Die Frage, wie man zur Nation steht, bewegt die Arbeiterbewegung seit ihren frühen Anfängen. Nachdem wir in der letzten „Funke“-Ausgabe 192 den Artikel „Heimat, oh Heimat“ zum Umgang von Linken mit der Nation Österreich veröffentlicht haben, haben wir einige kritische Zuschriften dazu erhalten. Wir begrüßen die Debatte um diese wichtige Frage ausdrücklich.
In dieser Ausgabe drucken wir stellvertretend die Kritik von Niklas Böck (siehe unten), dem Bundesvorsitzenden der Kommunistischen Jugend Österreichs (KJÖ) ab, der uns auf Instagram geschrieben hat. Wir wollen es uns aber natürlich nicht nehmen lassen, eine Reihe der dort vorgebrachten Fragen zu beantworten und falschen Konzeptionen entgegenzutreten. Eine Replik von Florian Keller.
Eine Diskussion zur Frage der Nation ist schon deshalb nicht einfach zu führen, weil „die Nation“ im Allgemeinen eben keine klar definierte, zu allen Zeiten abgegrenzte „Institution“ ist, sondern vielmehr das Ergebnis eines lebendigen sozialen Prozesses. Seit dem Aufstieg des Kapitalismus sind so über die verschiedensten Wege Nationen als Gemeinschaften von Menschen entstanden, die sich mal mehr, mal weniger über verschiedenste Merkmale definieren: Sprache, Territorium, gemeinsame Wirtschaft, kulturelle Eigenheiten usw.
Genosse Böck kritisiert als erstes, dass wir „Staat“ und „Nation“ weder „begrifflich noch theoretisch auseinander halten“ könnten – imperialistisch (also andere Nationen unterdrückend) könne eine Nation als solches wohl kaum sein, dazu bräuchte es den Staat.
Diesen Vorwurf könnte er nicht nur uns, sondern auch Lenin machen, der dezidiert von „unterdrückten, abhängigen, nicht gleichberechtigten und unterdrückenden, ausbeutenden, vollberechtigten Nationen“ spricht. Ist das ein Fehler, den wir mit Lenin teilen? Wir denken nicht.
Nation und Nationalstaat sind nicht das gleiche, aber untrennbar miteinander verbunden. Der Nationalstaat ist letztendlich der praktische Ausdruck, das Machtinstrument der Nation. Imperialistische Nationen haben einen starken Nationalstaat, unterdrückte Nationen (wie die Kurden) haben teilweise keinen Nationalstaat. Aber, wie Lenin 1914 richtig festgehalten hat, gilt selbst in diesem Fall:
„Die Bildung von Nationalstaaten, die diesen Erfordernissen des modernen Kapitalismus am besten entsprechen, ist daher die Tendenz (das Bestreben) jeder nationalen Bewegung. Die grundlegenden wirtschaftlichen Faktoren drängen dazu. In ganz Westeuropa – mehr als das: in der ganzen zivilisierten Welt – ist daher der Nationalstaat für die kapitalistische Periode typisch, normal.“ (Lenin, über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, 1914)
Entscheidend ist letztendlich für die heutige kapitalistische Gesellschaft, dass die Nationen selbst in sich tief gespalten sind: Einerseits gibt es eine kleine Schicht an Großgrund-, Bank- und Konzernbesitzern, die herrschende Klasse. Diese beutet systematisch die Arbeitskraft der anderen großen Klasse in der Gesellschaft aus – der Arbeiterklasse, der all jene angehören, die abhängig von Lohnarbeit sind.
Lenin argumentierte, dass der Nationalstat für den Kapitalismus die typische Organisationsform der Nationen ist. (Bild: IsaakBrodsky)
Der Nationalstaat ist das Instrument in den Händen derjenigen, die auch die Nation anführen – nämlich den Kapitalisten. Mit den staatlichen Institutionen, durch das Bildungssystem, durch den Einfluss auf die Medien versuchen die Kapitalisten und ihr Staat natürlich alles, um diese tiefe Spaltung der Nation mit Propaganda zu überdecken.
Die marxistische Position bezüglich der Nation kann also nur der kompromisslose Internationalismus sein, der im Gegensatz zu den Kapitalisten die Gemeinsamkeiten der Unterdrückten und Ausgebeuteten aller Länder hervorhebt, während er gleichzeitig aufzeigt, dass wir innerhalb der Nation eben nicht in „einem Boot“ mit den Kapitalisten sitzen. Oder anders ausgedrückt: Einen Arbeiter in einer MAN-Fabrik in Österreich verbindet viel mehr mit einem Arbeiter in einer MAN-Fabrik in Polen, als mit einem der (österreichischen) Erben des Porsche-Piëch -Clans, denen über VW ein großer Teil von MAN gehört und denen das Schicksal der (österreichischen) Arbeiter in Steyr offensichtlich völlig egal ist.
Der Internationalismus von Marx und Engels
Diese Erkenntnis ist so zentral, dass Karl Marx und Friedrich Engels sie im „Manifest der Kommunistischen Partei“ mit den berühmten Worten festhielten: „Die Arbeiter haben kein Vaterland. Man kann ihnen nicht nehmen, was sie nicht haben.“ Zum damaligen Zeitpunkt war selbst in einem großen Teil von Europa die Formung von Nationen noch nicht abgeschlossen, wobei Marx und Engels die Bildung von Nationalstaaten als historische Notwendigkeit anerkannten, sondern hatte teilweise gerade erst begonnen!
Wenn Marx und Engels also an dieser Stelle schreiben: „Indem das Proletariat zunächst sich die politische Herrschaft erobern, sich zur nationalen Klasse erheben, sich selbst als Nation konstituieren muß, ist es selbst noch national, wenn auch keineswegs im Sinne der Bourgeoisie“, ist das also keineswegs als Aufruf zu verstehen, sich in die Nationalfarben des jeweiligen Landes zu hüllen. Im Gegenteil: Die Arbeiterklasse muss natürlich unter den Bedingungen der Nation und des Nationalstaates (der ihre Machtübernahme verhindern will) um die Macht kämpfen. In diesem, und nur in diesem Sinne, ist die Arbeiterklasse „noch“ (!) national.
Doch Marx und Engels betonen selbst 1848 schon viel mehr das, was die Arbeiter alle Länder verbindet, indem sie, anstatt verschiedene nationale Eigenheiten zu betonen, gleich darauf schreiben:
„Die nationalen Absonderungen und Gegensätze der Völker verschwinden mehr und mehr schon mit der Entwicklung der Bourgeoisie, mit der Handelsfreiheit, dem Weltmarkt, der Gleichförmigkeit der industriellen Produktion und der ihr entsprechenden Lebensverhältnisse. Die Herrschaft des Proletariats wird sie noch mehr verschwinden machen.“
Und Marx und Engels beantworten im nächsten Satz auch gleich eine der politischen Fragen des KJÖ-Vorsitzenden an uns („letztlich ist die strategische Frage ob man in Etappen (KJÖ) revolutioniert oder gleich weltweit“), indem sie schreiben:
„Vereinigte Aktion, wenigstens der zivilisierten Länder, ist eine der ersten Bedingungen seiner Befreiung.“
Das gilt heute, nach 170 Jahren kapitalistischer Entwicklung und Globalisierung, noch tausendmal mehr als 1848. Lieber Genosse Böck, wir schämen uns nicht dafür, dass wir wie Marx, Engels, Lenin und Trotzki für die weltweite Befreiung der Arbeiterklasse und damit für die Weltrevolution stehen. Das ist kein „antinationaler Studi-Hype“, sondern der Kern der marxistischen Analyse des Kapitalismus und der Perspektiven für den Sozialismus. Sie hat sich durch alle revolutionären Wellen seit 1848 bestätigt, die sich nie an nationale oder nationalstaatliche Grenzen gehalten haben. Und das Aufgeben dieser Perspektive führt unweigerlich, so leid es uns tut, selbst bei den besten Intentionen in eine gewisse „nationale Borniertheit“.
Österreich vor 1945
Doch kommen wir jetzt zum Kern der Kritik von Genossen Böck an unserer Position, nämlich dass wir die Frage, wie wir uns konkret zur österreichischen Nation stellen. Genosse Böck meint, dass „die kommunistische Tradition in Ö. zur Nation in Abwehr zum Deutschnationalismus besteht“, was wir „gekonnt ausgelassen“ hätten. Nachdem wir letztere Frage im vorherigen Artikel nicht ausgelassen, aber tatsächlich nur gestreift haben, möchten wir das hier ausführlicher nachholen, um damit auch noch einmal die marxistische Position zur Frage der österreichischen Nation unmissverständlich darzulegen.
Insbesondere in der ersten Hälfte des 19. Jhdt. war der größte Teil des deutschsprachigen Bürgertums in der damaligen Habsburgermonarchie tatsächlich deutschnational eingestellt. Wo heute von den reaktionären, deutschtümelnden Burschenschaften und FPÖ-PolitikerInnen der „deutsche Kulturraum“ betont wird, ging es damals um eine Befreiung von der reaktionären Habsburgermonarchie und der Dominanz der katholischen Kirche. Österreich(-Ungarn) als eigenständige politische Einheit verteidigten nur habsburgische Monarchisten und Klerikale, die sich insbesondere auf die adeligen Großgrundbesitzer, Offiziere und die Teile des Bürgertums stützen konnten, die schon damals von der Unterjochung der nichtdeutschsprachigen Völker direkt profitierten.
Nach dem Sturz der Habsburgermonarchie durch die Revolution von 1918 waren es weiterhin genau diese reaktionären Kräfte (die Christlichsozialen und späteren Austrofaschisten), die die Existenz eines eigenständigen österreichischen Staates verteidigten, während sie gleichzeitig mit der Restauration der Habsburgermonarchie liebäugelten und alles taten, um den „Schutt der Revolution“ zu beseitigen. Auch das deutschnationale Bürgertum hatte seit der Niederlage der 1848er Revolution, aber spätestens seit den 1870er Jahren jede progressive Regung abgegeben und unterstützte so nicht zufällig auch in Österreich willig einen anderen Faschismus (den Nationalsozialismus). Das gesamte Bürgertum war – unabhängig von seinen inneren Spaltungen – zu einer vollkommen reaktionären Kraft geworden.
Bild: Proklamation der Republik am 12. November 1918.
Tatsächlich spielte die Frage, ob man „deutscher“ oder „österreichischer“ Arbeiter war, für die Revolution von 1918 und die scharfen Klassenkämpfe der 1920er Jahre kaum eine Rolle. Die Arbeiterklasse in Österreich war internationalistisch orientiert, die Klassenfrage war absolut dominant. Das Hindernis für die Überwindung des Kapitalismus in der Ersten Republik war nicht das Ergebnis einer Spaltung der Arbeiterschaft durch eine ungelöste nationale Frage, sondern ein Ergebnis der reformistischen Politik der Führung der Sozialdemokratie.
Wie Lenin immer wieder erklärte, ist die Nationalitätenfrage für die Massen in letzter Instanz immer eine Frage des Brotes, also eine Klassenfrage – und vor allem eine konkrete Frage. Das zeigte sich auch deutlich am Ende des Ersten Weltkrieges in Kärnten und im Burgenland. Während in Kärnten auf Aufruf der Arbeiterparteien die große Mehrheit der slowenischsprachigen Landarbeiterschaft in der Volksabstimmung von 1920 für einen Verbleib bei der Republik Österreich stimmte, waren die deutschsprachigen Großgrundbesitzer mehrheitlich für einen Beitritt zum Königreich Jugoslawien. Und im Falle vom Burgenland argumentierte der Kommunistische Jugendverband 1919 so lange für einen Verbleib des mehrheitlich deutschsprachigen Burgendlands bei Ungarn, wie die sozialistische ungarische Räterepublik Bestand hatte.
Versuche, sich auf die Seite der „einen oder anderen“ Fraktion des Bürgertums zu stellen, führten so auch zu nichts als politischen Sackgassen: Die falsche Politik der Sozialdemokratie fand 1938 ihren deutlichsten Ausdruck im Versuch des rechten Flügels um Karl Renner, im Anschluss an Nazi-Deutschland irgendetwas Progressives zu erkennen, während die KPÖ in den späten 1930er Jahren den gegenteiligen Fehler machte, indem sie den „Befreiungskampf der Österreichischen Nation“ propagierte.
Widerstand gegen die Nazis – aber unter welcher Fahne?
Als Ergebnis der außenpolitischen Interessen der stalinistischen Bürokratie in der Sowjetunion wurde in den Kommunistischen Parteien ab 1934 die neue Volksfrontpolitik durchgesetzt, die die KPen in ein Bündnis mit „progressiven“ bürgerlichen Kräften gegen den Faschismus drängte. In Österreich (wie in anderen Ländern) gab die KPÖ damit jede unabhängige Position der Arbeiterklasse auf und suchte offensiv ein Bündnis mit dem „österreichpatriotischen“ Bürgertum.
Das wird etwa in einer Erklärung des Zentralkomitees der KPÖ zum „Anschluss“ deutlich:
„Volk von Oesterreich! Wehr dich! Leiste Widerstand den fremden Eindringlingen und ihren Agenten! Schliesst euch zusammen! Katholiken und Sozialisten, Arbeiter und Bauern! Schliesst euch zusammen, nun erst recht, zur Front aller Oesterreicher. Alle Unterschiede der Weltanschauung, alle Parteiunterschiede treten zurück vor der heiligen Aufgabe, die heute dem österreichischen Volk gestellt ist! […] Volk von Oesterreich! Wehre dich, mach die Losung zur Tat: Rot-weiss-rot bis in den Tod!“ (Aufruf des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Österreichs zur Annexion, 11./12. März 1938)
Nachdem das gesamte österreichische Bürgertum zu diesem Zeitpunkt stramm in einem der beiden faschistischen Lager stand, bedauerte die KPÖ-Führung in ihrer Suche nach einem Ansatzpunkt ein wenig später sogar, nicht schneller ein Bündnis mit Teilen der Austrofaschisten (!) gegen die Nazis gesucht zu haben:
„Die Partei hat eine zeitlang die Gefahr eines militärischen Ueberfalles und einer Besetzung Oesterreichs durch Hitlerdeutschland ausser Acht gelassen und bis zu den Ereignissen von Berchtesgaden die Möglichkeit eines Zusammenschlusses der Arbeiterbewegung mit Teilen des Schuschnigg-Lagers und der Vaterländischen Front im Kampf gegen diese Gefahr unterschätzt.“ (Resolution des ZK der KPÖ von Anfang August 1938, zitiert nach Fritz Valentin (Karl Czernetz): Gibt es eine österreichische Nation?)
Der mutige Widerstand der kommunistischen und sozialistischen ArbeiterInnen gegen die Nazis ist eine bleibende Inspiration. Aber wir dürfen nicht ausblenden, dass in diesem Kampf auch unterschiedliche politische Perspektiven vertreten wurden. Diese wurden auch in der Illegalität zwischen den verschiedenen Organisationen der Arbeiterbewegung diskutiert, ohne dabei den gemeinsamen Kampf gegen den Faschismus aufzugeben.
Die Aufgabe von MarxistInnen wäre es gewesen, die reaktionäre Rolle beider Fraktionen der österreichischen Bürgerlichen offen darzulegen, und nicht diese zu verwischen, indem man etwas Progressives in die österreichische Nation hineindichtet. Statt wie die KPÖ zu sagen: Gegen den deutschen, für den österreichischen Patriotismus! – hätte es heißen müssen: Gegen deutschen und österreichischen Nationalismus, für den proletarischen Internationalismus!
Die Revolutionären Sozialisten (RS), die nach dem Bürgerkrieg 1934 aus der Sozialdemokratie hervorgingen und im Gegensatz zur Auslandsführung revolutionäre Schlussfolgerungen aus der Niederlage zogen, vertraten im Gegensatz zur KPÖ diese internationalistische Position. Karl Czernetz schrieb in der schon zitierten, in der Illegalität erschienen Broschüre:
„Der ,Anschluss‘ Oesterreichs an das Dritte Reich war eine Annexion. Aber gegenüber dieser Annexion vertreten und fordern wir nicht die Loslösung Oesterreichs, sondern die deutsche sozialistische Revolution, die Schaffung der deutschen sozialistischen Republik.“ (Fritz Valentin (Karl Czernetz): Gibt es eine österreichische Nation?)
Buchtipp: „Kritik des Austromarxismus“, geschrieben im Eindruck der Niederlage in den Februarkämpfen. Erhältlich auf shop.derfunke.at
Nation Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg
Genosse Böck stört sich auch an dem Satz aus unserem Arikel „Dass Österreich eine Nation sei, glaubte damals (in der unmittelbaren Nachkriegszeit) nur eine Minderheit des Staatsvolkes, aber die Mehrheit der PolitikerInnen“. Aber das ist ein Fakt. Während sich alle großen Parteien (mit Ausnahme der VdU/FPÖ) nach dem Zweiten Weltkrieg auf die Basis der österreichischen Nation (und des kapitalistischen Wiederaufbaus) stellten, schaffte erst der Nachkriegsaufschwung die Bedingungen für die mehrheitliche Verankerung eines österreichischen Nationalbewusstseins. So stimmten der Aussage „die Österreicher sind eine Nation“ noch 1964 nur 47% der Befragten zu. 1970 waren es bereits 66%, 1989 schon 79%. (Vgl. Ernst Bruckmüller: Die Entwicklung des Österreichbewusstseins)
Sportliche Erfolge, die sozialen Reformen der Kreisky-Ära und die Stabilität des österreichischen (Mittlerweile-)Nationalstaates zementierten dieses Bewusstsein. In einer Umfrage 1980 gaben so bei der Frage, was „für die Liebe zu Österreich eher wichtige Gründe“ seien, 96% „politischer und sozialer Friede“ an, 87% die „Neutralität“ und immerhin noch 74% die heute unvorstellbare „Zufriedenheit mit der Regierungspolitik“. (Vgl. Bruckmüller a.a.O.)
Österreich ist heute zweifellos eine Nation. Als InternationalistInnen freuen wir uns weder darüber, noch beweinen wir diesen Fakt, sondern wir wollen ihn verstehen. Vor allem aber ziehen wir die nötigen politischen Schlussfolgerungen daraus.
Unterdrückte Nation Österreich?
Lenin betonte im Hinblick auf die komplizierte Nationalitätenfrage im Russischen Reich immer, dass die Angehörigen der Großrussischen Nation, auch wenn sie ArbeiterInnen waren, eine besondere Verantwortung hätten, besonders entschlossen gegen den „großrussischen Chauvinismus“ aufzutreten. Auch Zugeständnisse eines Marxisten mit polnischer Nationalität (einer vom Zarismus unterdrückten Nation) zum polnischen Nationalismus waren für Lenin ein Fehler. Doch jedes noch so kleine Zugeständnis von Marxisten an den großrussischen Patriotismus (auch eines „linken Patriotismus“, den die GenossInnen im Artikel „Unser Heimatbegriff“ verteidigen), überschüttete Lenin mit der schärfsten Kritik.
Warum beschreiben wir das alles? Wir wollen in diesem Zusammenhang selbst eine Frage stellen, die uns das Studium der „Vorneweg 1/21“ leider nicht beantworten konnte: Genosse Böck, ist Österreich aus Sicht der KJÖ eine imperialistische oder eine unterdrückte Nation?
Im ersten Falle, wenn Österreich eine imperialistische Nation ist, können wir uns beim besten Willen nicht erklären, wie die „Nation Österreich“ in der „Vorneweg“ in eine Reihe mit unterdrückten Nationen wie den KurdInnen, den KatalanInnen, den KubanerInnen und anderen gestellt wird. Oder würdet ihr die „positiven Seiten“ des deutschen Nationalstolzes in Deutschland, des amerikanischen Nationalstolzes in den USA oder des großrussischen Nationalstolzes im Jahr 1914 auch verteidigen? Allein diese Frage so deutlich zu stellen, zeigt auf, wie wenig so eine Position mit einer revolutionären oder auch nur einer demokratischen Politik vereinbar ist.
Im zweiten Falle, wenn Österreich in euren Augen tatsächlich eine unterdrückte Nation ist, müssen wir euch ernsthaft fragen: Genossinnen und Genossen, nehmt ihr die Realität wahr? Wie ihr ja selbst beschreibt, ist das österreichische Kapital auf dem Balkan einer der wichtigsten Akteure. Was würdet ihr einem Bosnier sagen, der gegen die Dominanz des österreichischen Kapitals demonstriert, und dafür mit dem Einsatz von österreichischen Soldaten bedroht wird?
Der österreichische Imperialismus ist räuberisch, grausam und brutal. Er war einer der wichtigsten Akteure, der Anfang der 1990er Jahre die Restauration des Kapitalismus in Osteuropa vorantrieb. Um seinen 75 Jahre zuvor verlorenen Einfluss in der Region wiederherzustellen, goss er auch im Jugoslawienkrieg in den 1990ern ständig Öl ins Feuer. In Bulgarien sind 2017 große Proteste ausgebrochen, weil der „gut-österreichische“ Stromanbieter EVN mit frierenden PensionistInnen und ArbeiterInnen Profite macht.
Die Pflicht von MarxistInnen ist es, hier entschlossen einzuhaken: Wir kämpfen gegen den österreichischen Imperialismus, indem wir hierzulande die Kapitalisten bekämpfen. Dazu ist es auch nötig, die Lüge über den angeblichen „österreichischen Nationalcharakter“, alles im Guten und durch Verhandlungen zu lösen, offensiv zu entlarven. Anstatt hier zu versuchen, den proletarischen Internationalismus mit einem „linken Patriotismus“ zu vermählen, müssen wir die Wahrheit sagen: Österreich hat nur eine fortschrittliche Seite, nämlich die klassenkämpferische und revolutionäre Tradition der österreichischen Arbeiterklasse, die unter Jahrzehnten der „gut österreichischen“ Sozialpartnerschaftspolitik begraben ist. Doch genau diese Tradition gilt es wiederzubeleben, wenn wir für eine klassenlose Gesellschaft kämpfen wollen.
Antwort auf unseren Artikel „Heimat, oh Heimat“ von Genosse Böck:
Ich bin schon überrascht, dass es immer noch so eine Große Verwirrung gibt, wenn es darum geht „Staat“ und „Nation“ begrifflich und theoretisch auseinander halten zu können. Wenn diese Missinterpretation nicht wäre, wäre wohl der Großteil eures Artikels hinfällig. Imperialistisch kann eine Nation als solche nämlich wohl kaum sein, da braucht es schon den Staat als – und weil ihr ja so gut zitieren könnt – „ideellen Gesamtkapitalisten“.
Wie man von dem Bekenntnis zur österreichischen Nation zur angeblichen und implizit angedeuteten nationalen Borniertheit kommt frage ich mich schon auch. Ihr habt das Magazin ja gelesen oder? Da werden euch die seitenweise internationalistischen Artikel ja wohl kaum entgangen sein? Und den Artikel zum „Verleugneten Widerstand“ und warum die kommunistische Tradition in Ö. zur Nation in Abwehr zum Deutschnationalismus besteht habt ihr auch gekonnt ausgelassen. Von dort habt ihr es dann aber jedenfalls über Umwege zur Moskauer Deklaration geschafft – etwas, das mit dem Heft, dem Artikel oder sonst etwas hier nichts zu tun hat.
Ebenso sind mir die peinlichen Aussagen irgendwelcher KP-PolitikerInnen egal, die orientieren sich nicht an uns und wir nicht an ihnen, aus einem gemeinsamen historischen Erbe kann man richtiges machen und auch auf einen Blödsinn schließen – auch in der Steiermark. Aber ich meine das werdet ihr ja wissen, immerhin seid ihr in der SPÖ organisiert, mit „manchen“ Aussagen kann man oft nicht mit oder? 🙂
Wenn ihr auf der nächsten Seite dann auch noch weitergelesen hättet, hättet ihr schon verstehen können wo in unserer Konzeption von Nation die Unterdrückten und die Unterdrücker stehen, welche soziale, gesellschaftliche Dimension Klahrs Theorie hat und wieso man mit dem ständigen Schwächen der historischen Tatsache Österreichs als Nation den Rechten und Bürgerlichen bestens in die Hände spielt. Mit Sätzen wie „Dass Österreich eine Nation sei, glaubte damals nur eine Minderheit des Staatsvolkes, aber die Mehrheit der PolitikerInnen“ impliziert ihr regelrecht, dass das Bekenntnis zu einem von Deutschland losgelösten Österreich ein irrwitziger, elitärer Humbug ist.
Das Gegenteil ist der Fall und unsere GenossInnen sind für rot-weiß-rote Fahnen verfolgt und ermordet worden, was zumindest in meinen Augen reicht, heute nicht mit jedem antinationalen Studi-Hype mitzugehen, sondern wissenschaftlich-sozialistische Theorien zu vertreten. Bleibt natürlich jeder Organisation offen, letztlich ist die strategische Frage ob man in Etappen (KJÖ) revolutioniert oder gleich weltweit (voll cool! gleich aufs Ganze, das muss funktionieren!) ja auch eine solche wo sich die Ausrichtungen unterscheiden.
Am Lustigsten finde ich ja, dass ihr grade den alten Che hernehmt um unsere Aussagen zu „entkräften“, lasst mich kurz einen seiner berühmten Sätze zitieren: „¡Patria o Muerte!“ – also zu Deutsch: Vaterland oder Tod!
Seis drum, letztlich bleibt meine brennendste Frage ja eigentlich nur, warum trotzkistische Organisationen ihre Kanäle und Medien nutzen, um andere linke Organisationen zu kritisieren – nicht weil es mich kränkt, sondern weil ich nicht verstehe an wen ihr euch damit richtet? Ich dachte ja, dass die Zeit des proletarischen Diskurses der Zeitungen mit den 30er Jahren in der SU (und sonst auch?!) abgeflaut ist, aber gut auch hier liegen unsere Einschätzungen wohl weit auseinander :).
(Funke Nr. 193/22.4.2021)