Vor kurzem erschien aus der Feder von Joseph Ratzinger, alias Papst Benedikt XVI., das Buch „Jesus von Nazareth“ und wurde sofort zum Bestseller. Er wolle damit zeigen, dass Jesus nicht ein Sozialromantiker oder gar ein antirömischer Rebell sondern der Erlöser war. In dem Buch schreibt er auch: „Bibelauslegung kann in der Tat zum Instrument des Antichrist werden.“ Dazu passend veröffentlichen wir einen Auszug aus „Ursprung des Christentums“ von Karl Kautsky, der einst den Beinamen „Papst der internationalen Sozialdemokratie“ erhielt.
„Im besten Falle erhalten wir als historischen Kern der urchristlichen Berichte über Jesus nicht mehr, als was uns Tacitus berichtet: dass zur Zeit des Tiberius ein Prophet hingerichtet wurde, von dem die Sekte der Christen ihren Ursprung herleitete. Was dieser Prophet gelehrt und gewirkt, darüber ist bisher nicht das mindeste mit Bestimmtheit zu erforschen. Auf keinen Fall kann er das Aufsehen erregt haben, von dem die urchristlichen Darstellungen erzählen, sonst würde sicher Josephus darüber berichten, der vieles sehr unbedeutende erzählt. Die Agitation und Hinrichtung Jesu erregte unter seinen Zeitgenossen jedenfalls nicht die mindeste Aufmerksamkeit. War aber Jesus wirklich ein Agitator gewesen, den eine Sekte als ihren Vorkämpfer und Wegweiser verehrte, so musste die Bedeutung seiner Persönlichkeit wachsen, wenn die Sekte wuchs. Nun begann sich ein Legendenkranz um diese Persönlichkeit zu bilden, in den die frommen Gemüter alles hineinverwebten, was sie wünschten, dass ihr Vorbild gesagt und getan habe. Je vorbildlicher aber dadurch Jesus für die ganze Sekte wurde, desto mehr suchte jede der zahlreichen Richtungen, aus denen sie von Anfang an bestand, dieser Persönlichkeit gerade jene Ideen beizulegen, die ihr besonders am Herzen lagen, um sich dann auf diese Autorität berufen zu können. So wurde das Bild Jesu, wie es in den anfangs bloß mündlich kolportierten, später auch schriftlich fixierten Legenden gemalt wurde, immer mehr das einer übermenschlichen Persönlichkeit, der Inbegriff aller Ideale, die die neue Sekte entwickelte, so wurde es aber auch ein immer widerspruchsvolleres Bild, dessen einzelne Züge zueinander nicht passten.
Als dann die Sekte zu einer festen Organisation kam, eine umfassende Kirche wurde, in der eine bestimmte Tendenz die Herrschaft eroberte, da war es eine ihrer Aufgaben, einen festen Kanon zu entwerfen, ein Verzeichnis aller der urchristlichen Schriften, die sie als echt anerkannte. Es waren natürlich nur solche, die im Sinne der herrschenden Tendenz sprachen. Alle jene Evangelien und sonstigen Schriften, die ein Bild Jesu entwarfen, das mit dieser Tendenz der Kirche nicht übereinstimmte, wurden als „ketzerisch“, als gefälscht, oder doch als „apokryph“, als nicht ganz zuverlässig verworfen und nicht weiter propagiert, ja sogar möglichst unterdrückt und ihre Abschriften vernichtet, so dass nur wenige uns erhalten sind. Die in den Kanon aufgenommenen Schriften wieder wurden „redigiert“, um möglichste Einheitlichkeit in sie hineinzubringen, glücklicherweise aber so ungeschickt, dass Spuren früherer, abweichender Darstellungen immer noch hie und da durchblicken und den Gang der Entwicklung erraten lassen.
Ihren Zweck, auf diese Art die Einheitlichkeit der Meinungen in der Kirche sicherzustellen, erreichte diese aber nicht und konnte sie nicht erreichen. Die Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse erzeugte immer wieder Verschiedenartigkeiten der Anschauungen und Bestrebungen in der Kirche. Und dank der Widersprüche, die trotz aller Redaktionen und Ausmerzungen in dem von der Kirche anerkannten Jesusbild erhalten waren, fanden diese Verschiedenheiten immer wieder in jenem Bilde Punkte, an die sie anknüpfen konnten. So wurde der Kampf der gesellschaftlichen Gegensätze im Rahmen der christlichen Kirche anscheinend ein bloßer Kampf um die Auslegung der Worte Jesu, und oberflächliche Geschichtsschreiber glauben denn auch, alle die großen, oft so blutigen Kämpfe in der Christenheit, die unter religiöser Flagge ausgefochten wurden, seien nichts als Kämpfe um bloße Worte gewesen, ein trauriges Zeichen für die Dummheit des Menschengeschlechts. Aber wo man eine gesellschaftliche Massenerscheinung auf bloße Dummheit der beteiligten Menschen zurückführt, da bezeugt diese anscheinende Dummheit bloß die Verständnislosigkeit des Beobachters und Kritikers, der sich in eine ihm fremde Denkart nicht hineinzufinden und zu den ihr zugrunde liegenden materiellen Bedingungen und Triebkräften nicht vorzudringen vermag. Es waren in der Regel reale Interessen, die miteinander rangen, wenn die verschiedenen christlichen Sekten über die verschiedene Bedeutung der Worte Christi stritten.
(…)
Wohl ist der historische Wert der Evangelien und der Apostelgeschichte nicht höher zu veranschlagen als etwa der der homerischen Gedichte oder des Nibelungenliedes. Sie mögen historische Persönlichkeiten behandeln, aber deren Wirken wird mit solcher dichterischen Freiheit erzählt, dass es unmöglich ist, auch nur das mindeste daraus für die geschichtliche Darstellung solcher Persönlichkeiten zu entnehmen, ganz abgesehen davon, dass sie mit Fabelwesen so gemischt sind, dass man, allein auf diese Gedichte gestützt, nie sagen kann, welche ihrer Persönlichkeiten historische, welche erfundene sind. Wenn wir über Attila nicht mehr wüssten, als was im Nibelungenlied über ihn steht, müssten wir ebenso wie von Jesus sagen, wir wissen nicht einmal mit Bestimmtheit, ob er gelebt hat, ob er nicht ebenso eine mythische Persönlichkeit ist wie Siegfried.
Aber solche dichterische Darstellungen sind von unschätzbarem Werte zur Erkenntnis der gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen sie entstanden. Diese geben sie getreu wieder, mögen ihre Verfasser einzelne Tatsachen und Persönlichkeiten noch so frei erfinden. Wie weit die Erzählung vom Trojanischen Krieg und dessen Helden auf einer historischen Grundlage beruht, das ist, vielleicht für immer, in Dunkel gehüllt. Aber welches die gesellschaftlichen Verhältnisse des heroischen Zeitalters waren, darüber haben wir in der Ilias und Odyssee zwei historische Quellen ersten Ranges.
Für die Erkenntnis ihrer Zeit sind dichterische Schöpfungen oft weit wichtiger als die getreuesten geschichtlichen Darstellungen. Denn diese teilen bloß das Persönliche, Auffallende, Ungewöhnliche mit, das historisch am wenigsten nachhaltige Wirkung hat. Jene dagegen gewähren uns einen Einblick in das alltägliche Leben und Treiben der Massen, das ununterbrochen und dauernd wirkt und die Gesellschaft am dauerndsten beeinflusst, was aber der Historiker nicht verzeichnet, weil es ihm allbekannt und selbstverständlich erscheint. (…)
So können wir auch aus den Evangelien, der Apostelgeschichte und den Apostelbriefen freilich nichts Bestimmtes über Jesu Leben und Lehre erfahren, wohl aber sehr Wichtiges über den gesellschaftlichen Charakter, die Ideale und Bestrebungen der urchristlichen Gemeinden. Indem die Bibelkritik die verschiedenen Schichten bloßlegt, die in den genannten Schriften übereinander gelagert sind, bietet sie uns die Möglichkeit, den Entwicklungsgang dieser Gemeinden wenigstens bis zu einem gewissen Grade zu verfolgen, indessen uns die „heidnischen“ und jüdischen Quellen einen Einblick in die gesellschaftlichen Triebkräfte ermöglichen, die gleichzeitig auf das Urchristentum wirken. Damit ist die Möglichkeit gegeben, es als Produkt seiner Zeit zu erkennen und zu begreifen, und das ist die Grundlage jeder historischen Erkenntnis. Wohl können auch einzelne Persönlichkeiten die Gesellschaft beeinflussen, und für das Gesamtbild ihrer Zeit ist die Zeichnung hervorragender Individuen nicht zu entbehren. Aber an historischen Zeiträumen gemessen ist deren Einfluss nur ein vorübergehender, bildet er nur den äußerlichen Zierat, der am ehesten an einem Bau in die Augen fällt, uns aber über seine Grundmauern nichts sagt. Diese sind es, die den Charakter des Baues und seine Dauerhaftigkeit bestimmen. Gelingt es, sie bloßzulegen, dann ist für das Begreifen des Bauwerkes die wichtigste Arbeit getan.
Das Rebellentum Jesu
Konnten sich die Christen in späterer Zeit nicht entschließen, auf die königliche Abstammung ihres Messias, trotz seiner göttlichen Herkunft, gänzlich Verzicht zu leisten, so waren sie dafür umso eifriger bemüht, ein anderes Merkmal seiner jüdischen Geburt auszumerzen: seinen rebellischen Sinn.
Im Christentum vom zweiten Jahrhundert an überwog immer mehr der leidende Gehorsam. Ganz anders im Judentum des vorhergehenden Jahrhunderts. Wir haben gesehen, wie rebellisch die von der messianischen Erwartung erfüllten Schichten des Judentums damals waren, namentlich die Proletarier Jerusalems und die Banden Galiläas, dieselben Elemente, denen das Christentum entsprang. Da muss man von vornherein annehmen, dass es in seinen Anfängen einen gewalttätigen Charakter aufwies. Diese Annahme wird zur Gewissheit, wenn wir sehen, dass in den Evangelien noch Spuren davon enthalten sind, trotzdem aus ihnen ihre späteren Bearbeiter aufs ängstliche alles zu beseitigen suchten, was Anstoß bei den Machthabern hätte erregen können.
So sanft und ergeben Jesus sonst erscheint, gelegentlich macht er eine Äußerung ganz anderer Art, die annehmen lässt, dass er, mochte er wirklich existiert haben oder bloß eine erträumte Idealgestalt sein, in der ursprünglichen Überlieferung als Rebell lebte, der wegen einer verunglückten Empörung gekreuzigt wurde.“
aus: Karl Kautsky, Ursprung des Christentums