„In Italien streiken sie ja bei jeder Kleinigkeit“ – wie sich die italienische Arbeiterschaft diesen Ruf erarbeitete, und wie ein Gegenmodell zum sozialpartnerschaftlichen Kurs des ÖGB aussehen könnte, beschreibt Konstantin Korn.
Der Nachkriegsaufschwung erreichte in den 1960er Jahren seinen Höhepunkt. Auto und Fernseher standen symbolisch für diese goldene Ära kapitalistischer Entwicklung und verhießen eine neue Freiheit. Doch in den Fabriken, wo Millionen ArbeiterInnen diese Waren herstellten, regierte die ungeschminkte Unfreiheit. Federführend dabei war der Turiner Automobilkonzern FIAT, wo in Folge einer politischen Repressionswelle die linke Gewerkschaft CGIL de facto nicht mehr offen in der Fabrik auftreten konnte. Der Bedarf nach neuen Arbeitskräften wurde mit ArbeitsmigrantInnen aus Süditalien gedeckt. Gewerkschaft war für sie ein Fremdwort, viele waren katholisch geprägt, kannten nur das karge bäuerliche Leben in der Provinz. In ihrer neuen Heimat in Turin, Mailand und den anderen Industriestädten wurden sie als „terroni“ („Erdfresser“) beschimpft. Die Rechnung des Kapitals schien mit diesen Billigarbeitskräften aufzugehen.
Doch angesichts des Wirtschaftswunders war auch bei ihnen bald der Punkt erreicht, wo sie ein größeres Stück vom Kuchen verlangten. Die harten Arbeitsbedingungen in den Fabriken und das Wohnungselend radikalisierten diese neue Generation von zuvor unpolitischen ArbeiterInnen.
Die Gewerkschaften und die linken Parteien (KP und SP) hingegen verfolgten wie in den meisten europäischen Ländern einen Kurs sozialpartnerschaftlicher Verhandlungen und Einbindung in die Regierungsgeschäfte. Die versprochenen Reformen blieben jedoch aus, was die Entfremdung zwischen großen Teilen der Arbeiterschaft und der Jugend von den traditionellen Massenorganisationen der Linken deutlich verschärfte.
Die Studentenrevolte von 1967/68 kündigte jedoch eine neue Welle von Massenprotesten an, die auch mit brutaler Staatsrepression nicht eingedämmt werden konnte. Als 1968 auch die Fabriken von einer ersten Streikwelle erfasst wurden, solidarisierten sich die StudentInnen massenhaft. Die radikale Linke, die an den Unis stark vertreten war, spielte in der ersten Phase auch eine zentrale Rolle bei der Politisierung der anfangs spontanen Arbeitskämpfe (z.B. bei Pirelli, in Porto Marghera, FIAT Mirafiori in Turin).
Als der Zorn explodierte
Diese Kämpfe stellten einen radikalen Bruch mit der sozialpartnerschaftlichen Logik der Gewerkschaften dar. Als in unzähligen Fabriken spontane Streiks ausbrachen, tat sich ein abgrundtiefer Widerspruch zwischen den ArbeiterInnen und den bremsenden Gewerkschaftsführern auf. Die Gewerkschaft redete sich immer nur auf die mit der Industriellenvereinigung Confindustria ausgehandelten Kollektivvertragsvereinbarungen aus, welche de facto eine moderate Lohnpolitik bedeuteten. Der Grad der Radikalisierung war jedoch derart hoch, dass sich dieser sozialpartnerschaftlich ausgehandelte „soziale Frieden“ nicht länger aufrechterhalten ließ. In den Betrieben war der Siedepunkt erreicht.
Interessant ist auch, dass in dieser ersten Phase Sektoren der Arbeiterklasse an der Spitze der Bewegung standen, die bis dahin nur eine marginale Rolle im Klassenkampf eingenommen hatten. Dazu gehörten die Arbeiterinnen in der Textilindustrie, aber auch viele gut ausgebildete technische Fachkräfte, die zuvor keine linken Traditionen kannten, sich im Zuge von Streiks aber sehr schnell radikalisierten. Erst in einer zweiten Phase zogen dann die so genannten „schweren Bataillone“ der Arbeiterklasse, d.h. die ArbeiterInnen aus den großen Fabriken in den Kampf.
Die Kampfmethoden dieser neuen Arbeiterbewegung waren gekennzeichnet durch eine extreme Entschlossenheit der ArbeiterInnen, sich das zu holen, was sie für ein besseres Leben brauchten. Allgegenwärtig war der Wunsch nach einer gesellschaftlichen Alternative, der sich in verschiedenen Formen der Arbeiterkontrolle über die Produktion ausdrückte. Es war die Zeit gelebter Arbeiterdemokratie in den Betrieben.
Ein gutes Beispiel ist FIAT Mirafiori in Turin. Ausgehend von einer Abteilung entstand ein regelrechter Flächenbrand, der dazu führte, dass in einer Abteilung nach der anderen, die Belegschaft Forderungen zur Verbesserung ihrer Arbeitssituation entwickelte und dafür die Arbeit niederlegte. Dabei wählte sie pro Team einen Sprecher. Die Gewerkschaft spielte in diesem Kampf anfangs keinerlei Rolle, dafür kam es schon sehr früh zu einer engen Kooperation von ArbeiterInnen und StudentInnen, die sich zu einem Komitee namens Lotta Continua („Der Kampf geht weiter“) zusammenschlossen. Über Monate gelang es so Tag für Tag bei Schichtwechsel Hunderte vor den Fabriktoren zu mobilisieren. Bei diesen Versammlungen wurde über die weitere Vorgangsweise diskutiert, abgestimmt, und in der darauf folgenden Schicht setzten die ArbeiterInnen die Beschlüsse sofort um.
Letztendlich unterzeichnete die Unternehmensleitung mit den Gewerkschaften ein Abkommen, welches dieses neue System der Delegierten pro Abteilung als offizielle Interessensvertretung der Belegschaft anerkannte.
Unter dem Druck der Belegschaft organisierten die Gewerkschaften in Folge einen Streik gegen die hohen Mieten in Turin. Lotta Continua nutzte diese Chance und rief zu einer Demonstration außerhalb der Fabrik auf, die von der Polizei brutal angegriffen wurde. Als die Nachricht von diesem Vorfall die Runde machte, schlossen sich Tausende Menschen aus den Arbeitervierteln rund um die Fabrik der Demo an und lieferten sich mit der Polizei bis in die tiefe Nacht eine heftige Straßenschlacht.
Die Fabriksdelegierten
Die Gewerkschaftsbürokratie hatte in wichtigen Fabriken die Kontrolle über die ArbeiterInnen verloren. Diese Herausforderung musste die Bürokratie annehmen, um ihre soziale Position als Vermittlerin zwischen den Klassen nicht zu verlieren. Sie musste den Tiger zähmen. Aus diesem Grund setzte die Gewerkschaft auf die Anerkennung und Einbindung der neuentstandenen, jederzeitig wähl- und abwählbaren „Fabriksräte“. Die radikale Linke reagierte völlig sektiererisch auf diese Entwicklung. Sie vertrat die These, dass „die Gewerkschaften bereits überwunden wurden“. Mit dieser falschen Herangehensweise aufgrund eines fehlenden Verständnisses für die Rolle der traditionellen Massenorganisationen der Arbeiterbewegung isolierte sich die radikale Linke immer mehr von den ArbeiterInnen.
The sheer scale and militancy of the Hot Autumn can be seen in our image gallery of the struggle:https://t.co/nwqure829W pic.twitter.com/WjIc0DTUQ8
— libcom dot org (@libcomorg) 21. Mai 2019
Im Herbst 1969 standen für 7 Millionen ArbeiterInnen die Kollektivvertragsverhandlungen an, und die Gewerkschaft versuchte sich nun zum Sprachrohr der Forderungen der Basis in den Betrieben zu machen. Der Forderungskatalog der Gewerkschaften, der sich auf eine Umfrage unter 300.000 KollegInnen stützte, beinhaltete alle Forderungen, die in den Monaten davor von den ArbeiterInnen erhoben worden waren: gleiche Lohnerhöhungen für alle, Arbeitszeitverkürzung und mehr Urlaub, Gleichstellung von ArbeiterInnen und Angestellten, Ausbau der Gewerkschaftsrechte im Betrieb (Anerkennung der Delegierten, Recht auf Betriebsversammlungen während der Arbeitszeit, Abbau der Disziplinarmaßnahmen).
Vor diesem Hintergrund gewannen die Gewerkschaften (aber auch die Kommunistische Partei) in der Arbeiterschaft wieder rasch an Autorität, was sich in massiven Mitgliederzuwächsen ausdrückte.
Gleichzeitig drohte der Gewerkschaftsbürokratie aufgrund des großen Drucks der Basis die Kontrolle zu entgleiten. Es war ein äußerst gefährliches Spiel mit dem Feuer, das sie aus einer absoluten Defensivposition heraus jedoch eingehen musste. Nur so ist zu erklären, dass abgeklärte Bürokraten der alten Schule plötzlich von „Klassenkampf“ und „sozialer Revolution“ zu sprechen begannen. Ohne eine derart radikale Sprache hätten sie die Arbeiterklasse aber nicht unter Kontrolle halten können.
Auf alle Fälle gelang es den Gewerkschaften wieder Herr der Lage zu werden, indem sie die Forderungen und Methoden der Arbeiterklasse zu den ihren machten. Jeder Versuch, einen Schritt weiter zu gehen, die Fabriksräte zu vernetzen und ihnen eine revolutionäre Perspektive zu geben, wurde jedoch massiv von der Bürokratie bekämpft. Die Gewerkschaftslinke unternahm Schritte in Richtung einer solchen Vernetzung, wurde daraufhin allerdings von der Gewerkschaftsführung schwer unter Beschuss genommen. Letztendlich gab sie diesem Druck auch nach und pfiff die eigenen AktivistInnen wieder zurück. In dieser Situation zeigte sich einmal mehr die fatale Wirkung, wenn es keinen subjektiven Faktor in Form einer starken revolutionären Partei gibt. Damit war einer Vertiefung des Prozesses und einer offen revolutionären Perspektive der Weg versperrt.
Der Heiße Herbst mit einer Reihe von Generalstreiks und der Mobilisierung von Millionen ArbeiterInnen brachte somit „nur“ eine Reihe von sozialen Reformen. 81 Kollektivverträge wurden neu unterzeichnet, die teilweise extrem weitreichend waren und alle Forderungen der Gewerkschaft beinhalteten. Die Bürgerlichen standen damals vor der Alternative, weitreichende Zugeständnisse machen zu müssen oder alles zu verlieren.
Außerdem wurde ein Dekret verabschiedet, das den 15.000 (!) ArbeiterInnen, die während der Ereignisse von 1969 aufgrund ihrer politischen Aktivität gegen das Gesetz verstoßen hatten, Straffreiheit zusicherte.
Im Mai 1970 wurde im Parlament das „Arbeiterstatut“ verabschiedet, das den ArbeiterInnen weitgehende soziale Rechte (z.B. Kündigungsschutz) gesetzlich zusicherte. Damit war aber erst der Anfang einer neuen Welle von sozialen Bewegungen gesetzt worden, die nahezu ein Jahrzehnt lang die italienische Gesellschaft erschüttern sollten. Viele Verbesserungen wie eine Demokratisierung der Unis oder das Scheidungsrecht für Frauen konnten in diesen Jahren erkämpft werden.
Italien durchlebte eine Phase einer vorrevolutionären Situation. Dieses Kapitel der Geschichte der Arbeiterbewegung ist voller Lehren, und sollte auch 50 Jahre später genau studiert werden.
(Funke Nr. 179/11.12.2019)
Diskussion und Filmabend zum „Heißen Herbst“
- Wann: 18. Jänner 2020 ab 16:00
- Wo: Lustkandlgasse 10/1, 1090 Wien
- Facebook-Event
Über den Film:
„Wir brauchen keine Erlaubnis“
Pietro Perroti war Arbeiter im FIAT-Werk Mirafiori und ein Protagonist des Heißen Herbsts 1969, den er mit seiner Kamera dokumentiert hat. Mehr als 40 Jahre später machte er aus den damaligen Aufnahmen einen Film über die sozialen Kämpfe in Italien von 1968-1980. Demos, Streikposten und große Versammlungen werden so zum Leben erweckt, und die künstlerische Kreativität dieser Bewegung erfährt eine späte Würdigung.
Der Dokumentarfilm erzählt vom Klima dieser Jahre; der massenhaften Beteiligung, der Solidarität, aber auch vom Versagen der Gewerkschaften.
Der Film kann über die Funke-Redaktion bezogen werden.
„Wir brauchen keine Erlaubnis“, 87 Min., OmdtU