Dies ist ein Artikel aus der Funke Ausgabe Nr. 216 vom 30.8.2023. Wir veröffentlichen ihn anlässlich des 51. Jahrestages des Militärputsches in Chile erneut.
Vor 50 Jahren, am 11. September 1973, putschte das Militär gegen den chilenischen Präsidenten Salvador Allende und errichtete ein blutiges Regime unter General Pinochet. Damit endete die dreijährige Regierungszeit des Sozialisten Allende, die wichtige Lehren über das Scheitern des Reformismus, den Charakter des bürgerlichen Staates und die Notwendigkeit eines revolutionären Sturzes des Kapitalismus enthält. Von Martin Halder.
In den Jahren 1970–73 war die Situation in Chile geprägt von scharfen Klassenkämpfen. Auf der einen Seite standen die Arbeiterklasse und die Bauernschaft, die ihr Leben in die eigenen Hände nahmen und auf der anderen Seite die herrschende Klasse Chiles und der US-Imperialismus, die zielstrebig daran arbeiteten, diese Regierung zu Fall zu bringen. Es war eine Phase von Revolution und Konterrevolution, hinter der eine jahrzehnte- bzw. jahrhundertlange Geschichte von imperialistischer Ausbeutung und Unterdrückung steht.
Die Rolle des Imperialismus
Die Eroberung Chiles durch die spanische Krone begann 1536, doch die Spanier fanden hier keine bedeutenden Gold- oder Silberquellen. Das Einzige wertvolle Beute waren die fruchtbaren Ländereien in Zentralchile, die sie unter einigen wenigen Großgrundbesitzer aufteilten. Die Erträge der verbliebenen Landstriche reichten kaum aus, um den Kleinbauern das Überleben zu garantieren. Von hier an datiert die Landfrage, die in Chile eine wichtige Rolle spielen wird.
1818 errang Chile seine Unabhängigkeit. Doch wie der irische Revolutionär James Connolly am Beispiel seines Landes erklärte, würde im Falle der Unabhängigkeit unter kapitalistischen Bedingungen „England immer noch regieren. Es würde das Land durch ihre Kapitalisten, durch ihre Grundbesitzer, durch ihre Finanziers, durch eine ganze Reihe Institutionen regieren, die sie in diesem Land aufgebaut und mit den Tränen unserer Mütter und dem Blut unserer Märtyrer getränkt hat.“
So stand es auch um Chile. Auch hier war es in erster Linie das britische Kapital, das sich schon unter der spanischen Herrschaft in das Land einkaufte. Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts begann der US-Imperialismus Großbritannien abzulösen, indem er immer mehr die Ausbeutung der gewaltigen Bodenschätze des Landes in die Hand nahm: Salpeter, Eisenerz, aber vor allem Kupfer, von dem in Chile weltweit so viel gefördert wird wie in keinem anderen Land der Welt.
Der Großteil der chilenischen Kupferproduktion befand sich im Besitz von zwei US-Konzernen (Anaconda Copper Mining Co. und Kennecott Copper Co.), die bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts 4 Mrd. US-Dollar an ihre Mutterkonzerne an Gewinn ausschütteten, während ihre Investitionen laut eigenen, aufgebauschten(!) Zahlen lediglich 800 Mio. betrugen.
Die gleiche Rolle erfüllten die US-Banken, die durch Kredite und Beteiligungen einen stetig steigenden Schuldenberg für Lateinamerika auftürmten. Während 1955 diese Länder 20% ihrer Exporteinkünfte aufwenden mussten, um die Rückzahlung der Schulden und die Gewinnausschüttungen an ausländische Konzerne zu finanzieren, betrugen diese Zahlungen 1968 bereits 37% der Einkünfte. Das ist der Kern des Imperialismus: Export von Kapital und Import von Extraprofiten aus den dominierten Ländern.
Das Resultat dessen ist, dass die „heimische“ Kapitalistenklasse, die abhängig und stark verwachsen mit dem US-Imperialismus ist, unfähig ist, die eigene Wirtschaft und Infrastruktur zu entwickeln. Besonders deutlich zeigt sich dieser Umstand an der Entwicklung der Eisenbahn in Südamerika. Die Bahnstrecken verbinden nicht etwa systematisch die verschiedenen Regionen und Städte des Kontinents. Das Schienennetz wurde im Gegenteil – finanziert durch ausländisches Kapital – so ausgebaut, dass es die Rohstoffquellen der Länder an die nächsten Häfen anschloss.
Die Frachttarife für den Warentransport wurden von den Imperialisten so festgelegt, dass es nahezu unmöglich war, eine eigenständige Industrie aufzubauen. Lateinamerika sollte nur billige Rohstoffe liefern, der Aufbau einer eigenständigen Exportindustrie, die in Konkurrenz mit den imperialistischen Nationen treten könnte, sollte um jeden Preis verhindert werden.
Soziale Polarisierung
Die Ausplünderung Chiles durch den US-Imperialismus verdammte den Großteil der Bevölkerung zu extremer Armut. 1964 befanden sich 80% des nutzbaren Agrarlandes im Besitz von gerade mal 4,2% der Grundbesitzer. 1,5 Mio. Kinder galten als unterernährt und 500.000 Familien waren obdachlos – in einem Land, das 10 Millionen zählte!
Die Arbeiterklasse wuchs stetig und fast die Hälfte verdiente weniger als den Mindestlohn. Sie begannen sich immer mehr ihrer eigenen Kraft bewusst zu werden und entschiedener gegen ihre Bosse zu kämpfen. Die Gewerkschaften zählten 1970 700.000 Mitglieder, unter Allende wuchsen sie innerhalb kurzer Zeit auf über 1 Mio. Mitglieder an. Streiks nahmen rapide zu: 1965 gab es 723 Streiks und 1972 waren es bereits 3.526.
In den 1960ern fand ein Prozess der sozialen Gärung und der Radikalisierung statt. Bei den Wahlen 1964 konnten sich die bürgerlichen Christdemokraten nur mit einer kämpferischen Rhetorik („Revolution in Freiheit“, Bezugnahme auf „christlichen Sozialismus“) und weitreichenden Reformversprechen gegen Allendes Wahlbündnis durchsetzen. Doch sobald die Regierung an der Macht war, erwies sie sich als unfähig, die sozialen Probleme zu lösen.
Allende gewinnt die Wahl
Schlussendlich fand die Polarisierung einen linken Klassenausdruck. Am 4. September 1970 wurde Allende von der Sozialistischen Partei (PS) mit 36,3% der Stimmen zum Präsidenten gewählt und setzte sich gegen seine beiden bürgerlichen Gegner Alessandri (34,9%) und Tomic (27,8%) durch.
Allende trat nicht allein für die PS an, sondern als Kandidat für das Volksfrontbündnis Unidad Popular (Volkseinheit; UP): Ein Wahlbündnis, das neben den zwei starken Arbeiterparteien PS und der Kommunistischen Partei (PC) auch eine Reihe kleiner Parteien umfasste. Insbesondere die Einbeziehung der bürgerlichen „Radikalen Partei“ sollte noch eine wichtige Rolle spielen.
Denn wie bei den Volksfrontregierungen der 1930er in Spanien und Frankreich war das Bündnis mit „fortschrittlichen“ Bürgerlichen gerade für die stalinistische PC ein willkommener Anlass, gegen zu radikale Forderungen zu argumentieren. Doch unter dem Druck der Massen, die Allende an die Macht brachten und all ihre Hoffnungen in ihn setzten, ging die Linksregierung viel weiter als sie anfänglich wollte.
Reformprogramm und weitreichende Verstaatlichung
Innerhalb der ersten Wochen und Monaten setzte die UP-Regierung weitreichende Reformen um. Mindestlohn, Kindergeld und Pensionen wurden stark angehoben. Die Preise für Grundnahrungsmittel sowie die ständig steigenden Mieten wurden auf einen fixen Wert festgesetzt. Jedes Kind unter 12 Jahren bekam täglich einen halben Liter Milch, was die Kindersterblichkeit um 20% reduzierte. Das Wahlalter wurde auf 18 herabgesetzt, um die Jugend direkter in die Politik einzubinden.
Das Kernstück der Reformen, das die neue Regierung unter dem Druck der Massen umsetzte, war die defacto entschädigungslose Verstaatlichung der Kupferminen im Juli 1971, die überwiegend in den Händen des US-Kapital waren und für etwa zwei Drittel des gesamten Exports des Landes aufkamen. Weiters wurde fast der gesamte Bergbau (Kohle, Eisen, Nitrate), die Textilindustrie sowie 18 der 26 Privatbanken verstaatlicht – ein harter Schlag für das US-Kapital.
Außerdem begann die Regierung eine großangelegte Bodenreform, bei der die großen Ländereien enteignet und auf die armen Bauern aufgeteilt wurden. Von 1971–73 wurden so insgesamt 66.000 km² enteignet – bis 1973 waren fast alle großen Ländereien (Latifundien) aufgelöst und aufgeteilt.
Allendes Sozialismus
Allende war langjähriger Parlamentsabgeordneter und Präsidentschaftskandidat und gehörte dem rechten Flügel der PS an. Wichtig zu verstehen ist allerdings, dass die PS in Chile erst in den 1930ern in Abgrenzung gegenüber den Sozialdemokraten und der stalinistischen Kommunistischen Partei gegründet wurde.
Während die stalinistische PC den Sozialismus als Ziel für eine ferne Zukunft sah, stand die sozialistische Partei weiter links davon. Sie sah den Aufbau des Sozialismus als unmittelbare Aufgabe im Hier und Jetzt – allerdings über den Weg des Reformismus.
Ein Abgeordneter der PS, Viera-Gallo, drückte diese Orientierung so aus: „Den Sozialismus erreicht man nur mit dem Fahrrad.“ Der Austromarxist Otto Bauer meinte in ähnlicher Manier, dass der Weg zum Sozialismus bedeutet: 50% + eine Stimme. Den Sozialismus erreicht man also ohne dass die Massen in einer Revolution die Macht übernehmen müssen, sondern Stück für Stück über die bestehenden Institutionen.
Der reformistische Weg ist in der Tat eine schöne Vorstellung, jedoch hat die herrschende Klasse unzählige Male in der Geschichte bewiesen, dass sie gewillt ist, alles zu tun, um diese Ideen zu verhindern.
Verschwörung des US-Imperialismus
Chile selbst ist dafür das beste Beispiel. Die herrschende Klasse des Landes und der US-Imperialismus bereiteten die Reaktion gegen die Linksregierung seit ihrem ersten Tag vor. Der US-Botschafter in Chile meinte nach Allendes Wahlsieg: „Nicht das kleinste bisschen soll Chile unter Allende erreichen. Sobald Allende an der Macht ist, sollten wir alles in unserer Macht stehende tun, um Chile und alle Chilenen zu äußerster Entbehrung und Armut zu verdammen.“ US-Präsident Nixon gab am 15. September 1970 dem CIA folgende Anordnung: „Lasst die Wirtschaft aufschreien, so dass Allende nicht an die Macht gelangt oder dass er gestürzt wird.“
Gesagt, getan: Die CIA finanzierte mit über 13 Mio. US-$ rechte Parteien und mediale Hetzkampagnen gegen die Regierung und versuchte bereits vor dem Amtsantritt Allendes, seine Ernennung durch den Kongress durch einen Putsch zu verhindern. Am 22. Oktober wurde so der Oberbefehlshaber des Militärs, René Schneider, der sich weigerte einen Putsch gegen Allende auszuführen, bei einem Entführungsversuch erschossen. Das Vorhaben wurde vom General Viaux mit Unterstützung der USA vorbereitet.
Marxistische Staatstheorie
Die Verschwörung verfehlte schließlich ihr Ziel und Allende wurde vom Kongress bestätigt. Doch dort hatten die Bürgerlichen eine Mehrheit. Um als Präsident bestätigt zu werden, machte er ihnen eine Reihe von Zugeständnissen. So unterschrieb er eine sogenannte „Verfassungsgarantie“: Er verpflichtete sich, Milizen (etwa Arbeitermilizen) zu verbieten sowie keine Offiziere zu bestellen, die nicht die Militärakademie absolviert hatten. Außerdem verpflichtete er sich, keine Veränderung an der Spitze des Militärs oder der Polizei vorzunehmen – ein Recht, das dem chilenischen Präsident eigentlich vorbehalten war.
Die Botschaft der herrschenden Klasse ist glasklar: Das ist unser Staatsapparat, er darf nicht angerührt oder in Form einer bewaffneten Arbeiterklasse herausgefordert werden. Allende erhielt so eine praktische Lektion in marxistischer Staatstheorie.
Der bürgerliche Staatsapparat ist ein Instrument der herrschenden Klasse zur Verteidigung der bestehenden Eigentumsverhältnisse und zur Unterdrückung der Arbeiterklasse. Dieser Apparat wurde von den Bürgerlichen über Jahrzehnte – teilweise Jahrhunderte – aufgebaut und perfektioniert. Die Beamten, insbesondere Offiziere, Höchstrichter, Polizeichefs, Generäle usw., werden im Interesse der Herrschenden erzogen, ausgebildet und sorgfältig ausgewählt.
Genau aus diesem Grund ist der Staatsapparat kein neutrales Instrument, das mittels Wahlen erobert und für die unterdrückten Klassen in Betrieb gesetzt werden kann. Lenin fasst diese zentrale Lehre in seinem Klassiker zur Staatsfrage „Staat und Revolution“ folgendermaßen zusammen: „Die Revolution darf nicht darin bestehen, daß die neue Klasse mit Hilfe der alten Staatsmaschinerie kommandiert und regiert, sondern muß darin bestehen, daß sie diese Maschine zerschlägt und mit Hilfe einer neuen Maschine kommandiert und regiert.“
Volksmacht
Die Massen verstanden instinktiv die Gefahr der Konterrevolution und die Notwendigkeit, das Schicksal in ihre eigenen Hände zu nehmen. Wo die Landreform zu lange dauerte oder die Staatsbürokratie die Verstaatlichung verschleppte, besetzten die Bauern kurzerhand selbst das Land. Bereits in den ersten Monaten nach der Präsidentschaftswahl gab es bis zu 300 „illegale“ Besetzungen.
Hunderte Betriebe wurden besetzt, um die Sabotageversuche der Bosse zu verhindern und ihre Verstaatlichung zu erzwingen. In vielen Städten entstanden cordones industriales (Industriegürtel): Zusammenschlüsse aus benachbarten Betrieben, die von den Arbeitern verwaltet wurden und sich gemeinsam koordinierten, um der Wirtschaftssabotage der Herrschenden entgegenzuwirken. Ähnliche Komitees der Selbstorganisierung gab es, um die Versorgung der armen Familien mit Lebensmitteln sicherzustellen. Diese Formen der poder popular (Volksmacht), die im Laufe der Zeit immer offensiver mit ihren Forderungen auftraten, bildeten bereits den Keim einer neuen, sozialistischen Gesellschaft.
Verpasste Chance
Die Massen erwachten immer mehr zum politischen Leben und das Kräfteverhältnis verschob sich damit immer weiter zu ihren Gunsten. Die Regierung löste großen Enthusiasmus aus. Bei den Kommunalwahlen am 4. April 1971 vergrößerten die Sozialisten ihren Stimmenanteil von 13% auf 22,4%, die Kommunisten von 13,8% auf 17% und die Parteien der Volksfront erreichten insgesamt eine absolute Mehrheit (fast 51%).
In dieser Situation hätte die Allende-Regierung Neuwahlen ausrufen können, um die bürgerliche Mehrheit im Kongress zu brechen. Sie hätte friedlich die verbleibende Macht der Bürgerlichen brechen und den Kapitalismus stürzen können.
Doch Allende ließ die verbleibende wirtschaftliche und politische Macht der Herrschenden unangetastet und vertraute auf den bürgerlichen Staatsapparat, insbesondere in das „verfassungstreue“ Militär, dem die Regierung alle möglichen Zugeständnisse machte.
Gleichzeitig schränkte er die Eigeninitiative der Massen ein, statt sie zu befeuern, um die „Rechtstaatlichkeit“ nicht zu verletzen und die Bürgerlichen nicht zu verärgern. So übte die Regierung Druck auf die Bauern aus, illegale Besetzungen zu beenden. Wenn die bürgerliche Ordnung das verlangte, setzte sie auch die Polizei gegen die BesetzerInnen ein. Außerdem bezeichnete Allende die „cordones industriales“ als „unverantwortlichen“ Ausdruck einer „Doppelmacht“.
Schwäche lädt zur bürgerlichen Aggression ein
Das ist die Essenz des Reformismus inmitten einer Revolution: Zugeständnisse nach oben und Aufrufe zur Mäßigung nach unten. Mit jedem Tag dieser Politik konnte sich die Konterrevolution besser und stärker formieren, da sie wusste, dass sie von der Regierung nichts zu befürchten hatte.
Die Großgrundbesitzer und Kapitalisten sabotierten die Wirtschaft. Rechte Gruppen wie die faschistische „Patria y Libertad“ (Vaterland und Freiheit) verübten Anschläge auf Stromleitungen, Pipelines, die Wasserversorgung, Brücken etc., um Chaos und Unzufriedenheit zu stiften. Insgesamt gab es 600 derartige Terroranschläge in Allendes Amtszeit.
Die USA führte währenddessen einen brutalen Wirtschaftskrieg gegen Chile. Sie kappten den Zugang zu billigen Krediten durch den IWF und Ende 1972 organisierten sie zusammen mit 14 anderen Ländern einen Boykott von chilenischem Kupfer. Das brachte Chile an den Rand des Ruins und die Inflation stieg bis 1973 auf 600%. Begleitet wurde das alles von einer internationalen wie nationalen medialen Hetzkampagne gegen die sozialistische Regierung.
Massen kämpfen – Regierung macht Zugeständnisse
Einen ersten Höhepunkt erreichte die Reaktion mit dem dreiwöchigen „Streik“ der LKW-Besitzer und der Unternehmer im Transportsektor im Oktober 1972, um das Land und die Wirtschaft zum Stillstand zu bringen und die Regierung zu sabotieren.
Während Teile der Mittelschichten sich diesen Aktionen anschlossen, nahm die Arbeiterklasse große Anstrengungen auf sich, um die Produktion am Laufen zu halten. ArbeiterInnen gingen teils mehrere Stunden zu Fuß in die Arbeit, organisierten kollektive Fahrtendienste, leisteten freiwillig Überstunden. Außerdem organisierten Komitees, wie die „cordones industriales“, die Verteilung von knappen Ressourcen. So mussten in Industrieunternehmen, in denen die FacharbeiterInnen streikten, die MechanikerInnen anderer Betriebe aushelfen und rotieren. Ein Arbeiter meinte angesichts der Sabotage der Kapitalisten voller Zuversicht: „Wir halten uns ganz gut, jetzt wo unsere Bosse uns verlassen haben.“
Die Unternehmer wurden schließlich besiegt. Doch statt die hetzenden Medienkonzerne und Privatbetriebe, die die Wirtschaft sabotierten, zu enteignen, machte die Regierung erneut ein Zugeständnis. Sie änderten die Zusammensetzung der Regierung und nahmen Vertreter des Militärs ins Kabinett auf. Im weiteren Verlauf wurde der Oberbefehlshaber des Militärs Carlos Prats sogar kurzzeitig Innenminister.
Dieser Schritt sorgte für Skepsis in der Arbeiterklasse, doch Allende verteidigte den Schritt gegen jede Kritik: Die Einbindung des Militärs würde das Volksfrontbündnis stärken. Am 24. Juni 1973 rief Allende seine Unterstützer dazu auf „mit der Gruppe der Opposition, die auch die Reformierung des Landes befürwortet“ in Dialog zu treten. Er warnte davor, das Militär als „reaktionär“ zu bezeichnen und es somit daran zu hindern, „eine dynamische Rolle in der Entwicklung Chiles zu spielen“.
Kaum fünf Tage später, am 29. Juni, fand ein Putschversuch eines reaktionären Panzerregimentes statt, das schließlich durch regierungstreue Truppen gestoppt wurde. Die Massen reagierten innerhalb von Stunden mit Streiks und Fabrikbesetzungen, um gegen den Putsch zu mobilisieren und die Regierung zu unterstützen. Allende antwortete mit einem beschwichtigenden Aufruf, zurück in die Arbeit und runter von der Straße zu gehen.
Mit jedem Zugeständnis der Regierung gewannen die Bosse mehr Selbstvertrauen. Im August organisierten die Transportunternehmer erneut eine Sabotage der Wirtschaft und der Regierung. Wieder wurde diese Aktion von den Massen abgeschmettert.
Die Arbeiterklasse reagierte bis zuletzt mit bemerkenswertem Kampfgeist. Am 4. September, dem dritten Jahrestag der Präsidentschaftswahl, fanden Demonstrationen in ganz Chile statt. 800.000 versammelten sich in Santiago und forderten „ernsthafte Maßnahmen“, „Baut die Volksmacht auf“, „Allende, Allende, wir werden dich verteidigen“. Obwohl Allendes Regierung aufgrund der abwartenden Haltung in den letzten Monaten bereits Unterstützung eingebüßt hatte, zeigte dieser Tag, welche gewaltigen Sympathien er in der Arbeiterklasse und der Bauernschaft genoss. Dies galt auch für normale Soldaten. Die Situation erforderte einen revolutionären Bruch mit dem Bürgertum und ihrem Staat. Dabei müssen die Massen angeführt werden, um selbst den Kampf um die Macht führen zu können. Eine revolutionäre Führung hätte das ganze Potenzial der Massen genutzt und einen klaren Appell an sie gerichtet:
- Aufruf zur Gründung von Bauernkomitees, die die Enteignung des Landes organisieren, ohne auf die Zustimmung des Parlaments oder der Staatsbürokratie zu warten.
- Die Einführung der Arbeiterkontrolle und Gründung von Arbeiterkomitees in der gesamten Wirtschaft.
- Gründung von Arbeitermilizen unter Kontrolle der Gewerkschaften.
- Appell an die Soldaten, ebenfalls Komitees zu gründen und reaktionäre Offiziere abzuwählen.
- Enteignung der Medien unter Kontrolle der arbeitenden Massen und Verstaatlichung der verbleibenden Großunternehmen in Industrie, Transport und Handel.
Der Putsch am 11. September
Doch Allende legte es nicht auf eine ernsthafte Konfrontation mit dem Bürgertum an. Unterdessen arbeitete die herrschende Klasse weiter an den Umsturzplänen. Das Einzige, was den reaktionären Generälen dabei noch im Weg stand, war der Oberbefehlshaber Prats. Konfrontiert mit extremem Druck und Protest der obersten Militärs, trat er schließlich zurück. Als „verfassungstreuen“ Nachfolger empfahl er Augusto Pinochet, welcher von Allende Ende Oktober angelobt wurde.
Die Putschisten hatten nun freie Bahn. Am 11. September um 06:20 in der Früh bekam der Präsident die Nachricht, dass die Flotte in Valparaíso, der größten Hafenstadt des Landes, in den Aufstand gegen die Regierung getreten sei. Es war das Startsignal für den Militärputsch.
Nachdem Allende erfolglos versuchte, Pinochet per Telefon zu erreichen, rief er die Bevölkerung dazu auf, Ruhe zu bewahren und auf die „hoffentlich positive Reaktion der Soldaten“ zu warten. Er harrte bis zuletzt im Präsidentenpalast aus. Als dieser beschossen wurde und die Situation ausweglos schien, beging er schließlich Selbstmord.
Am 11. und in einigen Fällen auch am 12. und 13. September organisierten einzelne Betriebe Widerstand gegen das Militär und warteten vergebens auf ein Signal zum gemeinsamen und organisierten Kampf. Auch viele der Soldaten sympathisierten mit der Linksregierung und ihrem Präsidenten. Das verstand auch Pinochet, der die normalen Soldaten nicht aus den Kasernen beorderte, sondern den Putsch von einer kleinen Anzahl treuer Truppenkontingente durchführen ließ.
Einer der wichtigsten Faktoren, die den Putsch erst ermöglichten, war die tatkräftige Unterstützung des US-Imperialismus. Die USA destabilisierten die Wirtschaft Chiles, lieferten reaktionären Gruppen Geld, Waffen, technisches Know-How und befanden sich mit diesen in ständigem Austausch. Die Beteiligung der USA am Putsch ist ein offenes Geheimnis (CIA-Dokumente zum betreffenden Tag werden weiterhin unter Verschluss gehalten). So gratulierten sich US-Präsident Nixon und sein nationaler Sicherheitsberater Henry Kissinger wenige Tage nach dem Putsch gegenseitig am Telefon und Kissinger meinte: „Zu Eisenhowers Zeiten wären wir wie Helden behandelt worden.“
Die Lehren des Septembers
Pinochet errichtete eine blutige Militärdiktatur und enthauptete die Arbeiterbewegung. Tausende wurde getötet, zehntausende eingesperrt und gefoltert. 20.000 flohen vor der politischen Verfolgung ins Ausland. Für die geleistete Arbeit hob die USA die Sanktionen auf und überschüttete das Land mit billigen Krediten.
Unter Pinochet wurde Chile zum ersten Testlabor für die Umsetzung der neoliberalen Wirtschaftsdoktrin à la Milton Friedman mit Privatisierungen, Senkungen der Sozialausgaben und einer Liberalisierung der Preise.
Die Arbeiterklasse hat mit dem Putsch einen hohen Preis gezahlt. Deswegen können wir den Opfern der Pinochet-Diktatur und den mutigen KämpferInnen der chilenischen Arbeiterbewegung am besten gedenken, indem wir ehrlich die politischen Fehler benennen, die zum Sieg des Putsches geführt haben.
Allende hat danach gehandelt was er sagte – er wollte tatsächlich eine sozialistische Gesellschaft über den Weg von Reformen erreichen. Die Amtszeit von Allende kann uns somit einiges lehren über die Sackgasse des Reformismus, aber auch über den Klassencharakter des bürgerlichen Staates.
Die schier unerschöpfliche Kraft der Arbeiterklasse, für eine Gesellschaft nach neuen Maßstäben zu kämpfen – ohne Bosse und Ausbeutung – bleibt uns wohl als das Beeindruckendste in Erinnerung. In diesen Jahren hätte sie bestimmt mehrmals die Revolution zu Ende führen können, doch ihre Führung schnitt ihr ununterbrochen die Initiative ab. Unsere oberste Priorität muss es deswegen sein, eine revolutionäre Organisation aufzubauen, die die Arbeiterklasse verdient, um die kapitalistische Ausbeutung ein für alle Mal beenden zu können.
(Funke Nr. 216/30.8.2023)