Während auf der ganzen Welt Menschen zu Händewaschen und Abstand halten aufgefordert sind, harren zehntausende Menschen in Flüchtlingscamps unter katastrophalen hygienischen Bedingungen und auf engstem Raum ihrem Schicksal – bedroht nicht (nur) durch das Corona-Virus, sondern durch die mörderische EU-Flüchtlingspolitik. Von Nora Kühler.
‚Moria‘ ist inzwischen zu einem geflügelten Wort geworden. 20.000 Menschen überleben dort in einer Anlage, die für 3000 ausgelegt ist: auf drei Quadratmetern schlafen durchschnittlich fünf Personen, eine Toilette muss für 167 Personen reichen, eine Dusche für 250, 1300 Menschen teilen sich einen Trinkwasserhahn. Es gibt kaum Seife, kein Desinfektionsmittel und unzureichende medizinische Versorgung. Wie soll unter diesen Umständen eine Verbreitung des Virus verhindert werden? Wie durch ein Wunder ist die Krankheit noch nicht im Lager angekommen, auf der Insel Lesbos aber sehr wohl. Die Uhr tickt also und das wissen die Menschen in Moria genau.
Das Lager müsste sofort evakuiert werden, doch das verweigert die griechische Regierung kategorisch, „es gebe schließlich noch keine Infektion im Camp“. Doch wie lange will sie warten?
Gestern wurde die erste Bewohnerin eines Camps im Norden Athens positiv getestet. Dort leben 3000 Personen in ähnlichen Umständen wie jene auf den griechischen Inseln. Es ist noch unklar wo sie sich infiziert hat oder wen sie vielleicht bereits angesteckt hat, doch es verstärkt die Unausweichlichkeit: Corona wird die Lager erreichen.
Abriegelung statt Evakuierung
Auf Moria setzt die Regierung stattdessen auf Abriegelung. Die CampbewohnerInnen dürfen das Lager (mit wenigen Ausnahmen) nicht mehr verlassen. Die Regierung fordert sie indes auf, alle notwendigen Hygienemaßnahmen zu beachten, um eine Ansteckung zu verhindern. Gleichzeitig zog sie, wie viele internationale Organisationen, ihr Personal (zum Beispiel Sicherheitskräfte) aus Angst vor Erkrankung aus dem Lager ab. Es wurde ersatzweise ein verstärkter Zaun errichtet, um die Menschen im Lager vor rechten Übergriffen zu schützen, wie sie sich in diesem Monat häuften.
Der Zynismus, der aus dieser Politik trieft, ist ekelerregend. Die Menschen werden der drohenden Infizierung einfach schutzlos ausgeliefert, die Politik kehrt ihnen den Rücken. Die CampbewohnerInnen haben inzwischen begonnen sich zu organisieren. Eine Gruppe von mehr als 50 Personen informiert mehrsprachig über nötige Verhaltensweisen, malt Schilder mit Tipps zum Händewaschen und näht einfache Atemschutzmasken aus vorhandenen Materialien, um nicht völlig hilflos dazustehen. Doch eines steht fest, nicht nur Kinder und Alte: alle 20.000 Menschen in Moria gehören inzwischen zur Risikogruppe. Ausgezehrt durch Monate (oder gar Jahre) von Schmutz und Hunger in diesem oder einem anderen Lager leidet der Großteil an Infektionen, Masern, Hirnhautentzündungen, Krätze, Bronchitis. Die Liste wäre fortzuführen.
Und gleichzeitig steht Moria nur stellvertretend für die Situation in unzähligen Lagern an den EU-Außengrenzen und stellvertretend für die gesamte menschenverachtende EU-Flüchtlingspolitik. Schätzungsweise 42.000 Menschen sitzen zurzeit in Lagern auf den griechischen Inseln fest, in der Nähe von Bihac in Bosnien-Herzegowina verharren Zehntausende in ebenso unzureichenden Zeltlagern, ohne Versorgung oder Schutz vor dem Corona-Virus, und noch immer warten Menschen im Grenzgebiet zwischen Griechenland und der Türkei, hingelockt durch Erdogans perfides Machtspiel.
EU-Türkei-Füchtlingsdeal 2.0: Pushbacks statt Asylrecht
Wir erinnern uns, nachdem Erdogan den EU-Flüchtlingsdeal hat platzen und die Grenzen zur EU öffnen lassen, drängten zehntausende Geflüchtete an die türkisch-griechische Grenze, in der Hoffnung, endlich ein sicheres Leben beginnen zu können. Tatsächlich waren sie nichts anderes als ein Lebendpfand um eine Intervention in Syrien zu erpressen, ein Spielball (geo)politischen Kalküls und imperialistischer Interessen. Griechenland ging daraufhin, unter enthusiastischer Unterstützung der EU, mit Tränengas, Blendgranaten und scharfer Munition
gegen all jene vor, die versuchten, die Grenzen zu überqueren. Ziel ist es laut Aussage des griechischen Sicherheitsrates, den „Grad der Abschreckung an (den) Grenzen auf ein Maximum zu erhöhen“. Dazu gehört auch die Aussetzung des Asylrechts.
Seit Anfang März können keine Asylanträge mehr gestellt werden, die entsprechenden Behörden bleiben geschlossen, stattdessen drohen gewaltsame Pushbacks. Die EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen dankte Griechenland inständig dafür, der „europäische Schild“ in diesen Zeiten zu sein. Im selben Atemzug wird dann auch gleich der EU-Türkei-Deal mit der Zusage zusätzlicher „Hilfen“ für Erdogan aufgefrischt, Griechenland mit 700 Millionen Euro für seine Unterstützung im „Migrationsmanagement“ vergütet und die Grenzschutzagentur Frontex finanziell und personell gestärkt.
Hier zeigt sich das wahre Gesicht der EU, die sich gerne auf ihre geteilten ‚Werte‘, ‚Rechte’ und ‚Verantwortung‘ einschwört. Im Angesicht einer scheinbaren Bedrohung der eigenen Grenzen können grundlegende Rechte einfach ausgehebelt und Menschen ihrem lebensbedrohlichen Schicksal ausgeliefert, wenn nicht gleich mit dem Tod bedroht werden. Doch was zu Beginn des Monats noch wie ein krasser Einzelfall wirkte, ist inzwischen zur gängigen Praxis geworden.
Während hunderte internationale NGOs die Evakuierung der griechischen Lager forderten und sich bereits mehr als 140 Kommunen und Länder bereiterklärten Menschen aufzunehmen, setzte Österreich, ebenso wie Deutschland, die humanitäre Flüchtlingsaufnahme aus und verhängte ein Einreiseverbot für AsylwerberInnen (mit Ausnahme diese könnten einen negativen Corona-Test an der Grenze vorweisen). Als Grund wird die Eindämmung der Pandemie genannt.
Evakuierung: Nicht die Möglichkeiten, sondern der Wille fehlt
Die EU „versprach“, dennoch 1600 (vor allem kranke) Kinder aufzunehmen und auf die ‚willigen‘ Mitgliedsstaaten aufzuteilen. Doch diesem Versprechen folgt seit Wochen keine Handlung, die „Logistik in Zeiten von Corona sei schwierig“.
Eine solche Rechtfertigung ist blanker Hohn, sehen wir doch gleichzeitig wie die NATO unbeirrt von Corona ihr ‚Defender Europe‘ Manöver abschließt, bei dem sie 20.000 SoldatInnen inklusive schwerem militärischem Gerät über den Atlantik verlegt und binnen zwei Wochen über 200.000 (!) gestrandete UrlauberInnen nach Österreich und Deutschland heimgeholt wurden. Es wird mehr als deutlich, es hakt nicht an den Möglichkeiten, sondern am Willen zur Aufnahme.
Außerdem muss festgehalten werden: 1600 Kinder ist nicht genug! Allein auf den griechischen Inseln leben ca. 5000 Kinder und überhaupt, was soll mit den restlichen zehntausenden Menschen passieren, die ohne Schutz und Versorgung in den Lagern eingesperrt sind?
Sie alle müssen umgehend evakuiert und auf das europäische Festland gebracht werden. Weltweit stehen Fluggesellschaften still, in zahlreichen europäischen Häfen liegen Kreuzfahrtschiffe fest, die aufgrund ihrer Größe und medizinischen Kapazitäten laut SeaWatch beste Voraussetzung für Evakuierungen bieten. Gleichzeitig ist in ganz Europa der Tourismus ausgesetzt, Hotels und Ferienwohnungen stehen leer. Diese müssen sofort für Hilfesuchende geöffnet werden. In England werden inzwischen Obdachlose in Hotels einquartiert und auch auf dem griechischen Festland sind bereits 7000 Menschen auf diese Weise untergebracht. Weitere müssen folgen.
Die Internationale Organisation für Migration (IOM) baut derzeit acht Lager auf dem Festland, die nach eigenen Angaben innerhalb der nächsten Woche fertig gestellt werden könnten und wiederum Platz für 10.000 Menschen böten. Doch es kann keine Lösung sein, Menschen von einem beengten Behelfslager ins nächste zu bringen. Die Menschen haben ein Recht auf eine feste, saubere und dezentrale Unterbringung, die ihnen Schutz und Rückzug erlaubt, genug Kapazitäten und Transportwege gibt es allemal.
Gleiche EU-Flüchtlingspolitik, neues Corona-Gewand
Die Corona-Pandemie ist also nicht der tatsächliche Grund für die Verweigerung der Aufnahme von Geflüchteten. Sie wird jedoch als willkommene Begründung herangezogen, um eine dringend nötige Hilfe aufzuschieben Aber das Motto „wir haben schon nicht genug für unsere Leute, und auf die müssen wir zuerst schauen“ wird nicht erst seit dem Ausbruch der Pandemie bedient. Die katastrophalen Engpässe in den europäischen Gesundheitssystemen dienen vielmehr als fruchtbarer Boden die menschenverachtende und spalterische EU-Flüchtlingspolitik auch in Corona-Krisen-Zeiten weiterzuführen und auszuschmücken. In den kommenden Monaten wird diese Anti-Flüchtlings-Rhetorik durch die unzulänglichen Maßnahmen gegen die Pandemie noch gefördert werden und den Nährboden für rechtspopulistische Politik legen.
Aber es ist kein Naturgesetz, dass man nicht „allen helfen könnte“. Hier werden Menschen(leben) gegeneinander ausgespielt. Doch es ist der profitgetriebene Kapitalismus, der schlicht unfähig ist, die gesellschaftlichen Ressourcen gezielt einzusetzen, um die Produktion auf notwendige Dinge, speziell Corona-Tests, Schutzmittel, Beatmungsgeräte und Krankenbetten zu orientieren.
Der Sommer steht bevor, und ob Corona oder nicht, wird dies bedeuten, dass mehr Menschen versuchen werden über das Mittelmeer nach Europa zu kommen. Krieg und Verfolgung kennen keine Ausgangsbeschränkungen. Die EU tut deshalb schon jetzt alles, um sich auf diese Situation vorzubereiten und nimmt dafür tausende Menschenleben in Kauf: ob am Grenzzaun, im Lager oder im Mittelmeer.
Dagegen gilt es zu kämpfen:
- Gegen jede imperialistische Intervention – sie schüren Kriege und zwingen Menschen zur Flucht
- Für die Lukrierung von leerstehenden Häusern und Hotels, um menschenwürdigen Wohnraum und gegebenenfalls Krankenbetten für ALLE Bedürftigen, einschließlich Flüchtlinge, zu schaffen
- Corona macht keinen Halt vor Krieg: Bleibe- und Asylrecht müssen auch in der Gesundheitskrise bestehen bleiben. Dafür müssen medizinische Versorgung und Tests für Geflüchtete bereitgestellt werden.