Einige linke Parteien beziehen sich positiv auf den Nationalstaat. In Österreich argumentieren vor allem die KJÖ und die KPÖ Steiermark dafür, dass Linke keine vaterlandlosen Gesellen sein dürfen. Eine Replik von Mario Wassilikos.
„Die Arbeiter haben kein Vaterland. Man kann ihnen nicht nehmen, was sie nicht haben.“ (MEW, Bd. 4, S. 479.)
Diese deutliche Stellungnahme des Kommunistischen Manifestes dient InternationalistInnen schon seit mehr als 170 Jahren als Leitmotiv. Nicht so der KJÖ, die in der aktuellen Ausgabe ihres Magazins „Vorneweg“ mit dem Schwerpunkt „Heimat“ einen „Patriotismus von links“ propagiert, der nach dem Prinzip „Erst national, dann international“ (wörtlich!) agiert. Staunend lesen wir:
„Im Marxismus spielt die eigene Heimat in Form der Nation eine zentrale Rolle für die politische Arbeit. […] Unter ‚Heimat‘ versteht der Marxismus also insbesondere die Menschen eines Landes und setzt sich zum Anspruch, gemeinsam mit all diesen Menschen die Gesellschaft von Unterdrückung und Ausbeutung zu befreien und demokratisch und sozial-gerecht neuzugestalten.“ (Vorneweg Nr. 1/21, S. 6)
Also kurz die zentrale Idee: Alle Menschen zusammen bilden eine Einheit namens Heimat und kämpfen alle gemeinsam im Nationalstaat für eine sozial gerechtete und demokratische Ausgestaltung desselben. Die Kurzantwort lautet: Nein, GenossInnen, ihr habt den Marxismus gar nicht verstanden!
Von Nation und Imperialismus
Eine Nation hat eine geschichtliche Entwicklung. Sie entsteht und kann wieder vergehen. In diesem Zusammenhang stellte Stalin, auf dessen spätere Politik (wir werden noch darauf eingehen) die KJÖ-Argumentation zurückgeht, in seiner von Lenin inspirierten und von Bucharin redigierten Schrift 1913 noch richtigerweise fest:
„Die Nation ist nicht einfach eine historische Kategorie, sondern eine historische Kategorie einer bestimmten Epoche, der Epoche des aufsteigenden Kapitalismus. Der Prozess der Liquidierung des Feudalismus und der Entwicklung des Kapitalismus ist gleichzeitig der Prozess des Zusammenschlusses der Menschen zu Nationen. So geschah es z. B. in Westeuropa. Die Engländer, Franzosen, Deutschen, Italiener und andere formierten sich zu Nationen bei dem siegreichen Vormarsch des über die feudale Zersplitterung triumphierenden Kapitalismus. Die Bildung von Nationen bedeutete dort aber gleichzeitig ihre Verwandlung in selbständige Nationalstaaten.“ (Stalin-Werke, Bd. 2, S. 167.)
Nationen entstanden also erstmals im Zuge der bürgerlichen Revolutionen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, als das aufstrebende Bürgertum an die Macht kam. Zur Durchsetzung seiner wirtschaftlichen Interessen benötigte es ein Gemeinwesen, das ihm die dafür notwendigen Bedingungen bereitstellte. Die Nation erwies sich dabei als praktische Ideologie, um das gemeinsame Interesse der Volksmassen gegen den Adel zu begründen sowie einen einheitlichen Markt mit Steuerhoheit, Geld- und Maßeinheitssystem zu schaffen. Doch mit dem Eintritt des Kapitalismus in seine imperialistische Phase ist die Ausbeutung und Unterdrückung der meisten Nationen durch eine Handvoll imperialistischer Länder zur Realität geworden.
Spätestens seit Lenins Imperialismus-Analyse müssen RevolutionärInnen so zwischen unterdrückenden und unterdrückten Nationen unterscheiden. Nicht so jedoch offenbar die KJÖ. Mit einem Taschenspielertrick stellt die Redaktion des „Vorneweg“ den Österreichpatriotismus auf dieselbe Stufe wie den positiven Bezug zum eigenen Land, den Befreiungsbewegungen in Lateinamerika, Irland, Kurdistan und Vietnam haben.
Posterbeilage aus dem „Vorneweg“: Die KJÖ stellt sich Che Guevara, der für die internationale Revolution sein Leben gab, mit Gamsbart und Lederhose vor.
Kulturell groteske Züge nimmt diese Betrachtung von Nation und Nationalstaat als höheres Schicksal aller Völker dieser Erde in der Frage der österreichischen Nation an. Das österreichische Deutsch – eine Variante der deutschen Standardsprache – wird als eigene Sprache definiert und den Austropop – ein Begriff für aus Österreich stammende Popmusik verschiedener Genres, die ein Produkt des internationalen Kulturaustauschs und der global agierenden Musikindustrie sind – präsentiert man als Ausdruck der österreichischen „Geistesart“.
Endgültig verwirrend wird es dann mit der Betonung, dass Ali, Svetlana und Franz ein Teil der österreichischen Nation sind, wenn sie hier ihre Vergangenheit, ihre Gegenwart und ihre Zukunft haben. Was gilt aber für den Fall, dass Alis Muttersprache Türkisch, Svetlanas Serbisch ist, er seine Kindheit in der Türkei, sie ihre in Serbien verbracht hat? Sind sie trotzdem ein Teil der österreichischen Nation oder müssen beide dafür in Österreich geboren und in Integrationsklassen ausgebildet worden sein? Zurück bleibt hier nur Ratlosigkeit – und das sicher nicht nur beim im Vorneweg interviewten Genossen, der aus politischen Gründen aus der Türkei fliehen musste, für den Heimat auf Basis seiner Erfahrungen zu Recht kein nationaler, sondern ein rein emotionaler Begriff ist.
Alter Wein in neuen Schläuchen
Diese linkspatriotischen Gehirnverrenkungen der KJÖ haben eine historische Wurzel – die von der stalinistischen Komintern am Vorabend des Zweiten Weltkriegs entwickelte Volksfronttaktik. In Österreich lieferte KPÖ-Widerstandskämpfer Alfred Klahr die theoretische Grundlage dafür in der 1937 veröffentlichten Untersuchung „Zur nationalen Frage in Österreich“. In dieser verbiegt und selektiert er die geschichtlichen Fakten so, dass er erstmals die Existenz einer österreichischen Nation „beweisen“ kann. Damit verbunden war das politische Ziel, eine Front gegen den Nationalsozialismus auch unter Einschluss von Bürgerlichen und Austrofaschisten zu schmieden – obwohl die Arbeiterbewegung schon seit 1933/34 verboten war bzw. im Untergrund agieren musste.
Dieser Österreichpatriotismus war deren ideologische Grundlage im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Mit Kriegsende legitimierte die KPÖ damit ihre staatstragende Rolle bei der Gründung der Zweiten Republik. Sie propagierte, dass alle anti-nationalsozialistischen Kräfte – auch die bürgerlichen – Österreich gemeinsam wiederaufbauen müssten und der Übergang zum Sozialismus erst in einer nicht näher definierten Zukunft auf der Tagesordnung stehe. In der Praxis bedeutete dies, dass sie dem Klassenkampf in der Nachkriegszeit (Betriebsbesetzungen, Produktion unter Arbeiterkontrolle und -management, Hungerdemonstrationen, Fraktionskampf zwischen Linken und Rechten in der SPÖ, Oktoberstreik 1950) keine revolutionäre Perspektive bot. Die KPÖ-Führung verschrieb sich in dieser Phase ganz dem Wiederaufbau einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Diese Orientierung war ein wichtiger Faktor, der den Aufbau eines revolutionären Ausdrucks der klassenkämpferischen Arbeiterbewegung im Nachkriegsösterreich behinderte.
Dass Österreich eine Nation sei, glaubte damals nur eine Minderheit des Staatsvolkes, aber die Mehrheit der PolitikerInnen. Das zentrale Motiv dabei war die Abgrenzung von Deutschland. Denn Österreich ist in dieser Lesart nicht Täterin, sondern „erstes Opfer“ des Nationalsozialismus. Eine sehr bequeme Geschichtslüge, die vom Stalinismus miterfunden wurde! Der Historiker Ernst Bruckmüller analysiert, dass erst ab den 1960er Jahren von einem breiten österreichischen Nationalbewusstsein gesprochen werden kann. Reformen, die Außenpolitik von Bruno Kreisky und nicht zuletzt sportliche Erfolge (Toni Sailer, Cordoba …) verankern dann das Bewusstsein, dass Österreich eine Nation sei, tief in der Bevölkerung.
Nationalismus der KPÖ Steiermark
Die traditionell patriotische Ausrichtung der KPÖ äußert sich in den Nationalfeiertagsfesten der KPÖ Steiermark und der KJÖ. Österreichfahnen und Parteiführung im Trachtenoutfit dürfen dabei nicht fehlen. Die Folklore wird rund um die angeblich progressive „Neutralität“ des kapitalistischen Staates Österreich herum aufgebaut.
Sie hat aber einen reaktionären Kern. So bezeichnete der steirische KPÖ-Landtagsabgeordnete Werner Murgg im Jahr 2015 angesichts der Flüchtlingskrise Länder ohne Grenzsicherung als „Eunuchenstaaten“ und den Nationalstaat als „die erste Schutzgemeinschaft für unterprivilegierte Schichten“. Dann lobte er in seiner Rede zum 1. Mai 2020 den steirischen ÖVP-Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer für seine EU-Kritik.
Facebook-Post der KJÖ zum österreichischen Nationalfeiertag 2020.
Diese Ideologie des nationalen Schulterschlusses dient in der Realität allein der Intensivierung der Ausbeutung der Arbeiterklasse zugunsten des Kapitals und der Umverteilung von unten nach oben. Zudem ist Österreich an der imperialistischen Ausplünderung der Welt eifrig beteiligt – somit eine unterdrückende und keine unterdrückte Nation. Konkret ist österreichisches Kapital vor allem am Balkan sowie in Osteuropa stark investiert.
In diesem Zusammenhang beschreibt die KJÖ die offensichtliche Rolle des Austro-Imperialismus auch richtig, ohne daraus eine politische Schlussfolgerung zu ziehen:
„Wer mit dem Auto durch das ehemalige Jugoslawien fährt, wird sich kaum dem Anblick österreichischer Banken wie der Raiffeisen entziehen können. Die österreichischen KapitalistInnen haben eigene Interessen und setzen diese auch brutal durch.“ (Vorneweg Nr. 1/21, S. 18.)
Aber hier müsste man konkret werden: Das Instrument zur Wahrung dieser Interessen ist der österreichische Nationalstaat mit seinen Institutionen. Die zentrale Rolle nimmt dabei die „Außenwirtschaft Austria“ ein. Sie ist die Internationalisierungs- und Innovationsagentur im Dienst des österreichischen Kapitals – organisiert von der WKO, beaufsichtigt vom Außenministerium.
Doch der Austro-Imperialismus ist nicht nur wirtschaftlich, sondern auch militärisch aktiv, besonders in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo. Die österreichische Nation ist untrennbar verbunden mit dem österreichischen bürgerlichen Nationalstaat, und dieser spielt, wie alle imperialistischen Staaten, eine vollkommen reaktionäre Rolle. Propaganda für den Österreichpatriotismus ist also eine Haltung, die KommunistInnen absolut unwürdig ist!
Revolutionärer Internationalismus statt „Patriotismus von links“
Um den Kampf der Arbeiterklasse gegen ihre Ausbeutung und ihre Unterdrückung voranzutreiben, müssen MarxistInnen nicht nur den Kapitalismus, sondern auch seinen institutionellen Garanten – den Nationalstaat – angreifen. Die theoretische Fundierung eines linken Patriotismus wirkt auf dieses Streben nach Befreiung nur verwirrend, hemmend und lähmend ein. Für die Arbeiterklasse und die Jugend kann nur revolutionärer Internationalismus ein Weg nach vorne bieten, insbesondere in einer imperialistischen Nation wie der österreichischen.
Auszug aus:
Lenin: Ursprünglicher Entwurf der Thesen zur nationalen und zur kolonialen Frage
(LW, Bd. 31, S. 132 – 139)
Bild von Lenin for dem Smolny-Institut, von Isaak Brodsky (public domain).
„Die kommunistische Partei, die dem Kampf des Proletariats um die Abschüttelung des Jochs der Bourgeoisie bewußt Ausdruck verleiht, darf entsprechend ihrer grundlegenden Aufgabe, die bürgerliche Demokratie zu bekämpfen und die Verlogenheit und Heuchelei dieser Demokratie zu entlarven, auch in der nationalen Frage keine abstrakten und keine formalen Prinzipien in den Vordergrund rücken, sondern muß ausgehen: erstens von einer genauen Einschätzung der konkreten historischen und vor allem der ökonomischen Situation; zweitens von einer klaren Herauslösung der Interessen der unterdrückten Klassen, der Werktätigen, der Ausgebeuteten, aus dem allgemeinen Begriff der Volksinteressen schlechthin, der die Interessen der herrschenden Klasse bedeutet; drittens von einer ebenso klaren Unterscheidung zwischen unterdrückten, abhängigen, nicht gleichberechtigten und unterdrückenden, ausbeutenden, vollberechtigten Nationen, im Gegensatz zu dem bürgerlich-demokratischen Lug und Trug, vermittels dessen man die der Epoche des Finanzkapitals und des Imperialismus eigene koloniale und finanzielle Versklavung der ungeheuren Mehrheit der Bevölkerung des Erdballs durch eine verschwindende Minderheit der reichsten fortgeschrittenen kapitalistischen Länder zu vertuschen sucht.“
(Funke Nr. 192/17.3.2021)
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