Heutzutage ist die Einstellung der meisten Menschen zur Philosophie meist von Gleichgültigkeit oder gar Verachtung gekennzeichnet. Angesichts des Zustands der modernen Philosophie ist das durchaus verständlich. Doch eine stringente, philosophische Grundlage ist für die Analyse der Gesellschaft und für deren Veränderung notwendig.
Der folgende Text ist ein Auszug* aus Alan Woods‘ „Einführung in die revolutionäre Philosophie des Marxismus“, der in unserem neuerschienenen Buch „Ideologiekritik“ vollständig zu lesen ist. Der Auszug argumentiert, warum der Empirismus – das Verlassen rein auf die „wissenschaftlichen Fakten“ – der vorgibt, ohne Philosophie auszukommen, eine Sackgasse ist. Dem stellen wir die dialektisch-materialistische Methode des Marxismus gegenüber.
* Auslassungen des Orginaltexts sind mit dem ¶-Zeichen gekennzeichnet
Das Verlangen nach „den Fakten“
Viele Menschen fühlen sich nur dann sicher, wenn sie sich auf die Fakten beziehen können. Doch die „Fakten“ wählen sich nicht von selbst aus. Es bedarf einer konkreten Methode, die uns hilft, über das unmittelbar Gegebene hinauszuschauen und die Prozesse, die über die „Fakten“ hinausgehen, bloßzulegen. Trotz gegenteiliger Behauptungen ist es unmöglich, ohne eine vorgefasste Meinung einfach die „Fakten“ als Ausgangspunkt zu nehmen. Eine solche vermeintliche Objektivität hat es nie gegeben und wird es auch nie geben.
In unserer Herangehensweise an die Fakten lassen wir unsere eigenen Vorstellungen und Kategorien einfließen. Diese können entweder bewusst oder unbewusst sein, spielen aber immer eine gewisse Rolle. Wer glaubt, ohne Philosophie auskommen zu können – und das trifft auf viele Wissenschaftler zu – wiederholt in der Regel unbewusst die gegenwärtig dominante „offizielle“ Philosophie und die vorherrschenden, gesellschaftlichen Vorurteile. Es ist daher unerlässlich, dass Wissenschaftler und bewusst denkende Menschen im Allgemeinen bestrebt sind, eine konsistente Sichtweise auf die Welt zu entwickeln, eine kohärente Philosophie, die als geeignetes Werkzeug zur Analyse von Dingen und Prozessen dienen kann.
Die Schlussfolgerungen aus der Sinneswahrnehmung sind hypothetisch und erfordern weitere Beweise. Durch Beobachtung über einen langen Zeitraum hinweg, kombiniert mit praktischer Tätigkeit, die es uns ermöglicht, die (Un-)Richtigkeit unserer Ideen zu überprüfen, können wir eine Reihe von wesentlichen Zusammenhängen zwischen Phänomenen entdecken. Gemeinsame Merkmale erlauben es uns, sie zu einer bestimmten Gattung oder Art zusammenzufassen.
Der Prozess der menschlichen Erkenntnis geht vom Besonderen zum Allgemeinen, aber auch vom Allgemeinen zum Besonderen. Es wäre daher falsch und einseitig, das Eine gegen das Andere zu stellen. Im dialektischen Materialismus sind die Methoden der Induktion und der Deduktion (das Schließen von Einzelbeobachtungen auf allgemein gültige Gesetze, und umgekehrt, Anm. d. Red.) nicht miteinander unvereinbar, sondern werden als verschiedene Aspekte des dialektischen Erkenntnisprozesses gesehen, die untrennbar miteinander verbunden sind und sich gegenseitig bedingen.
Induktives Denken ist in letzter Instanz die Grundlage allen Wissens, denn alles, was wir wissen, ergibt sich letztlich aus der Beobachtung der objektiven Welt und aus unserer Erfahrung. Bei näherer Betrachtung werden jedoch die Grenzen einer streng induktiven Methode deutlich. Unabhängig davon, wie viele Fakten untersucht werden, bedarf es nur einer einzigen Ausnahme, um die allgemeine Schlussfolgerung, die wir daraus gezogen haben, zu untergraben. Wenn wir tausend weiße Schwäne gesehen haben und daraus den Schluss ziehen, dass alle Schwäne weiß sind, und dann einen schwarzen Schwan sehen, dann ist unsere Schlussfolgerung nicht mehr gültig.
Dialektik statt Empirismus
Der Begriff „Dialektik“ stammt von dem griechischen Wort dialektike, abgeleitet von dialegomai, sich unterhalten oder diskutieren. Ursprünglich bedeutete es die Kunst der Diskussion, die in ihrer höchsten Form in den Sokratischen Dialogen Platons zu sehen ist.
Ausgehend von einer bestimmten Idee oder Meinung, die sich in der Regel aus den konkreten Erfahrungen und Problemen des Lebens der betroffenen Person ableitet, würde Sokrates Schritt für Schritt in einem rigorosen Argumentationsprozess die im ursprünglichen Vorschlag enthaltenen inneren Widersprüche aufdecken, seine Grenzen aufzeigen, die Diskussion auf eine höhere Ebene heben und so zu einem völlig anderen Vorschlag kommen. ¶
Die Dialektik setzt eine dynamische Sicht der Natur voraus, die das menschliche Denken vom rigor mortis der formalen Logik befreit. Der erste wirkliche Vertreter der Dialektik war der griechische Philosoph Heraklit (um 544–484 v. Chr.). ¶
Im Anti-Dühring gibt Engels folgende Einschätzung über die dialektische Weltauffassung von Heraklit:
„Wenn wir die Natur oder die Menschengeschichte oder unsre eigne geistige Tätigkeit der denkenden Betrachtung unterwerfen, so bietet sich uns zunächst dar das Bild einer unendlichen Verschlingung von Zusammenhängen und Wechselwirkungen, in der nichts bleibt, was, wo und wie es war, sondern alles sich bewegt, sich verändert, wird und vergeht. Diese ursprüngliche, naive, aber der Sache nach richtige Anschauung von der Welt ist die der alten griechischen Philosophie und ist zuerst klar ausgesprochen von Heraklit: Alles ist und ist auch nicht, denn alles fließt, ist in steter Veränderung, in stetem Werden und Vergehn begriffen.“
In der „Dialektik der Natur“ schreibt Engels auch: ¶
„Die Dialektik, die sog. objektive, herrscht in der ganzen Natur, und die sog. subjektive Dialektik, das dialektische Denken, ist nur Reflex der in der Natur sich überall geltend machenden Bewegung in Gegensätzen, die durch ihren fortwährenden Widerstreit und ihr schließliches Aufgehen ineinander, resp. in höhere Formen, eben das Leben der Natur bedingen.“¶
Es ist nicht möglich, die Dynamik der Welt, in der wir leben, ohne dialektisches Denken zu verstehen. Und schon gar nicht ist es möglich, ohne ein Verständnis der Dialektik ein bewusster Revolutionär oder eine bewusste Revolutionärin zu sein, die aktiv und bewusst in den historischen Prozess eingreifen möchten. ¶
Das erste Gesetz des dialektischen Materialismus ist die absolute Objektivität der Betrachtung: nicht Beispiele, nicht Umschweife, sondern die Sache selbst. Die Grundlage all unseres Wissens ist natürlich die sinnliche Erfahrung. Ich erlebe die Welt mit meinen Sinnen und kann sie auf keine andere Weise erleben. Das ist die Essenz des Empirismus. ¶
Aber: Die Möglichkeiten der sinnlichen Erkenntnis sind begrenzt. Die Erkenntnis von Phänomenen, die außerhalb der Reichweite der Empfindung liegen, ist nur durch abstraktes Denken, durch dialektisches Denken, möglich. Der Gegenstand des Denkens hat ein ihm innewohnendes Wesen, das Sein an sich. Der Zweck des Denkens ist es, dieses „Sein an sich“ in ein „Sein für uns“ zu verwandeln, d.h. von der Unwissenheit zur Erkenntnis voranzuschreiten.
Wir kommen der Wahrheit nicht näher, indem wir einfach eine Masse von Fakten zusammensammeln. ¶
Die Kraft des Denkens liegt gerade in seiner Fähigkeit zur Abstraktion, seiner Fähigkeit, Besonderheiten auszuschließen und zu Verallgemeinerungen zu gelangen, die die wichtigsten und wesentlichsten Aspekte eines bestimmten Phänomens zum Ausdruck bringen. Der erste Schritt besteht lediglich darin, ein Gefühl für ein Ding als einzelnes Objekt zu bekommen. Dies erweist sich jedoch als unmöglich und zwingt uns, tiefer in die Materie einzutauchen, indem wir innere Widersprüche aufdecken, die den Impuls für Bewegung und Veränderung geben, in denen die Dinge sich in ihr Gegenteil verkehren. ¶
Nur durch das Erkennen dieser widersprüchlichen Tendenzen kann ein betrachtetes Objekt in seiner wahren, dynamischen Realität erkannt werden.
Hegels[1] Grundidee war es, dass Entwicklung durch Widersprüche erfolgt, weshalb man die Dialektik auch als Logik des Widerspruchs bezeichnen kann. Während die traditionelle (formale) Logik Widersprüche zu beseitigen versucht, akzeptiert die Dialektik sie als normale und notwendige Elemente allen Lebens und aller Natur. Giordano Bruno, der italienische Philosoph, Astronom und Mathematiker des 16. Jahrhunderts, dessen Theorien die moderne Wissenschaft antizipierten und der dafür von der Inquisition zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt wurde, gab uns eine entzückende Definition der Dialektik, als er sie als la divina arte degli opposti („die göttliche Kunst der Gegensätze“) bezeichnete. ¶
Quantität und Qualität: Evolution und Revolution
In der Wissenschaft der Logik, insbesondere im Abschnitt über das Maß, erläutert Hegel seine Theorie der Knotenlinie der Entwicklung, in der eine Reihe kleiner, scheinbar unbedeutender Veränderungen schließlich einen kritischen Punkt erreichen, an dem es einen qualitativen Sprung gibt. ¶
Insbesondere die Idee des Umschlags von Quantität in Qualität steht dabei im Mittelpunkt – eines der Grundgesetze der Dialektik.
Engels wies in seinem Anti-Dühring darauf hin, dass die Natur letztendlich dialektisch funktioniert. Die Fortschritte der Wissenschaft in den letzten hundert Jahren haben diese Behauptung vollauf bestätigt. Amerikanische Forscherinnen und Forscher stehen an der Spitze einiger der wichtigsten Entwicklungen in der modernen Wissenschaft. Ich denke insbesondere an die Arbeit von R.C. Lewontin im Feld der Genetik und vor allem an die Schriften des Evolutionsbiologen Stephen J. Gould. ¶
Der genetische Unterschied zwischen Menschen und Schimpansen beträgt weniger als zwei Prozent, und wir teilen einen großen Teil unserer Gene mit Fruchtfliegen und noch primitiveren Organismen. Der letzte verzweifelte Gegenangriff der Kreationisten, die sich hinter dem Banner des „intelligenten Designs“ verstecken, wurde durch die bemerkenswerten Ergebnisse des Humangenomprojekts zerschmettert. Der zweiprozentige Unterschied, der uns von den anderen Primaten unterscheidet, ist jedoch ein qualitativer Sprung, der die Menschheit auf eine ganz andere und höhere Ebene hebt. ¶
Geschichte und Natur kennen sowohl Phasen der Evolution – eine langsame, allmähliche Entwicklung – als auch solche der Revolution – einen qualitativen Sprung, bei dem der Prozess der Evolution enorm beschleunigt wird. Die Evolution bereitet den Weg für die Revolution, die wiederum den Weg für eine neue Periode der Evolution auf einer höheren Ebene bereitet. ¶
Der amerikanische Physiker und Autor Mark Buchanan weist in seinem Buch „Ubiquity“ darauf hin, dass so unterschiedliche Phänomene wie Herzinfarkte, Lawinen, Waldbrände, Aufstieg und Niedergang von Tierpopulationen, Börsenkrisen, Verkehrsbewegungen und sogar Revolutionen in Kunst und Mode dem gleichen Grundprinzip unterliegen, das sich als mathematische Gleichung, bekannt als Potenzgesetz, ausdrücken lässt. Dies ist eine weitere bemerkenswerte Bestätigung des dialektischen Gesetzes des Umschlags von Quantität in Qualität. ¶
Kann die menschliche Gesellschaft verstanden werden?
Schon bei oberflächlicher Betrachtung der Geschichte sehen wir, dass die menschliche Gesellschaft eine Reihe von Phasen durchlaufen hat und dass sich gewisse Prozesse in regelmäßigen Abständen wiederholen. So wie wir in der Natur den Umschlag von Quantität in Qualität sehen, so sehen wir auch in der Geschichte, dass lange Perioden langsamer, fast unmerklicher Veränderung durch Perioden unterbrochen werden, in denen der Prozess beschleunigt wird, und es dann auch zu qualitativen Sprüngen kommt.
In der Natur können die langen Perioden langsamer Veränderung – Stasis – Millionen von Jahren dauern. Sie werden durch katastrophische Ereignisse unterbrochen, die unweigerlich mit dem Aussterben bisher dominanter Tierarten und dem Aufstieg anderer Arten einhergehen, die vorher unbedeutend waren, sich aber besser an die neuen Umstände anpassen können. In der menschlichen Gesellschaft spielen Kriege und Revolutionen eine so bedeutende Rolle, dass wir sie als Meilensteine betrachten, die eine historische Periode von einer anderen trennen.
Es waren Marx und Engels, die zu der Erkenntnis kamen, dass die wahre Triebkraft der Geschichte die Entwicklung der Produktivkräfte ist. Das bedeutet nicht, wie die Gegner des Marxismus oft behaupten, dass Marx alles auf die Ökonomie reduziert hat. Es gibt viele andere Faktoren, die in die Entwicklung der Gesellschaft einfließen: Religion, Moral, Philosophie, Politik, Patriotismus, Stammesbündnisse etc. All dies bildet ein komplexes Netz sozialer Beziehungen, die ein reichhaltiges und verwirrendes Mosaik an Phänomenen und Vorgängen bilden.
Auf den ersten Blick scheint es unmöglich, die gesellschaftlichen Prozesse in dieser Komplexität fassen zu können. Dasselbe könnte man von der Natur oder gar dem Universum sagen. Dies hindert die Wissenschaft aber nicht daran, die verschiedenen Elemente gesondert zu behandeln, sie zu analysieren und zu kategorisieren. Warum sollten die Menschen über der restlichen Natur stehen und die einzige Gattung im ganzen Universum darstellen, die von der Wissenschaft nicht verstanden werden kann? Die Vorstellung selbst ist absurd und ist lediglich Ausdruck des brennenden Wunsches der Menschen, eine Art besondere Schöpfung zu sein, völlig getrennt von allen anderen Tieren und mit einer besonderen Beziehung zum Rest des von Gott geschaffenen Universums. Doch die Wissenschaft hat diese egozentrischen Illusionen gnadenlos zerstört. ¶
Widersprüche in der Gesellschaft
Die dialektischen Gesetze sind nicht auf die Natur beschränkt, sondern gelten auch im Bereich der menschlichen Gesellschaft, der Geschichte und der Ökonomie. Zu der Liste von Phasenübergängen, die in Büchern wie Ubiquity beschrieben werden, können wir auch Revolutionen hinzufügen, die Ausdruck des Kampfes zwischen den Klassen sind. ¶
Im Kommunistischen Manifest erklären Marx und Engels, dass die Geschichte aller bisher existierenden Klassengesellschaften die Geschichte von Klassenkämpfen ist. Die Existenz von Klassengegensätzen droht die Gesellschaft auseinanderzureißen. ¶
Doch: So wie es im Atomkern Kräfte gibt, die verhindern, dass er auseinanderfliegt, so gibt es in der Gesellschaft eine ganze Reihe von Mechanismen, die einem ähnlichen Zweck dienen. Aber die bei weitem mächtigste von ihnen ist eine Kraft, die in Form von Tradition, Gewohnheit und Routine in den Köpfen der Menschen selbst wirkt und ein wichtiges Element der Trägheit in der Gesellschaft darstellt.
Die meisten Menschen mögen keine Veränderungen. Sie fürchten jede Störung der bestehenden Ordnung, die ihnen wie ein Sprung ins Unbekannte erscheint. Die meisten Menschen werden mit außergewöhnlicher Hartnäckigkeit an althergebrachten Ideen, Vorurteilen, religiösen Überzeugungen sowie den herkömmlichen politischen Parteien und Führungen festhalten. Keine andere Kraft wirkt so stark im Sinne der Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung. Aber wie alles andere in der Natur kann diese wirksame Trägheit die Dinge nur bis zu einem gewissen Grad zusammenhalten.
Unter der scheinbar ruhigen Oberfläche brodelt es. Unzufriedenheit, Wut, Verbitterung und Frustration ergeben ein explosives Gemisch, das danach strebt, einen Ausdruck zu finden. Früher oder später wird der Punkt erreicht sein, an dem Quantität in Qualität umschlägt.
Wir können den gleichen Prozess bei jedem Streik beobachten. In einem Arbeitskampf verändern sich auch die Menschen, die daran teilnehmen. Arbeiterinnen und Arbeiter, die in der Vergangenheit immer apathisch und passiv waren, werden plötzlich aktiv und überraschen nicht selten gerade diejenigen, die sich sonst gerne als die Fortschrittlichen sehen. In den Worten der Bibel gesprochen: „So werden die Letzten die Ersten sein und die Ersten die Letzten.“ Dieser Satz ist eine äußerst dialektische Feststellung!¶
Die Widersprüche innerhalb der Gesellschaft – der Klassenkampf – bestehen in der einen oder anderen Form und mit mehr oder weniger starker Intensität fort, bis ein kritischer Punkt erreicht ist. An dieser Stelle treten bestimmte Symptome auf, die die Unmöglichkeit aufzeigen, wie bisher weiterzumachen: Die herrschende Klasse ist gespalten und kann nicht mehr auf die alte Weise regieren; die Massen treten in Aktion, um die bestehende Ordnung herauszufordern; die Mittelschichten schwanken zwischen Revolution und Reaktion. All diese Symptome deuten auf eine bevorstehende drastische Veränderung hin. ¶
Der Umschlag von Quantität in Qualität erfolgt entweder durch einen externen Schock oder durch das Vorhandensein eines Katalysators. Wir sehen genau den gleichen Prozess in einer Revolution. ¶
Aus marxistischer Sicht ist der Sozialismus unvermeidlich, und zwar in dem Sinne, dass der Kapitalismus sein Potenzial zur Entwicklung der Gesellschaft und zur Förderung der Kultur und der Zivilisation ausgeschöpft hat. Indem der Kapitalismus die Produktivkräfte auf das gegenwärtige Niveau gehoben hat, hat er die Basis für die nächste logische Stufe gelegt, nämlich die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die Überwindung des Privateigentums und des Nationalstaates.
Dieser Prozess kann durch eine Reihe von Faktoren beschleunigt oder verzögert werden, nicht zuletzt durch den subjektiven Faktor. Es wird viele Möglichkeiten für die Arbeiterklasse geben, die Macht in ihre Hände zu nehmen. Doch das bloße Vorhandensein einer Möglichkeit bedeutet nicht unbedingt, dass das Potenzial realisiert wird. Das hängt vom konkreten Handeln der Menschen, ihrer Kampfbereitschaft und der Qualität ihrer Führung ab.
Philosophie und revolutionäre Tätigkeit
Was die genetische Information für den menschlichen Körper, ist in der revolutionären Partei die marxistische Theorie. Die Partei, auch wenn sie klein ist, kann nur wachsen, wenn sie die notwendige Qualität aufweist. Wenn sie saubere Arbeit leistet und sich ihr die notwendigen Möglichkeiten bieten, wird sie wachsen und sich entwickeln. Qualität wird in Quantität umgewandelt, aber Quantität wiederum wird ab einem gewissen Punkt in eine neue Qualität umschlagen. Unter bestimmten Bedingungen kann eine Massenpartei zu einem Faktor werden, und ihr Handeln kann dann breite Massen beeinflussen. Dann wird sie in eine Position kommen, wo es darum geht, die Massen zum Sieg zu führen.
Die Geschichte der bolschewistischen Partei ist in dieser Hinsicht sehr aufschlussreich. Keine andere Partei in der Geschichte hat in so kurzer Zeit einen so großen Erfolg erzielt und die ursprünglich winzigen und isolierten Gruppen marxistischer Kader in eine Massenpartei verwandelt, die in der Lage war, die größte soziale Revolution der Geschichte durchzuführen.
Lenin und Trotzki haben der revolutionären Theorie immer eine enorme Bedeutung beigemessen und auf dieser Grundlage Perspektiven, Taktiken und Strategien ausgearbeitet. Diese ernsthafte Herangehensweise war letztendlich das Geheimnis ihres Erfolgs. Von Anfang an pochte Lenin auf die Schlüsselrolle, die Theorie einnimmt. Schon in „Was tun?“ schrieb Lenin:
„Ohne revolutionäre Theorie kann es auch keine revolutionäre Bewegung geben. Dieser Gedanke kann nicht genügend betont werden in einer Zeit, in der die zur Mode gewordene Predigt des Opportunismus sich mit der Begeisterung für die engsten Formen der praktischen Tätigkeit paart.“
Die wesentliche Bedeutung der dialektischen Methode als wissenschaftliche Grundlage für jede revolutionäre Praxis hat Trotzki in seiner Autobiographie „Mein Leben“ auf brillante Weise erläutert:
„Später wurde das Gefühl der Überlegenheit des Ganzen über das Detail ein unzertrennliches Stück meines schriftstellerischen Schaffens und meiner politischen Betätigung. Der stumpfsinnige Empirismus, das Anbeten des mitunter nur eingebildeten oder falsch verstandenen Faktums waren mir verhaßt. Ich suchte für die Fakten Gesetze. Das führte natürlich manchmal zu voreiligen und unrichtigen Verallgemeinerungen, besonders in meiner Jugend, als mir die Verallgemeinerungen sowohl das Buchwissen wie die Lebenserfahrung fehlten. Aber auf allen Gebieten ohne Ausnahme konnte ich mich nur dann frei bewegen und handeln, wenn ich den Faden des Ganzen in der Hand hielt. Der sozialrevolutionäre Radikalismus, der die geistige Achse meines ganzen Lebens werden sollte, ist gerade aus dieser intellektuellen Feindschaft zu der Brockenrafferei, zum Empirismus, zu allem geistig Umgeformten und theoretisch Zerfahrenen erwachsen.“
Dieser „stumpfsinnige Empirismus, das Anbeten des mitunter nur eingebildeten oder falsch verstandenen Faktums“ ist, wie Trotzki betont, die philosophische Grundlage des Reformismus, der sich durch die feige Unterordnung unter „die Fakten des Lebens“ auszeichnet und der Politik stets als „die Kunst des Möglichen“ konzipiert. Die ernsthafte Herausforderung der herrschenden Ordnung wird als unmöglich, als utopischer Traum oder als gefährliches Abenteurertum angesehen. Demgegenüber unternimmt der Marxismus eine wissenschaftliche Analyse des Status quo, die unter die Oberfläche der „Fakten“ eindringt, um die verborgenen Widersprüche aufzudecken, die schließlich dazu führen werden, dass sich das, was stabil, solide und unveränderlich erscheint, in sein Gegenteil verkehrt.
Marx und Engels sagten, dass die Menschheit vor zwei Alternativen stehe: Sozialismus oder Barbarei. Die Elemente der Barbarei sehen wir bereits, und zwar nicht nur in den sogenannten Entwicklungsländern, wo Millionen von Menschen gezwungen sind, unter alptraumhaften Bedingungen von Armut, Hunger, Krankheit und Krieg zu leben, sondern auch in den sogenannten hochentwickelten kapitalistischen Ländern.
Das Ziel der Marxistinnen und Marxisten ist die sozialistische Transformation der Gesellschaft – und das weltweit. Wir sind der Ansicht, dass sich der Kapitalismus längst überlebt hat und sich in ein repressives, ungerechtes und unmenschliches System verwandelt hat. Das Ende der Ausbeutung und die Errichtung einer harmonischen sozialistischen Weltordnung, die auf einem rationalen und demokratisch erarbeiteten Wirtschaftsplan beruht, wird der erste Schritt zur Schaffung einer neuen und höheren Gesellschaftsform sein, in der wir uns als wirklich freie Menschen verstehen.
Die Philosophie in der modernen Epoche muss der großen Aufgabe dienen, die Arbeit der sozialistischen Revolution zu erleichtern, falsche Ideen zu bekämpfen und die wichtigsten Erscheinungsformen unserer Zeit rational zu erklären und so den Boden für einen grundlegenden Wandel in der Gesellschaft aufzubereiten. Mit den berühmten Worten von Karl Marx:
Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an sie zu verändern.
[1] Der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) arbeitete die dialektischen Methode in ihrer höchste Form aus. Marx und Engels bedienten sich dieser, verwarfen aber den Idealismus Hegels und stellten sie auf materialistische Füße.
Buchdetails
Das vorliegende Buch liefert eine Grundlage der marxistischen Philosophie und beantwortet Ansätze von „westlichen Marxisten“, der Identitätspolitik, der Intersektionalität und der Queer Theory.
Ideologiekritik: Gegen die akademische Entstellung des Marxismus
Taschenbuch, 364 Seiten.
ISBN: 978-3-902988-14-0
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