Das jederzeitige Vorhandensein von Strom zu leistbaren Preisen ist für uns in Österreich so alltäglich, dass darüber kaum je jemand nachdachte. Heute explodieren die Preise und die verantwortlichen Manager warnen vor dem Zusammenbruch der Versorgung. Emanuel Tomaselli zu den Hintergründen und Perspektiven der Krise.
Strom ist eine Ware wie jede andere auch, also ein Produkt, das massenhaft produziert wird, um Profit zu machen. Allerdings hat der Strom einen entscheidenden physikalischen Unterschied zu allen anderen Waren: er kann nicht im gesellschaftlich relevanten Ausmaß gelagert werden. Es muss also zu jeder Zeit genauso viel Strom erzeugt werden, wie gerade verbraucht wird.
Steigende (und schwankende) Preise
Dies wird in Europa an verschiedenen regionalen Strombörsen geregelt (Österreichs Strom wird hauptsächlich über Leipzig abgewickelt). Hier werden über alle Zeiträume die Produktion und der Verbrauch von Strom miteinander „gematched“. So gesehen ist jeder Verkauf von Strom ein „Leergeschäft“ also ein Spekulationsgeschäft, da der Handel einerseits und die tatsächliche Produktion und Verbrauch der Ware Strom andererseits zeitlich auseinanderfallen.
Für diese Termingeschäfte sind Sicherheiten zu hinterlegen, denn angenommen der Verkäufer geht Konkurs, muss die Börse den Terminkontrakt für den Käufer von woanders besorgen. Je nach Preisänderung der Ware Strom, muss daher der Verkäufer Sicherheiten nachschießen, oder bekommt welche gutgeschrieben. Hier ist der erste Ansatzpunkt der EU: weil die Energiepreise stark schwanken, machen sich die Herrschenden Sorgen um die Stabilität der Banken, die den Stromhändlern diese finanziellen Sicherheiten zur Verfügung stellen. Die Staaten spannen nun Rettungsschirme auf, um die Banken von den Preisschwankungen der Energiemärkte abzuschotten. Wenn die Energiefirmen komplett kaputt sind, werden ihre Aktionäre durch die Notverstaatlichung gerettet, wie aktuell z.B. die Uniper in Deutschland, deren Einrichtungen und 40 Mrd. € Schulden verstaatlicht wurden.
Strom wird über langfristige Verträge zwischen Erzeugern und Abnehmern gehandelt. Im entscheidenden Augenblick der Stabilisierung des Stromnetzes sind die Netzbetreiber aber gezwungen, das letzte Watt Strom bei kurzfristig verfügbaren Kraftwerken (dies sind im Wesentlichen die Gaskraftwerke) zu beziehen. Die Preise für diesen kurzfristigen Strom sind hoch, doch würde der Netzbetreiber diese nicht zahlen, würde das ganze Stromnetz zusammenbrechen. Gebildet werden die Preise durch das Grenzkostenverfahren (als Teil der Merit-Order-Debatte berühmt geworden), wo alle Stromlieferanten, die im Augenblick zur Stabilisierung notwendig sind, denselben Preis gezahlt bekommen. Dieser Preis sind die Betriebskosten des Kraftwerks mit den höchsten Betriebskosten. Die Alternative wäre, die Stromanbieter gegeneinander bieten zu lassen, was u.a. zum Pokern um Preise führen und das Netz destabilisieren würde.
Die Summe der Strompreise in Europa ist ständig im Steigen begriffen. Das Institut „Prognos“ geht davon aus, dass der Großhandelspreis für eine MW/h im kommenden Jahr auf 500€ steigen wird, das 13-fache von 2019 (Handelsblatt 23.9.22). Diese Preise zeigen an, dass Strom in Europa kurz und langfristig knapp bleiben wird, beziehungsweise, dass seine Produktion sich weiter verteuert.
Woher kommt der Strom?
Die in der EU verbrauchte Primärenergie setzt sich im Jahr 2020 so zusammen: Erdöl: 35%, Erdgas: 25%, Erneuerbare (Biomasse, Wasser, Wind, Sonne): 17%, Nuklearenergie: 13%, Kohle: 12%.
Nur ein geringer Teil der fossilen Primärenergie wird in Strom (und Prozesswärme) verwandelt (EU 2019: 25%), mehrheitlich wird sie direkt in der Produktion, dem Transport und dem direkten Verbrauch im Haushalt umgesetzt: z.B. Kohle wird zu Koks, das gemeinsam mit dem Eisenerz im Hochofen zu Stahl wird; oder Erdöl wird raffiniert und dann hauptsächlich direkt in Verbrennungsmotoren in Wegstrecken umgewandelt; Gas erhitzt Wasser in der Haustherme oder wird zu Kunstdünger verarbeitet.
Um das Netz stabil und die Endgeräte funktionsfähig zu halten, müssen ständig Kraftwerke zu- und abgeschaltet werden, also braucht es eine hohe Reservekapazität an Kraftwerken. Reguliert wird dieser komplexe physikalische Zusammenhang im Kapitalismus – wie oben dargestellt – über die Angebotspreise an den Märkten.
In diesem Jahr läuft aber die Stromproduktion in ganz Europa unrund. Fast alle Kernkraftwerke des Kontinents sind am Ende ihrer Laufzeit. Beim größten Atomenergieproduzenten der EU, Frankreich, stehen mehr als die Hälfte der 56 Atommeiler wegen technischer Probleme still. Streiks der kämpferischen Elektrizitätsarbeiter verzögern die Reparaturen zusätzlich. Der einst größte Netto-Stromexporteuer der EU muss heute Strom importieren. Wegen des Klimawandels produzieren die Wasserkraftwerke weniger Strom und konnten die Speicher nicht füllen. Hinzu kommt der Mangel an Wechselrichter-Chips, die für den Betrieb von Photovoltaik-Anlagen benötigt werden. Insgesamt liegt der Ausbau an erneuerbaren Energien in Deutschland weit unter Plan, während in Österreich noch nicht einmal Pläne existieren.
Weitere wichtige physikalische Paramater sind: leistungsfähige Netze, die Strom über weite Strecken transportieren können und Speicher. Sie sind notwendig, um Ungleichgewichte von Produktion und Verbrauch großräumig (in Ort und Zeit) auszugleichen. Diese Stabilitätspfeiler des Stromnetzes sind Voraussetzungen, um erneuerbare Energie im massiven Ausmaß auszubauen. Sie kommen seit Jahren jedoch kaum über Projektierungsphasen hinaus. Die Anarchie des Kapitalismus erlaubt kein Vorausplanen, was aber angesichts der Klimakatastrophe dringend notwendig ist.
Der letzte Faktor, der das fragile Gebilde nun vollständig ins Wackeln bringt, ist der imperialistische Krieg um die Ukraine. Die EU-Sanktionen plus der Gas-Lieferstopp Russlands verknappen Gas und Kohle. Gibt es diese Waren nicht ausreichend, kann nur weniger Strom produziert werden. So einfach ist das.
Wir argumentieren regelmäßig, dass der profitorientierte Markt eine Umstellung der Energiegewinnung auf erneuerbare Energieformen nicht bewältigen kann. Was es braucht, ist eine globale Planwirtschaft, die alle natürlichen und menschlichen Ressourcen mobilisiert, um eine rasche Umstellung der Energiegewinnung und der -einsparung durchzusetzen. Das erfordert die Enteignung der Konzerne, die die Klimakrise nur nutzen, um neue Profitfelder (etwa e-mobility oder elektrische Stahlherstellung) mit staatlichen Subventionen und Protektionismus zu erschließen – ohne dass die Gesamtvoraussetzungen für den Energiewandel geschaffen würden. Das Problem ist: ein privater Akteur wird immer an den zahlungskräftigsten Kunden verkaufen, was auch immer die Konsequenzen dieses Geschäfts sind. Was zählt ist – wie immer, wenn gewinnorientierte Akteure am Werk sind – der Profit.
Der Kapitalismus wird an der Umsetzung der Energieumstellung scheitern. In den kommenden Monaten wird das Versagen des Marktes noch viel unmittelbarer als durch die Klimakatastrophe spürbar: durch den Mangel an Strom und damit seiner Preisexplosion.
Liberalisierung
Tatsächlich liegt dem Strommangel ein multiples Versagen zugrunde. Seit 21 Jahren ist es in der EU dem Markt überlassen, dass Strom in den Leitungen ist. Die ehemaligen Strombereitsteller wurden in unterschiedliche Firmen aufgespalten und neue Akteure, etwa auch solche, die gar keinen Strom produzieren, sondern nur An- und Weitverkaufen (also nur Handelsgewinne einstreifen), betraten den Markt. Die Erzeugung, das Netz und der Vertrieb des Stromes sind seither gesetzlich erzwungen in unterschiedlichen Firmen getrennt. Die Bereitstellung von Kraftwerkskapazität („Netzkosten“ auf der Stromrechnung) und von Strom („Energiekosten“ auf der Stromrechnung) wird auf unterschiedlichen Märkten gehandelt.
Die Lobbyorganisation „oesterreichs energie“, der Verband der österreichischen Energieunternehmen, jubelt vor genau einem Jahr:
„Unumstritten war das damals nicht. Konsumentenschützer warnten vor einem Tarifdschungel und unfairen Angeboten, andere sahen die Versorgungssicherheit in Gefahr. (…) Nichts davon geschah. Im Gegenteil: Sowohl aus Anbietersicht als auch aus jener der Konsumenten wurde die Liberalisierung zu einem Erfolg.“
Ein Jahr später stellen dieselben Profiteure fest, dass der Strommarkt gescheitert ist. Der Chef des Verbundkonzerns (größter Produzent Österreichs) fordert für diesen Winter „kriegswirtschaftliche Maßnahmen“ und geregelte Stromabschaltungen.
Der Jammer des Reformismus
Die SPÖ hat erst heuer der Novellierung des Elektrizitätswirtschaftsgesetz zugestimmt. Damit können Stromhändler den Endkundenpreis des Stroms an die Großhandelspreise binden. Spezifisch haben Wien Energie, Verbund und andere durch Änderung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen eine Bindung ihrer Endkundenpreise an den „Österreichischen Strompreisindex“ (ÖSPI) vorgenommen. Die Berechnungsmethode des ÖSPI wird vom Verein „Austrian Energy Agency“ festgelegt, in dem die Bundesregierung, die Landesregierungen, die Energieversorgungsunternehmen, die Industriellenvereinigung (nicht aber Arbeiterkammer und Gewerkschaften) Mitglied sind. Unsere schlauen Reformisten stimmen im Parlament für den Spekulationspreis für Strom, und machen hinterher allerlei „clevere“ Vorschläge, wie man in die Preisgestaltung eingreifen soll. Das eben ist der Kern des Reformismus: Wenn es in der Krise um die gesetzliche Basis des Kapitalismus geht, gehen die ReformistInnen mit der Bourgeoisie, während sie auf den medialen Plattformen ein Geheule um wenig mehr als nichts veranstalten.
Das SPÖ-Programm zum Strompreis umfasst 3 Seiten, die nichts als politische Beruhigungspillen für die Menschen sind. Die Ernsthaftigkeit der SPÖ lässt sich im Vergleich ermessen: Das EU-Regelwerk zum Strommarkt beträgt 1.900 Seiten. Eingriffe in Einzelaspekte (Merit-Order!) dieses Regelwerks werden nur zu Kostenverlagerungen und neuen Marktverwerfungen führen. Wenn z.B. Gaskraftwerkbetreiber niederere Stromerzeugungspreise („Energiepreise“) dulden müssen, werden sie dies kompensieren, indem sie die Bereitstellung der Kapazitätspreise („Netzkosten“) erhöhen, andere Märkte beliefern oder gar keinen Strom mehr produzieren.
Wir halten dem entgegen: Jeder erfolgreiche Eingriff zur Sicherstellung der Energiesicherheit für alle Konsumenten (nicht nur die Reichen) muss durch Eingriff in die Produktionskapazitäten und Verbrauchzuweisungen erfolgen. Dafür braucht es 4 Dinge:
- Die Komplettverstaatlichung der Energieversorgungsunternehmen
- Ersetzung der Preisbildung an den Märkten durch das Planungsprinzip
- Die Planung von Produktion und Verbrauch von Strom muss von demokratischen Organen der Arbeiterklasse, nicht durch die Zahlungsfähigkeit der EndkundInnen, erledigt werden
- Die Wahl des Managements der Energieversorgungsunternehmen durch die ArbeiterInnen dieser Unternehmen
(Funke Nr. 207/27.9.2022)