In den letzten Monaten ergriff das Regime der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) drastische Maßnahmen, die die Gesellschaft erschütterten und weit verbreitete Spekulationen auslösten. Eine Analyse von Dao Feixiang.
Das chinesische Regime disziplinierte eine Reihe großer Privatunternehmen und erließ gleichzeitig weitreichende Vorschriften für die Unterhaltungsindustrie. Ein von allen großen staatlichen Medien beworbener obskurer Blog-Post verkündete in diesem Zusammenhang: „Jeder kann spüren, dass ein tiefgreifender Wandel im Gange ist!“ Aber führt das Regime tatsächlich eine soziale Transformation durch? Oder zielen diese Maßnahmen nur darauf ab, die Grundlagen des in China herrschenden Kapitalismus zu verteidigen?
Nach dem 100. Jahrestag der Gründung der KPCh im Juli dieses Jahres, führte der chinesische Staat eine Welle von Umstrukturierungen durch. Diese zielten auf den Privatsektor ab und umfassten unterschiedliche Industrien. Bis Mitte August schätzt der Economist, dass es „über 50 behördliche Maßnahmen gegen Dutzende von Unternehmen wegen einer schwindelerregenden Reihe mutmaßlicher Straftaten, von Kartellmissbrauch bis hin zu Datenverstößen“ gab. „Die Androhung von staatlichen Verboten und Geldstrafen hat die Aktienkurse belastet und die Anleger rund 1 Billion US-Dollar gekostet“, wird weiter berichtet. Diese Maßnahmen trafen vor allem die Tech-Industrie, die bis vor Kurzem das Juwel der chinesischen Wirtschaft war. Im Juli ermittelte der Staat gegen DiDi, einen Giganten der Transportdienstleistungsbranche, wegen „Bedenken bezüglich der Cyber-Sicherheit und des öffentlichen Interesses“. Kurz darauf ordnete er die Entfernung von 25 Apps, die der Konzern betreibt, aus allen großen App-Stores in China an. Dies geschah direkt nach dem Börsengang von DiDi in den USA.
Auch Jack Ma traf wieder einmal der Schlag. Bereits Ende 2020 wurden seine Unternehmen Ant Group und Alibaba vom Staat mit regulatorischen Maßnahmen bestraft. Im April dieses Jahres wurde Alibaba mit einer weiteren Kartellstrafe in der Höhe von 18,2 Milliarden RMB (2,8 Milliarden US-Dollar) belegt. Weiters wurde er ausdrücklich angewiesen, das Blockieren von Links seiner Rivalen auf seinen Plattformen einzustellen. Am 13. September berichtete die Financial Times von durchgesickerten Plänen Pekings, das lukrative Alipay-App-Geschäft von der Ant Group abzuspalten, wodurch dieses zu gleichen Teilen der Ant Group und dem Staatsunternehmen Zhejiang Tourism Investment Group unterstellt werden soll. Jack Ma wurde gezwungen, sein Promi-Image als „Volksmilliardär“ deutlich abzuschwächen und trat nur noch bei wenigen Gelegenheiten auf, um staatliche Gegenreaktionen zu vermeiden. Diese Maßnahmen sind für die KPCh nichts Neues. Die Partei führte in den letzten zwei Jahren immer mehr Regulierungen ein, um Marktstabilität zu schaffen. Der Unterschied zu den bisherigen besteht nun darin, dass immer mehr davon, immer schneller und in größerem Umfang umgesetzt werden.
Eine tiefgreifende Revolution oder mehr vom Alten?
Die drastischen Maßnahmen, die die Partei in den letzten zwei Monaten ergriff, wurden in einem Blog-Beitrag, den alle großen staatlichen Medien teilten, einem merkwürdigen Erklärungsversuch unterzogen. Dieser Post mit dem Titel „Jeder kann spüren, dass ein tiefgreifender Wandel im Gange ist!“ behauptete, die jüngsten Maßnahmen der KPCh gegen den Privatsektor seien eine Sicherstellung, dass China nicht den Weg der Sowjetunion einschlage. Zudem feierte er diese Politik sogar als Teil einer „tiefgreifenden Revolution“.
Dieser Beitrag zog weit verbreitete Spekulationen darüber nach sich, ob er tatsächlich ein Manifest der obersten KPCh-Führung und ein Zeichen dafür sei, dass sich diese nach links radikalisiere. Zudem alarmierte seine von Mao-Nostalgie geprägte Sprache die KapitalistInnen – auch die westlichen. Wir müssen uns also fragen, ob in China tatsächlich eine tiefgreifende Revolution stattfindet. Für MarxistInnen bedeutet das einen vollständigen Umsturz der politischen und sozialen Ordnung, wobei die herrschende Kapitalistenklasse von der Arbeiterklasse gestürzt wird. Diese errichtet dann eine geplante und demokratisch geführte Wirtschaft, die sich auf der internationalen Ebene ausbreitet.
Findet in China tatsächlich so ein Prozess statt? Die Regulierungsmaßnahmen, die das KPCh-Regime in den letzten Jahren ergriff, besitzen jedenfalls ein Ausmaß, welches westliche KapitalistInnen und Beobachter kaum glauben können. Die dafür notwendige Durchsetzungskraft verdankt der chinesische Staat einer Parteibürokratie, welche ein vergleichsweise hohes Maß an unabhängigem Handlungsspielraum gegenüber den Kapitalisten innehat. Der Westen sowie viele chinesische KapitalistInnen fühlen sich mit diesen Kräfteverhältnissen in China zutiefst unwohl und befürchten Maßnahmen der Bürokratie, die ihre Profitabilität behindern würden, ja, sogar zur Enteignung einiger KapitalistInnen durch das Regime führen könnten.
Näher betrachtet sieht man jedoch, dass keine dieser Regulierungsmaßnahmen die chinesische Wirtschaft grundlegend verändert. Das Hauptziel des Staates ist es, die grundsätzlich anarchische Marktwirtschaft zu regulieren und nicht abzuschaffen. Er hofft, durch strenge Regeln und Aufsicht, die eigenwilligsten UnternehmerInnen zum Rückzug zu zwingen, sowie „fairen Wettbewerb“ und „gesunden Markt“ zu fördern. Trotz der verschiedenen kartellrechtlichen Maßnahmen bleibt die Kapitalistenklasse in ihrer Gesamtheit der dominierende Wirtschaftsakteur. Es sollen lediglich Monopole gebrochen sowie allzu riskante Investitionen und weitere Probleme verhindert werden.
MarxistInnen wissen, dass die Idee, durch systematisches Beaufsichtigen der KapitalistInnen durch den Staat den Widerspruch zwischen Privateigentum und gesellschaftlich organisierter Produktion auflösen zu wollen, utopisch ist. Denn der Markt belohnt einzelgängerische Aktivitäten sowie riskante Investitionen, Betrug und unverantwortliche Geschäftspraktiken, solange Gewinne erzielt werden können. Egal, wie viele dieser Individuen bestraft werden oder wie viele Regulierungen erlassen werden – der Kapitalismus wird weiterhin solche EinzelgängerInnen wie Pilze aus einem verrottenden Baum produzieren. Der einzige Weg, diese systemimmanenten Widersprüche aufzulösen, ist die Etablierung einer demokratisch geführten Planwirtschaft durch die Arbeiterklasse.
Doch daran hat die KPCh kein Interesse. Der scharfe Einsatz regulierender Maßnahmen dient dem Schutz des chinesischen Kapitalismus. Unter dem zunehmenden Druck der USA, bedeutet das auch, alle inneren Formationen zu beseitigen, die gegen Partei und Staat mobilisiert werden könnten. Egal ob diese aus der mächtigen Kapitalistenklasse oder wütenden Jugendlichen und ArbeiterInnen hervorgehen. Unglücklicherweise für Xi Jinping und die KPCh spitzt sich die gesellschaftliche Krise in der chinesischen Gesellschaft aber rasant zu und auch derartige Maßnahmen werden damit kaum Schritt halten können.
Balancieren auf einem Drahtseil
Noch bevor die Kapitalistenklasse und der KPCh-Staat nervös wurden, hatte man bereits weit verbreitete Unzufriedenheit in der chinesischen Gesellschaft gesehen – nicht zuletzt durch die immer stärkeren systemkritischen Online-Aktivitäten der Jugend. Zudem sorgten verschiedene Vorfälle wie der Selbstmord eines unbezahlten jungen Arbeiters sowie die Vertuschung sexueller Übergriffe durch das Top-Management von Alibaba für hitzige gesellschaftliche Diskussionen, angefüllt mit berechtigtem Klassenhass. Der Staat reagiert darauf zum Großteil mit Repression. Er bestraft dabei die tapfersten KlassenkämpferInnen Chinas weit härter als die Megakonzerne für ihre Geschäftspraktiken. So wurde im März ein Zusteller festgenommen, der versucht hatte, einen Streik zu organisieren, sowie eine Gewerkschaft außerhalb der staatlich kontrollierten Arbeiterorganisationen zu gründen. Anfang September klagten die Behörden einen Absolventen der Universität von Hongkong wegen „Untergrabung der Staatsmacht“ an, weil er Arbeitsbedingungen in Guangxi untersucht hatte.
Während die Bedrohung der politischen Stabilität in erster Linie von unten kommt, gibt es auch parteiinterne Faktoren, die sich als Problem für die oberste KPCh-Führung erweisen könnten. So nimmt der Anteil der Bourgeoisie in den Reihen der Partei zu und damit ein Block der direkt dem Druck der Kapitalisten ausgesetzt ist. Diese sind nicht immer einverstanden mit der Linie des Parteizentrums um Xi Jinping, das langfristige Überleben des chinesischen Kapitalismus zu Lasten ihrer eigenen kurzfristigen Profite zu schützen. In Zeiten gesellschaftlicher Verwerfungen stellt dies aus der Sicht Jinpings eine gefährliche potenzielle Bruchlinie in der Partei dar. Zwar sind die KapitalistInnen heute noch weit davon entfernt, in der Partei die Macht zu ergreifen oder Xi Jinping herauszufordern. Jedoch besteht die Möglichkeit, dass sie ihre Position innerhalb der Bürokratie bis zu einem gewissen Grad festigen könnten, was von der Führung erkannt wurde. So wurde vor Kurzem Zhou Jiangyong, Parteisekretär von Hangzhou, Provinzhauptstadt von Zhejiang, entlassen und inhaftiert, dessen Familie eng mit Jack Ma verbunden sein.
Die jüngste Reihe drastischer Maßnahmen der KPCh ist also kein Ausdruck eines radikalen Dranges nach Veränderung, sondern ein verzweifelter Versuch, den Status quo beizubehalten. Die internationalen Medien sind jedoch weitgehend besorgt darüber, dass China wieder zu einer Planwirtschaft zurückkehren könnte. Tatsächlich versetzt das KPCh-Regime Berge im Versuch, den Einbruch der chinesischen Wirtschaft aufzuhalten. Dabei werden jedoch die Bedürfnisse der chinesischen Arbeiterklasse und der Jugend nicht nur ignoriert, sondern auf brutale Weise unterdrückt. Doch egal, wie stark das KPCh-Regime ist – es ist nicht dazu fähig, die dem Kapitalismus innewohnenden Widersprüche daran zu hindern, die soziale Stabilität aufzulösen, deren Erhaltung es anstrebt. MarxistInnen müssen die damit verbundenen Entwicklungen und ihre Folgen genau untersuchen. Wir haben keine Kristallkugel, um das genaue Ergebnis vorherzusagen. Wir können heute mit Sicherheit nur Folgendes feststellen: Jeder in China kann die tiefe Angst der herrschenden Klasse spüren.
(Funke Nr. 198/5.11.2021)