gräueltat zu verantworten.
Schon am Samstag druckten die Tageszeitungen Fotos von Breivik ab. Norwegen gehört zu den Ländern mit der höchsten Verbreitung von Tageszeitungen; überall sahen wir Menschen, die wie gebannt Zeitung lasen und die Sonderberichte verfolgten. Nach dem ersten Schock überwanden viele Menschen die Lähmung und Sprachlosigkeit, besorgten sich Blumen und Kerzen und legten diese zum Gedenken an die Toten an zentralen Plätzen in den Städten nieder.
So auch in der zweitgrößten norwegischen Stadt Bergen, wo wir am Samstag, dem Tag danach, auf dem Øvre Ole Bulls-Platz den 33-jährigen Issam Aarag trafen, der eine schlaflose Nacht hinter sich hatte und nur mit Mühe seine Tränen unterdrücken konnte. Er ist nicht nur Mitglied der Arbeiterpartei, sondern auch in mehrfacher Hinsicht nah am Geschehen. Schließlich war er jahrelang aktiver Funktionär des sozialdemokratischen Jugendverbands AUF und in dieser Funktion auch Mitorganisator des alljährlichen traditionellen Sommerlagers auf der idyllischen Ferieninsel Utøya. Seine Tochter ist 14 und wollte im kommenden Jahr erstmals am Camp teilnehmen, erzählte er uns. „Kein Platz auf Erden ist sicherer als diese Insel“, hatte er ihr noch vor kurzem eine Reise dorthin empfohlen. Auch aus Hordaland, der Region um Bergen, waren 25 Jugendliche auf Utøya Zeugen der Bluttat geworden. Ob alle von ihnen überlebt haben, war einen Tag nach dem Massenmord noch ungewiss. Im Laufe des Wochenendes jedoch wurde es zur traurigen Gewissheit, dass auch Aktivisten aus Bergen und Hordaland von Breivik hingerichtet wurden, darunter der 21-jährige Bergener Tore Eikeland, örtlicher Vorsitzender des Jugendverbands.
So wie Bergen und Hordaland sind auch faktisch alle anderen Regionen Norwegens von dem Massaker betroffen. Ab Sonntag waren dann die Zeitungen und insbesondere die Lokal- und Regionalblätter voll von Augenzeugenberichten Überlebender, individuellen Schicksalen und Nachrufen auf die Opfer aus der jeweiligen Region. Das verstärkte die Betroffenheit der Menschen auch in den entferntesten Winkeln des Landes. „Norwegen hat nicht so viele Einwohner. Fast jeder kennt jemand, der jemand kennt, der beim Camp dabei war“, brachte Christine Henne Helmbek die Stimmung vieler auf den Punkt, als ich sie am Montag im Zug nach Bergen auf das Massaker ansprach: „Wir alle fühlen uns angegriffen.“ Sie und viele andere argwöhnen, dass hinter Breivik ein internationales Netzwerk steht. Am meisten berührt habe sie die in den Wochenendmedien dargestellte Erfahrung eines 11-jährigen Campteilnehmers. Der Junge habe sich vor den schwer bewaffneten Massenmörder Breivik gestellt und ihm zugerufen: „Du könntest doch mein Vater sein. Du wirst mich nicht umbringen.“ Darauf hin habe Breivik ihn verschont und überleben lassen, dafür aber umso rücksichtsloser auf andere, am Boden liegende und sich tot stellende Jugendliche geschossen.
Christine Henne Helmbek arbeitet im Speisewagen der weltberühmten Oslo-Bergen-Bahn, die die Hauptstadt Oslo mit der alten Hansestadt Bergen verbindet, und ist von Haus aus nicht besonders politisch geprägt. Für sie stand aber fest, dass sie sich nach Dienstschluss in Bergen direkt in die Stadtmitte begeben würde, wo für 18 Uhr ein Fackelzug angekündigt war. Dies hatte sie aus der Lokalpresse erfahren. Punkt 12 Uhr mittags hatte sie an einer landesweiten Schweigeminute teilgenommen, bei der zwischen Nordkap und Skagerrak viele Räder in Betrieben, Verkehrswesen und Behörden mindestens eine Minute lang still standen. Der Frühzug der Bergenbahn hielt Punkt 12 Uhr mitten auf dem Fjell, dem norwegischen Hochgebirge, an und kam dementsprechend mit gut zehn Minuten Verzögerung in der verregneten Hafenstadt an. Auch in der Kleinstadt Voss, wo wir um 13 Uhr auf den verspäteten Zug warteten, schlossen die Bediensteten der norwegischen Staatsbahn NSB pünktlich um 12 Uhr das Reisezentrum und gedachten im Stillen der Opfer vom Freitagnachmittag.
Als wir vom Bahnhof zum Øvre Ole Bulls-Platz kamen, sprang der Unterschied zum Samstag sofort ins Auge. Mittlerweile hatte sich hier ein Berg voller Blumen, Kerzen und persönlicher Widmungen und Aufschriften angehäuft. Es war ein Kommen und Gehen von vielen hundert Menschen, jung und alt, darunter auch viele mit Migrationshintergrund, Entsetzen in den Gesichtern und viele Tränen in den Augen. „Es ist unglaublich, dass ausgerechnet das Land, das jedes Jahr den Friedensnobelpreis vergibt, den größten individuellen Terroristen dieser Zeit hervorbringt“, sagte mir Vidar Andersen, der die örtliche Filiale einer bekannten Fastfood-Kette leitet.
Vom Øvre Ole Bulls-Platz gingen wir zum Folkethus (Volkshaus), der örtlichen Parteizentrale der Sozialdemokraten, wo sich um 16 Uhr weit über 500 Menschen im völlig überfüllten Saal zu einer Trauer- und Gedenkveranstaltung zusammen fanden und viele nicht mehr in den Saal hinein kamen. Hier sprachen örtliche Parteiführer und zwei aus der Region stammende Minister des rot-rot-grünen Kabinetts von Ministerpräsident Jens Stoltenberg. Gekommen waren aber nicht nur Hinterbliebene, Funktionäre und Parteiaktivisten, sondern auch bislang unpolitische Menschen, die durch das Massaker aufgerüttelt wurden. „Jetzt reicht’s, ich muss endlich was tun“, sagt etwa ein Lehrer für klassische Gitarre. Für die ergreifende musikalische Untermalung sorgte ein Künstler, der noch am Donnerstag, also einen Tag vor der Bluttat, beim Sommercamp auf Utøya aufgetreten war. Hier sahen wir in der Menge auch Issam Aarag wieder und machten die Bekanntschaft mit zwei führenden Mitgliedern der Sozialistischen Linkspartei (SV) vor Ort: Simen Willgohs und Sara Bell.
Simen Willgohs vertritt die SV im Stadtparlament von Bergen und hatte gemeinsam mit den örtlichen AUF-Aktivisten, zu denen er offensichtlich gute Kontakte hat, für 18 Uhr eine Kundgebung und einen Schweigemarsch und Fackelzug organisiert. „Nach Tagen der Trauer muss eine öffentliche Debatte über die Konsequenzen dieser Bluttat beginnen“, sagte er zu mir: „Die Leute sollen nicht nur vereinzelt vor dem Fernseher trauern, sondern gemeinsam handeln.“
Die Organisatoren hatten in Windeseile ein Riesenpodium mit starker Lautsprecheranlage errichten lassen. Der Platz war schon vor Beginn der Kundgebung gesteckt voll, während immer mehr Leute in die City strömten. Simen Willgohs eröffnete und schloss die Kundgebung. Besonders eindrucksvoll waren die Redebeiträge örtlicher AUF-Mitglieder, die mit Tore Eikeland befreundet waren und denen der Nachruf auf ihn vor den vielen tausend Zuhörern sehr schwer fiel. Ein AUF-Aktivist um die 20 sagt mir, dass er eigentlich auch zum Camp fahren wollte und dann in letzter Minute doch nicht konnte. Der Schock stand ihm noch ins Gesicht geschrieben.
Zu den Rednern der Kundgebung gehörte allerdings auch der Oberbürgermeister von Bergen. Er ist Mitglied der rechtsextremen „Fortschrittspartei“ (Fremskrittspartiet) FrP, also jener Partei, der Breivik bis zum Jahr 2007 angehört hatte. Die FrP teilt mit der österreichischen FPÖ und der niederländischen Pim Fortuyn-Partei eine Mischung aus Nationalismus, Fremden- und Islamfeindlichkeit und extremem Liberalismus. In ihr leben in gewisser Weise auch die Traditionen des 1933 gegründeten norwegischen Faschismus weiter, der sich an Quisling festmacht, Hitlers Mann in Norwegen und Regierungschef von NSDAP-Gnaden während der deutschen Besatzung 1940-45. Die FrP ist mit einem Stimmanteil von 22% bei der letzten Wahl hinter der Arbeiterpartei derzeit die zweitstärkste Partei im Lande und ist in Bergen, Oslo wie auch etlichen anderen Städten zusammen mit anderen bürgerlichen Parteien an der Stadtregierung beteiligt. Allerdings war FrP-Chefin Siv Jensen, die am Tag nach der Bluttat die ehemalige Mitgliedschaft Breiviks in ihrer Partei bestätigte, besonders um Respektabilität bemüht und distanzierte sich lautstark von Breivik. Vieles spricht dafür, dass dieser in der FrP in gewisser Weise politisch geprägt wurde und sich dann von ihr abkehrte, weil er deren Führung für „Weicheier“ hielt. Den in reaktionären bürgerlichen Kreisen herrschenden abgrundtiefen Hass auf „die Roten“, „die Ausländer“, speziell diejenigen aus islamischen Ländern, und die organisierte Arbeiterbewegung dürfte er allerdings dort aufgesogen haben. Schließlich unterschieden auch die Nazis nicht zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten und verfolgten beide gleichermaßen.
Auch die norwegische Sozialdemokratie ist in den letzten Jahrzehnten genau so nach rechts gerückt ist wie ihre Schwesterparteien anderswo in Europa. Die rot-rot-grüne Osloer Regierung ist am Afghanistan-Krieg ebenso beteiligt ist wie an der Bombardierung Libyens. Für die deutsche LINKE wäre allein dies nach aktuellem Stand ein Grund zum sofortigen Austritt aus der Regierung. Trotz dieses Rechtsrucks jedoch lebt der Geist des Faschismus aus den 1930er Jahren und der Hass auf die organisierte Arbeiterbewegung und ihre traditionellen Massenorganisationen in Leuten wie Breivik offensichtlich weiter. Dass die offen faschistischen Kräfte im Sinne der deutschen NPD oder Freien Kameradschaften in Norwegen derzeit zahlenmäßig schwach sind, ist offenbar kein Grund zur Beruhigung und kein Schutz vor Terroristen vom Schlage eines Breivik. Je kleiner sie sind, desto heftiger und feiger können ihre Schläge aus dem Hinterhalt sein.
Der latente Hass von Breivik und Co. auf „die Roten“ könnte auch historische Gründe haben. Denn im Gegensatz zur SPD rückte die norwegische Arbeiterpartei nach dem 1. Weltkrieg scharf nach links, gehörte mehrere Jahre lang der Kommunistischen Internationale und in den 1930er Jahren dem Londoner Büro, einem internationalen Zusammenschluss linkssozialistischer Parteien, an. Linke Sozialdemokraten verschafften 1935 dem aus der Sowjetunion ausgewiesenen Revolutionär Leo Trotzki in Norwegen Asyl, das die sozialdemokratische Regierung allerdings unter dem Druck der Faschisten und Stalinisten später wieder aufhob. Dieser Opportunismus wurde nicht belohnt; 1940 musste die Regierung vor der Nazi-Invasion ins Ausland flüchten. In den 1930er Jahren schrieb übrigens auch der sozialistische Dichter und freiwillige Teilnehmer im spanischen Bürgerkrieg gegen Franco, Nordahl Grieg, das Anti-Kriegs-Lied „Til Ungdommen“ (An die Jugend). Dieses ergreifende Lied wurde bei dieser Montagsdemo in Bergen ebenso gesungen wie bei vielen anderen Trauer- und Gedenkveranstaltungen in Norwegen und weit darüber hinaus.
„Das war ein politisches Attentat auf die Arbeiterbewegung“, sagte mir die Genossin Sara Bell am Rande der Bergener Demo. Viele hätten geglaubt, „wir seien ein friedliches Land, dabei haben wir eine der stärksten rechtsextremen Parteien in Europa“. Die Wirkung der fremdenfeindlichen Rhetorik durch die Fortschrittspartei, aber auch in privaten Sendern und Internetforen, sei offenbar stärker als gedacht. Nun sei es an der Zeit, „die geistige Brandstiftung und den Nährboden aufzuarbeiten, auf dem ein Täter wie Anders Behring Breivik gedeihen konnte“.
Doch anders als Sara Bell und Simen Willgohs scheint die sozialdemokratische Führung der AP derzeit von einer offensiven politischen Aufarbeitung der Tragödie von Utøya und des Nährbodens für Breivik nichts wissen zu wollen. Sie orientiert auf stille Trauer und nationalen Schulterschluss aller politischen Parteien und tragenden Kräfte der Gesellschaft einschließlich des Königshauses. Insgeheim hofft sie auf viele Sympathiestimmen bei den anstehenden Kommunal- und Regionalwahlen im September. Dabei ist die Zeit in Norwegen (über)reif für eine breite gesellschaftliche Aufklärungskampagne über die Wurzeln des Faschismus und Rassismus. „Diese Diskussion lässt sich nicht unterdrücken“, sagte mir auch ein SV-Mitglied am Rande der Bergener Kundgebung.
Als sich der Fackelzug beim für Bergen üblichen Nieselregen in Bewegung setzte, strömten immer noch Menschen aus den Stadtteilen und dem Umland in die Stadt und reihten sich ein. „So einen Menschenauflauf haben wir hier noch nie erlebt, nicht einmal am Nationalfeiertag am 17. Mai“, sagte mir ein Busfahrer, der gerade Pause hatte und am Bahnhof vom vorbeiströmenden Fackelzug tief beeindruckt war, der mittlerweile auf schätzungsweise 30.000 Menschen angeschwollen war. Er berichtete mir, dass – anders als sonst am Feierabend üblich – die Busse und Straßenbahnen aus dem Umland in Richtung Stadtmitte überfüllt waren. Über Facebook hatte er soeben erfahren, dass gleichzeitig in Oslo 200.000 Menschen auf der Straße und auch anderswo im Lande wohl viele hunderttausend auf den Beinen waren. Es ist eine spontane Massenbewegung, die sich in den Köpfen der Menschen niederschlagen und langfristige Folgen haben wird. Menschen, die erstmals im Leben zu einer Demo gehen, weil sie überzeugt sind, dass sie sich irgendwie in das Geschehen einmischen müssen.
Ähnlich riesig war der Andrang am Montag offenbar auch in der Hafenstadt Kristiansand, wo wir vor der Abreise mit der Fähre am Mittwoch noch einmal zwei Augenzeugen von Utøya begegneten. In der 70.000-Einwohner-Stadt marschierten 15.000 vom zentralen Kirchplatz aus durch die Stadt. Die überlebende AUF-Genossin, Anfang 20, stand offensichtlich noch unter Schock und wollte nicht viel über ihre Erfahrungen reden, während ihr jüngerer, etwa 17-jähriger Mitstreiter berichtete, wie er zum Zeitpunkt der Tat doppeltes Glück hatte. Er befand sich nämlich am anderen Ende der Insel. Wie viele andere sprang auch er in das kalte Wasser und versuchte zu entkommen. Weil das Wasser jedoch nur 12 Grad warm war, habe er rasch eingesehen, dass er es nicht bis zum Ufer schafften würde. Er wurde wie viele andere von Touristen ins Boot gezogen und in Sicherheit gebracht.
Das Land, das wir an jenem Abend verließen, war ein anderes Norwegen als es bei unserer Einreise zehn Tage zuvor. Es ist nicht mehr das scheinbar idyllische, stabile, liberale Norwegen, das allen Menschen Glück und Wohlstand bietet, sondern eine ganz normale polarisierte Klassengesellschaft, in der Täter und Terroristen wie Breivik gedeihen können. Das erinnert an das Brecht-Zitat: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“.
Die Organisationen der Arbeiterbewegung, Gewerkschaften und linken Jugendverbände in Norwegen und ganz Europa sind gut beraten, wenn sie jetzt nicht einfach zur Tagesordnung übergehen und sich auch nicht von den Phrasen über eine nationale Versöhnung einlullen lassen. Schließlich haben wir auch schon mitten in Deutschland Nazi-Anschläge und Übergriffe auf Lager der Linksjugend [’solid] erlebt und eine Kumpanei zwischen örtlichen Behörden und Neonazis bei der Genehmigung von Aufmärschen angeprangert. Der 22. Juli 2011 ist eine Warnung und zeigt, was auch anderswo auf breiter Basis passieren kann, wenn die Arbeiterbewegung unter Bedingungen einer zugespitzten wirtschaftlichen und sozialen Krise nicht die Macht übernimmt.
* Zeigt Solidarität mit der AUF und den Hinterbliebenen der Ermordeten von Utøya!
* Europa- und weltweite Aufklärungskampagne gegen Faschismus und Rassismus!
* Politische und organisatorische Maßnahmen zum Schutz von Veranstaltungen, Demonstrationen und Büros gehören überall auf die Tagesordnung. Wir können uns nicht auf den bürgerlichen Staatsapparat verlassen, der offensichtlich über Jahre hinweg auf dem rechten Auge blind war. Besinnen wir uns auf die eigene Stärke, Erfahrungen und reichen Traditionen der ArbeiterInnenbewegung bei der Selbstverteidigung gegen Faschisten.