Der “ Denkzettel“ verschafft einen hervorragenden Überblick über das – stets im praktischen politischen Leben verankerte – theoretische Schaffen des Vorsitzenden des Petrograder Sowjets 1905, des Organisators des Oktoberaufstands 1917 und der Roten Armee.
Die praktische Rolle Trotzkis im Verlauf der russischen Revolutionen und beim Aufbau der jungen Sowjet-Union ist weitgehend bekannt. Auch seine politischen Schriften zur “ permanenten Revolution“ und zum sowjetischen “ Thermidor“ -seine fundierte Abrechnung mit der stalinistischen Bürokratie- haben einen gewissen Bekanntheitsgrad. Weit geringer ist der Informationsstand darüber, daß Trotzki von frühester Jugend an ein herausragender Theoretiker war- in einer stupenden Breite: von Politik und Ökonomie, über soziale und „Alltagsfragen“( er schrieb darüber ein Buch! ), bis hin zu Kunst, Literaratur, Wissenschhaft und Philosophie. Der neuaufgelegte “ Denkzettel “ ( mit einer Einleitung von Alan Woods ) kann dazu beitragen diese Lücke zu verkleinern.
Als der erste Weltkrieg tobte und der Großteil der Führungen der Arbeiterinnenbewegung mit jeweils “ ihrer“ Bourgeoisie marschierte, traf sich 1915 in Zimmerwald in der Schweiz eine kleine internationalistische Linke und optierte gegen des Mordbrennen ( auch Lenin war darunter). Der Verfasser des dort beschlossenen “ Zimmerwalder Manifests“ war niemand andere als Leo Trotzki .
Während die bolschewistische Führung (Kamenjew, Stalin,….) sich während der Februarrevolution 1917 lange im Schlepptrau von Kerenski & Co. befand, vertrat Trotzki unmißverständlich die Position des Bruchs mit der Bourgeosie. Erst mit der Rückkehr Lenins und seinen legendäre April-Thesen “ Alle macht den Räten“ setzte ein Kurswechsel in der Partei ein.
Wer über den- widersprüchlichen- Verlauf der chinesischen Revolution etwas erfahren will, ist beim “ Denkzettel“ richtig. Stalin und die Kommunistische Internationale hatten den chinesischen Kommunistinnen die Zwangsjacke eines langfristigen Bündnisses mit der“ forschrttlichen nationalen Bourgeosie“ verpaßt. Trotzki kritisiert diese Strategie. Der reale Verlauf der chinesischen Revolution sollte ihm recht geben.
Tief sind die Einsichten in die “ Flexibilität “ der Bourgeosie- Passagen die an Antoni Grammsci erinnern.
Ein Glanzstück sind die Beiträge Trotzkis zu einer materialistischen“ Psychologie der Revolution“: der Sieg des Stalinismus – obwohl alles andere als eine „Notwendigkeit“; es GAB Alternativen- war keine simple „Verschwörung“. Er hatte tiefe politische, ökonomische aber auch psychologische Ursachen: das Ausbleiben der internationalen Revolution, die Erschöpfung der ( revolutionären ) Massen, die Sehnsucht nach “ Ruhe“.
Das Augenmerk ist auch auf das “ Gesetz der ungleichzeitigen und kombinierten Entwicklung“ zu richten. Die späterkommenenden Nationen ahmen nicht sklavisch ihre Vorläüfer nach. In relativ kurzer, komprimierter Zeit übernehmen die „Neuen“ etwa industrielle Entwicklungen ( z.B. das wilheminische Deutschland). Die Putilow- Werke im zaristischen St.Peterburg hatten mit 40 000 Beschäftigten ein hochkonzentriertes Proletariat- eine enorme Schubkraft für die sich abzeichnende Revolution.
Ein theoretischer Leckerbissen sind die erkenntnistheoretischen Refeflexionen über die Beschränkheit der formalen Logik ( A= A)und die Notwendikeit einer dialektischen Logik, die die starren Begriffe in Bewegung versetzt, “ verflüssigt“.
Insgesamt eine wunderbare Auswahl. Natürlich kann da nicht „alles “ drinnen sein- etwa Trotzkis Beiträge zur “ Akkumulationsdebatte“ in der Sowjetunion; Schriften die heute nützlich sind- wo GenossInnen China auf Grund seiner extremen “ Marktpolitik“ breits als “ kapitalistisches und imperialistisches Land“ einstufen. Trotzki wäre hier ein gutes Korrektiv.
Mein einziger Wunsch: Hoffentlich wird das Buch oft gekauft und intensiv gelesen.
Hermann Dworczak