32,2% (-7,8%) und 202 Abgeordnete (-60) – das was das Ergebnis der Labour Party in den Britischen Unterhauswahlen vom 12. Dezember 2019. Viele Kommentatoren schrieben über „das schlechteste Ergebnis der Arbeiterpartei seit den 1930er Jahren“. Gleichzeitig: Jubel bei den Rechten, das Pfund Sterling legte (wenn auch nur kurzzeitig) zu. Wie es wirklich aussieht, beschreibt Willy Hämmerle.
Dass dieses Wahlergebnis eine schmerzliche Niederlage für die Arbeiterbewegung bedeutet, kann man natürlich nicht leugnen. „Johnson sichert sich einen erdrückenden Wahlerfolg”, schrieb die Financial Times. Aber den konservativen Jubelchören sei ein Sinn für Proportionen ans Herz gelegt: ein Stimmenzuwachs von +1,2% ist, trotz Parlamentsmehrheit, kein Erdrutschsieg.
Und diejenigen, die nun versuchen, das Labour-Ergebnis als die größte Katastrophe seit 1931 (damals verlor die Partei 235 Abgeordnete und konnte damit insgesamt nur 52 Parlamentssitze gewinnen) darzustellen, tun dies vor allem, um Stimmung gegen den scheidenden Parteivorsitzenden Corbyn und dessen linkes Wahlprogramm zu machen.
Die fleißigsten VertreterInnen dieser Ansicht findet man in der Partei selbst: der rechte Flügel der „Blairites”, posaunt die Lüge vom „unwählbaren Corbyn” mit seinem „unbeliebten Programm” (mit Forderungen nach Erhöhung der Mindestlöhne, der Rückverstaatlichung von öffentlicher Infrastruktur, wie etwa die Eisenbahnen oder die Strom- und Wasserwerke, sowie eine staatliche Wohnbauoffensive) am allerlautesten hinaus.
Die Wahrheit ist allerdings, dass die Partei es in der jüngeren Vergangenheit nur einmal geschafft hat, in absoluten Zahlen mehr Wählerstimmen zu gewinnen – nämlich bei der Wahl 2017, ebenfalls unter Corbyn. Weder Tony Blair, der Namensgeber des rechten Parteiflügels, noch sein Zögling Gordon Brown und dessen Nachfolger Miliband konnten seit 2005 so viele WählerInnen davon überzeugen, ihr Kreuz bei Labour zu machen, wie Corbyn bei dieser Wahl – insbesondere nicht in der Jugend: eine absolute Mehrheit der 18-39 Jährigen stimmte für Labour.
Tatsächlich hatte Labour jede Chance zu gewinnen – und gerade das linke Wahlprogramm wäre die stärkste Waffe gewesen. Das zeigen schon die Umfragen. Unter denjenigen, die in der Vergangenheit traditionell Labour wählten, gaben bspw. nur 6% an, dies wegen diesen Forderungen diesmal nicht mehr getan zu haben. Selbst der Economist musste zugeben: „Herr Corbyn war schädlich, aber seine Ansichten zu höheren öffentlichen Ausgaben und wie man die abgekartete Wirtschaft wieder fair gestalten kann wurden auf breiter Front unterstützt.”
Aber das ist nur die Oberfläche. Wie tief die Unterstützung für Corbyns Programm ist, zeigen die Entwicklungen in der Labour Party, seit er den Vorsitz übernahm und linke Politik endlich wieder offen artikuliert wurde. Hunderttausende strömten in die Partei und erweckten damit vielerorts die lokalen Parteiorganisationen, die in den Blair-Jahren völlig verknöcherten oder gleich ganz zusammenbrachen, erst wieder zum Leben. Diese neuen Mitglieder waren es auch, die frischen Schwung in die Wahlkämpfe brachten und zu Zehntausenden leidenschaftlich von Tür zu Tür gingen. Einige Gewerkschaften, die sich in der Zeit davor von Labour abgewandt hatten, näherten sich wieder an.
Wer ist also schuld?
Ein wichtiger Faktor war der Brexit, der die ganze Wahl überschattete. Im Gegensatz zur Wahl von 2017, wo die Partei es schaffte die wirtschaftlichen und sozialen Forderungen in den Mittelpunkt zu stellen, sprach sich Labour diesmal de facto für den Verbleib in der EU aus und machte eine zweite Brexit-Abstimmung zu einer zentralen Säule des Wahlprogramms. Unsere britische Schwesterzeitung Socialist Appeal analysierte am Tag nach der Wahl:
„Das erlaubte es den Tories, Labour als Brexit-Blockierer darzustellen, die sich dem demokratischen Ergebnis widersetzten. So wiederum konnten sich die Tories als die wahre Brexit-Partei präsentieren, die den Willen des Volkes umsetzt. Labour wurde damit unglücklicherweise Teil eines Establishments, das den Brexit verhindern will. Als Folge ging das Mandat in vielen bisherigen Labour-„Hochburgen“ [die mehrheitlich für den Brexit stimmten. Anm.] an die Tories.“
„Diese politische Wende mit ihren verheerenden Auswirkungen wurde der Labour Party in erster Linie von den Parlamentsabgeordneten des rechten Parteiflügels (Blairites) aufgedrückt, die sich lautstark dafür ins Zeug legten, dass sich die Partei für eine zweite Brexit-Abstimmung einsetzt.“
„Viele ehemalige Labour-WählerInnen rümpften ihre Nase und „borgten“ den Tories ihre Stimme, um „den Brexit durchzuziehen“.
Es erübrigt sich zu sagen, dass die Vorstellung, Johnson und die Konservativen könnten die Probleme der arbeitenden Menschen lösen, eine Illusion ist. Boris Johnson ist eine einzige Mogelpackung. Die Tories werden ihre Probleme nicht lösen; tatsächlich werden sie diese nur noch schlimmer machen. Die Konservativen waren das ganze letzte Jahrzehnt an der Macht – ein Jahrzehnt der Sparpolitik und des fallenden Lebensstandards. Jetzt werden sie sich auf einen neuerlichen Angriff auf die Arbeiterklasse vorbereiten.“
„Die Verantwortung für diese Niederlage liegt deshalb bei den Blairites, beginnend mit Sir Keir Starmer [der sich jetzt als Spitzenkandidat der Rechten für den Labourvorsitz herauskristallisiert, Anm.]. Sie haben damit maximale Verwirrung ausgelöst. Es war ein Teil des Plans, Corbyn fertigzumachen, der schwach und unsicher wirkte.”
(die volle Analyse gibt es hier: „Großbritannien: Was lernen wir aus dem Wahlergebnis? Nicht jammern, sondern organisieren!”)
In Wirklichkeit arbeiten die Parteirechten im Einklang mit der Milliardärspresse von Rupert Murdoch und Co. schon seit der Wahl Corbyns (2015) daran, ihn so schnell wie möglich wieder loszuwerden.
Erst wurde er als ein radikaler Träumer diskreditiert. Dann, als sich herausstellte, dass seine Positionen mehrheitsfähig waren, als Antisemit.
Wir berichteten regelmäßig über die ständige Hetze und Sabotage der Rechten, von denen einige ExponentInnen sich schon abgespalten haben und gar nicht mehr in der Partei sind. Corbyn versäumte es, sich diesen Angriffen und den VerräterInnen in den eigenen Reihen offensiv entgegenzustellen. Kein Wunder, dass viele WählerInnen nach 4 Jahren ununterbrochenen Trommelfeuers das Vertrauen in die Partei verloren.
Und jetzt?
Es sind diese Damen und Herren, die auch jetzt, nachdem Corbyn am Tag nach der Wahl seinen Rücktritt ankündigte, ihr ganzes Feuer gegen die Linke richten, in der Hoffnung, endlich wieder die Kontrolle über die Partei zu übernehmen. Für sie steht z.B. der ehemalige Parlamentarier Alan Johnson, der im Fernsehen ausrastete: „Sie [Corbyn und seine UnterstützerInnen] haben die Partei zerstört! Ich will, dass sie alle verschwinden!”
Damit spricht er offen aus, was sich viele seiner feigeren KollegInnen nur im Hinterzimmer zu sagen trauen.
Das Problem, dass sie dabei haben ist: mit ihren Ansichten locken sie keinen Hund hinter dem Ofen hervor. Der größte Teil der Parteibasis, besonders die hunderttausenden radikalisierten Jugendlichen und ArbeiterInnen, hat mit der elitären Blairite-Clique in der Parlamentsfraktion und in Teilen des Parteiapparats nichts zu tun und kann auch mit deren rechter Politik nichts anfangen.
Wie weit sich die Partei in den letzten Jahren verändert hat, können wir jetzt schon in der ersten Phase der Wahlen um den Vorsitz sehen, die am 2. April stattfinden wird. Während 2015 Corbyn noch gegen drei deklarierte Blairites antrat (wenn auch in leicht unterschiedlichen Schattierungen), ist das Feld dieses Mal weniger klar abgesteckt. Die linke Kandidatin ist die selbsterklärte Sozialistin Rebecca Long-Bailey. Sie unterstützte etwa bei der letzten Parteikonferenz die Wiedereinführung des „Clause IV“ ins Parteistatut. Diese Klausel fordert das Gemeineigentum an den Produktionsmitteln (wir berichteten).
Ihr größter Konkurrent wird Sir Keir Starmer sein, der Brexit-Sprecher und größte Befürworter des zweiten Referendums. Seine hohe Position in der Partei, seine linksblinkende Rhetorik und der Appell, jetzt „Geschlossenheit” zu zeigen verleihen ihm derzeit noch eine gewisse Autorität. Er, und nicht etwa die offen rechten Kandidatinnen Nandy und Phillips, wird von der Mehrheit der Labour-Abgeordneten bevorzugt, denn diese hätten überhaupt keine Chance gegen Long-Bailey, die sich als Corbyns politische Nachfolgerin positioniert.
Umso notwendiger ist es, dass Long-Bailey sich klar abgrenzt und darauf stützt, was Corbyn so stark gemacht hat: ein mutiges Programm mit radikalen Forderungen, auch gegen das alte Parteiestablishment. Das war die Grundlage für seinen Erfolg in der Wahl um den Parteivorsitz und bei den Parlamentswahlen 2017.
Denn auch ihr wird, sollte sie die Wahl gewinnen, die geballte Opposition der Parteirechten entgegenschlagen, die sich mit aller Macht an ihre gut dotierten Posten klammern. Der Abwahl amtierender Parlamentarier durch die Labour-Basis stehen immer noch große bürokratische Hürden im Weg.
Dagegen steht das Konzept der „mandatory reselection“[1], also der zwingenden Wahl der KandidatInnen vor jeder Wahl. Ein solches System, das bei der Parteikonferenz von 2018 von 90% der Delegierten befürwortet, schlussendlich aber mit den Blockstimmen der Gewerkschaftsbürokratie abgelehnt wurde, würde der riesigen Kluft zwischen Parlamentsfraktion und Parteibasis ein Ende machen.
Die letzten Jahre haben die Labour Party grundlegend verändert, aber dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen.
Die MarxistInnen von Socialist Appeal stehen in der Partei für eine linke Offensive, eine Rückeroberung der Partei (und ihrer VertreterInnen im Parlament) durch die Basis und ein mutiges sozialistisches Programm.
Nur auf dieser Basis kann die Bewegung weitergehen und die arbeiterfeindliche, konservative Regierung ernsthaft herausfordern.
(Funke Nr. 180/22.1.2020)
[1] Seit dieser Artikel verfasst wurde hat sich Rebecca Long-Bailey klar für „mandatory reselection / open selection“ ausgesprochen – also die verpflichtende Vorwahl aller KandidatInnen vor Parlamentswahlen. Diese Position reiht sich nahtlos in ihre bisherigen Schlüsselforderungen ein, wie die Verstaatlichung der wichtigsten Industrien („Clause IV“) oder die Abschaffung des völlig undemokratischen „House of Lords“. Solche klaren Ansagen sind genau das was es braucht, um der Parteilinken neuen Schwung zu verleihen und die „Corbyn-Revolution“ zu Ende zu führen.