Der Kampf gegen die Pensionsreform eskaliert. Die Gewerkschaftsführungen blockieren noch, aber der Druck der Basis wird immer stärker, berichtet Greg Oxley aus Paris.
Der Kampf gegen die Erhöhung des Pensionsantrittsalters von 60 auf 62 Jahre (beziehungsweise 67 zur Erlangung der Vollpension) weitet sich zusehends zu einem Flächenbrand aus. Nach Massendemonstrationen mit zwei bis drei Millionen TeilnehmerInnen im Juni, am 7. und 23. September sowie am 2. Oktober fanden am 12. Oktober wieder im ganzen Land Massenproteste statt. Die Führungen der nationalen Gewerkschaftsdachverbände versuchen noch immer den Protest auf „Aktionstage“ zu reduzieren, aber der Druck der Gewerkschaftsbasis in Richtung eines unbegrenzten Generalstreiks steigt.
In Betriebsversammlungen in den Schlüsselsektoren der Wirtschaft forderten etliche Belegschaften, dass der Aktionstag vom 12. Oktober der Startschuss für eine Generalstreiksbewegung werden müsse. Diese Stimmung herrschte besonders bei den EisenbahnerInnen und im Transportsektor, bei den Stromversorgern, in der chemischen und erdölverarbeitenden Industrie, unter den Hafenarbeitern, den MedienarbeiterInnen in TV und Radio sowie in mehreren Bereichen des öffentlichen Dienstes, insbesondere unter den LehrerInnen. Auch die Jugend beteiligt sich zusehends an der Bewegung. In Kleinstädten kam es schon seit Schulbeginn immer wieder zu SchülerInnendemos gegen die Pensionsreform im Speziellen und den „Sarkozy-ismus“ und den „Staat“ im Allgemeinen. Am 12. Oktober wurden bereits 300-400 Mittelschulen von den SchülerInnen besetzt und bestreikt. Der Bildungsminister, der um die Sprengkraft der SchülerInnenproteste weiß, bezeichnete dies als „unverantwortlich“.
Die Hafenarbeiter in Marseille wollten nicht länger auf den offiziellen Beschluss zu einem Generalstreik warten und sind bereits seit Tagen im Streik. Die Pariser Verkehrsbetriebe hängen mindestens einen zweiten Streiktag an. Elf der zwölf Raffinerien traten in den Streik, die Belegschaft der zweitgrößten Raffinerie des Landes nütze den Aktionstag ebenfalls um in den unbefristeten Streik zu treten. Der Betriebsratsvorsitzende: „Dieser Streik kann von der Belegschaftsversammlung durch Abstimmung jeden Tag beendet werden, aber es dauert jedenfalls zwei Tage bis das Werk vollständig heruntergefahren ist und zwei Tage damit es wieder anrennt.“
Diese Entwicklungen zeigen den steigenden Zorn breiter Schichten der ArbeiterInnenklasse und Jugend und die Bereitschaft in entscheidende Kämpfe einzutreten. Der staatliche Rassismus gegen die Roma, Finanz- und Korruptionsskandale in der Regierung, sowie die Arroganz der Herrschenden gegenüber den Protesten haben die öffentliche Stimmung zusätzlich angeheizt. Nur noch 26 Prozent der Bevölkerung stehen hinter dem Präsidenten, während sich 69 Prozent der Befragten für einen Generalstreik gegen die Konterreformen aussprechen. Den Gewerkschaften stehen heute 52 Prozent der Befragten positiv gegenüber (ein Plus von 10 Prozentpunkten seit Beginn der Kämpfe). An der Staatsspitze selbst herrscht Endzeitstimmung, was die Kampfeslust der ArbeiterInnenklasse zusätzlich befeuert: Ein schwaches und ramponiertes Gegenüber macht die ArbeiterInnen stärker.
Jedoch ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Wenn die Führungen der Gewerkschaftsdachverbände sich an die Spitze der Bewegung setzen würden, könnte sich Sarkozy nicht lange halten. Doch das ist nicht der Fall. Bernard Thibault, der Vorsitzende der CGT, versucht alles um den in der Luft liegenden Generalstreik zu verhindern. In einem Radio-Interview am 7. Oktober wies er das Wort “Radikalisierung” zurück und betonte, dass der Kampf nur deshalb “in eine neue Phase” gehe, weil die Regierung drei Aktionstage ignoriert habe. Er fordert eine „tatsächliche nationale Debatte“ und eine „Überprüfung der Gesetzesvorlage, da man nicht gegen den Willen der Mehrheit regieren könne“. Konkreter wollte er nicht werden. Der Journalist war bemüht endlich Aussagen zu bekommen und hakte nach: „Es scheint, dass sie das Wort Generalstreik nicht in den Mund nehmen wollen. Sie wirken so zögerlich, dass uns unklar ist, ob Sie diese Bewegung anführen oder ihr hinterherlaufen.“ Thibaults Antwort: „Der Generalstreik war nie soziale Praxis in der Geschichte unseres Landes. Der Ruf nach einem Generalstreik ist ein abstrakter und obskurer Slogan. Ich sehe darin keinen Weg um ein neues Kräfteverhältnis herzustellen.“ So sein tragisch-komischer Versuch die französische Geschichte zu verdrehen.
Dieses Interview und die konkrete Praxis zeigen, dass die Gewerkschaftsführungen einen unbegrenzten Generalstreik mit allen Mitteln verhindern wollen. So ist es möglich, dass die bürokratische Betondecke in den Gewerkschaften die Generalstreiksbewegung zu ersticken vermag. Wie sehr sie jedoch die Getriebenen des Kampfwillens ihrer Basis sind, zeigt sich darin, dass es nun „tägliche Streiks“ geben soll, womit nur das kommentiert wird, was die KollegInnen von sich aus tun.
Die Jugend könnte in diesem Ringen lebendiger Kräfte von entscheidender Bedeutung sein. Wenn die SchülerInnen massiv in den Kampf einsteigen, dann wird es extrem schwierig den Generalstreik abzuwenden. In den letzten 20 Jahren wurden gleich drei Konterreformen durch die SchülerInnen- und Studierendenbewegung zu Fall gebracht – zuletzt im Jahr 2006 der CPE (Vertrag der ersten Einstellung, was einer Prekarisierung der Jugendarbeit gleichkam).
Bahnt die Jugend den Weg, dann könnte in Frankreich ein Generalstreik wie im Mai 1968 ausbrechen. Auch diese Entwicklungsmöglichkeit ist in der aktuellen Situation Frankreichs gegeben. Auch wenn ein Generalstreik dieser Tage verhindert werden kann, deuten alle ökonomischen, sozialen und politischen Parameter auf eine massive Protestbewegung der ArbeiterInnen und Jugendlichen. Unter den gegebenen Bedingungen, wenn sich die ArbeiterInnenklasse erstmals entschieden auf breiter Front bewegt, wird sich Frankreich wie 1968 schnell in Richtung einer neuen Revolution bewegen.
Siehe auch: France: 3.5 million on the streets against pension reform – what next for the movement?