Ende Mai finden in Österreich und den anderen Mitgliedstaaten der EU die Wahlen zum EU-Parlament statt. Angesichts der tiefgehenden, politischen Krisenerscheinungen in Europa ist das Wahlergebnis ein wichtiger Indikator für die Form und das Tempo des Auseinanderdriftens der EU. Emanuel Tomaselli analysiert.
Zum Zeitpunkt der Redaktionslegung dieser Zeitung ist noch unklar, ob in Großbritannien gewählt wird oder nicht. Die meisten Kommentare gehen davon aus, dass in Großbritannien gewählt wird, aber dass die britischen Abgeordneten noch weniger Rechte haben werden, als die ParlamentarierInnen der anderen Nationen. Dieser kuriose Umstand alleine zeigt an, dass das Projekt der europäischen Integration in einer tiefen Krise steckt und an einem Wendepunkt angelangt ist.
Der lange Blick
Europa war im 20. Jahrhundert Hauptschauplatz zweier Weltkriege. Der grundlegende Konflikt, welche der großen Nationen – Deutschland oder Frankreich – die führende wirtschaftliche und militärische Macht am Kontinent ist, konnte dabei nicht gelöst werden. Der Kontinent als Ganzes aber verlor seine weltweit herrschende Stellung an die USA. So setzten sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Frankreich und Deutschland in der Kapitalistenklasse jene durch, die für eine wirtschaftliche Kooperation innerhalb Europas standen. Nur gemeinsam konnten sie ein ernstzunehmender Global Player bleiben. Mit dem Aufstieg Chinas verschiebt sich heute das Gravitationszentrum des Welthandels an den Pazifik; Europas globale Bedeutung schrumpft weiter.
Solange der Weltmarkt wuchs und die produzierten Waren profitabel verkauft werden konnten, war es den historisch miteinander konkurrierenden und verfeindeten Bourgeoisien Europas möglich, nach innen ein relativ hohes Maß an Zentralisierung herzustellen, bis hin zur Einheitswährung Euro. Historische Vergleiche zwischen der EU und anderen Staatenwerdungsprozessen (wie etwa der Vereinigten Staaten Amerikas) sind an den Haaren herbeigezogen. Denn in Europa gibt es keine gesamteuropäische Klasse und Bewegung, die unter kapitalistischen Bedingungen als sozialer Träger der europäischen Einheit fungieren könnte. Zu stark sind die nationalstaatlichen Gegensätze. Das drückte sich politisch u.a. darin aus, dass das Gesetzesvorhaben einer Europäischen Verfassung nie in Kraft getreten ist und stattdessen 2009 der weit weniger weitreichende „Vertrag von Lissabon“ nur mit Ach und Krach abgeschlossen wurde. Die Institutionen und die Gesetzgebung der EU hatten und haben stets den Charakter von Kompromissen zwischen den Bourgeoisien der starken europäischen Nationen; das EU-Parlament hat aus sich selbst heraus kein Initiativrecht für Gesetze.
EU = Sparregime
Die Arbeiterklasse und die Jugend Europas revoltieren insbesondere seit dem Projekt der Einheitswährung in den 1990iger Jahren in regelmäßigen Abständen gegen die Spar-, Privatisierungs- und Deregulierungspolitik. Diese gehört mit den Maastricht-Kriterien (die eine Defizitobergrenze für Staaten, d.h. Sparmaßnahmen, vorsehen) zu den grundlegenden Politiken der europäischen Einheit. Budgetvorgaben entspringen aber nicht etwa einer „falschen Ideologie“, sondern ist notwendig, um die unterschiedlich starken oder schwachen kapitalistischen Volkswirtschaften der EU in einer Handels- und Währungszone zusammenzufassen. Früher schützten sich schwächere Bourgeoisien (wie in Italien, Spanien, Griechenland,…) vor dem Konkurrenzdruck der viel produktiveren Industrie Deutschlands, indem sie ihre Währung abwerteten. Dies ist mit dem Euro und der Europäischen Zentralbank (EZB) nicht mehr möglich. Das permanente Regime des Sparens in der EU ist die Voraussetzung dafür, dass die unterschiedlichen produktiven Volkswirtschaften trotzdem zu einem einheitlichen Markt und mit einer stabilen Währung zusammengefasst werden können. Kurz: ohne permanente Sparpolitik gibt es keinen Euro. Wie sich in der brutalen Rettungsaktion der europäischen Banken in Griechenland nachvollziehen lässt, verteilt die EU den Erfolg („Exportweltmeister Deutschland“) und die sozialen Kosten des Einheitsmarktes sehr ungleich.
Die europäischen Regeln sind also nicht Ausdruck „neoliberaler Ideologien“ die man durch „soziale und ökologische Politik“ ablösen oder doch zumindest ergänzen könnte. Gerade dies aber wird auch im kommenden Wahlkampf von der Mehrheit der linken Kandidaturen europaweit mit Inbrunst behauptet (siehe Artikel auf Seite 7).
Deutsch-Französische Konflikte
Für den revolutionären Flügel der Arbeiterbewegung ist die Unmöglichkeit einer friedlichen Einigung Europas unter kapitalistischen Bedingungen seit dem Ersten Weltkrieg fester Bestandteil unserer Analyse und Programmatik. Diese Analyse schien angesichts des erzielten Umfangs der Einheit innerhalb der EU veraltet und widerliegt. Heute jedoch ist die Krise der europäischen Integration wieder allgemein fassbar. Der Anlass für das Auseinanderdriften der EU ist dabei die krisenhafte Entwicklung des Weltkapitalismus seit 2008. Da der Kapitalismus die Grenzen des Nationalstaats nicht überwinden kann, kommen diese Widersprüche unter den Bedingungen geopolitischer Spannungen (Stichwort: Trump) und stagnierender Märkte voll zur Geltung.
Die politische Achse Paris-Berlin, der jahrzehntelange Motor der europäischen Einigung, stottert: Die Entfremdung fand einen vorläufigen Höhepunkt im März diesen Jahres, als Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und die neue CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer (AKK) in eine direkte Polemik traten. In einem offenen Brief plädierte Macron an die „Bürger Europas“ für eine Stärkung der europäischen Zentralinstanzen, die das Resultat eines Neugründungsprozesses der EU mit einer breiten europäischen Konferenz sein sollen. „Wir dürfen nicht zulassen, dass die Nationalisten, die keine Lösungen anzubieten haben, die Wut der Völker ausnutzen. Wir dürfen nicht Schlafwandler in einem erschlafften Europa sein“, so der französische Präsident, der im gleichen Atemzug für „einheitliche soziale Standards“ in der EU plädiert. Ungeachtet der Tatsache, dass er im eignen Land das eigene Volk in den Gelbwesten mit brutalster Polizeigewalt bekämpft, fordert er auf europäischer Ebene demagogisch „Partizipation“ und „Einbindung der Sozialpartner“.
Ganz anders AKK, die Nachfolgerin Angela Merkels an der Spitze der CDU: „Europäischer Zentralismus, europäischer Etatismus, die Vergemeinschaftung von Schulden, eine Europäisierung der Sozialsysteme und des Mindestlohns wären der falsche Weg“, lässt sie aus Berlin ausrichten. Um ihre Ablehnung stärkerer EU-Institutionen noch deutlicher zu machen, setzt die kommende starke Frau Deutschlands auf eigene Themen, die geradewegs gegen die Interessen der französischen herrschenden Klasse gerichtet sind: sie fordert Frankreich auf, seinen Sitz im UN-Sicherheitsrat für die EU aufzugeben, fordert ein Abbau der EU-Zölle für afrikanische Landwirtschaftsprodukte, was einer Kriegserklärung gegen die französischen Landwirtschaft gleich kommt, und fordert nun eine Banken-Union (was man am Höhepunkt der Schuldenkrise ablehnte), die wichtig ist, damit die deutsche Finanzindustrie einen größeren Heimatmarkt hat um global mitzuhalten.
Die entgegengesetzten Positionen Deutschlands und Frankreichs ergeben sich aus der unterschiedlichen Konkurrenzfähigkeit der beiden Volkswirtschaften: das wirtschaftlich stärkere Deutschland will vermehrt selbstständig entscheiden und keinesfalls eine Ausweitung der Vergemeinschaftung von finanziellen Risiko innerhalb der EU oder der Euro-Zone. Davon aber würden gerade schwächere Volkswirtschaften profitieren.
Angesichts der enormen Zentrifugalkräfte in der EU richtet sich die deutsche Bourgeoisie mehr nach dem Slogan „Germany first“ aus. Angela Merkel, die stets versuchte, Deutschlands Interessen besonnen im Rahmen des europäischen Multilateralismus zu managen steht vor dem Rücktritt. Die Neuausrichtung des deutschen Kapitals ist das Resultat krisenhafter Widersprüche im Weltkapitalismus. Diese verlangen eine Veränderung der Durchsetzungsart deutscher Wirtschaftsinteressen, der dominanten Kraft in Europa.
Ein völliges Auseinanderbrechen der EU ist unwahrscheinlich, da der gemeinsame Markt die einzige Möglichkeit aller großen Kapitalgruppen in Europa ist, um in den globalen Handelskonflikten mit der USA und China mitzuhalten. Allerdings ist selbst dieser Mindestanspruch nicht garantiert. Während die EU-Kommission die europäische Haltung zu China so beschreibt: „Weder die EU noch einer ihrer Mitgliedsstaaten können ihre Ziele mit China effektiv erreichen, wenn man nicht einheitlich handelt“ gelingt es China in Realität, eine maßgeschneiderte Politik für jedes einzelne EU-Mitgliedsland durchzusetzen. Eine gemeinsame Politik der EU gegenüber China gibt es ebenso wenig wie gegenüber den USA. Das trifft auch auf Österreich zu: Bundeskanzler Kurz verbringt seit seinem Amtsantritt mehr Zeit in Peking, als in Brüssel. Jeder europäischen Bourgeoisie ist das eigene Hemd (also die eigenen Handels-, Kredit-, und Investitionsmöglichkeiten) näher als der europäische Rock.
Die „populistische Bedrohung“
Besonders Liberale und Sozialdemokraten betonen die „populistische Bedrohung“ bei den kommenden Wahlen. Diese Gefahr wurde erstmals in der Schuldenkrise Griechenlands bedeutsam. 2015 betonte EU-Ratspräsident Tusk die Bedrohung durch eine soziale Revolution:
„Aus meiner Sicht ähnelt die Atmosphäre ein bisschen derjenigen, die es nach 1968 in Europa gab. Ich spüre – vielleicht keine revolutionäre Stimmung, aber doch so etwas wie eine weit verbreitete Ungeduld. Wenn die Ungeduld von einem persönlichen zu einem gesellschaftlichen Gefühl wird, kündigen sich Revolutionen an. Ich denke, auch einige der Umstände ähneln denen im Jahr 1968. (…) Vor den schlimmsten Tragödien unserer europäischen Geschichte war es immer dasselbe Spiel, dieses taktische Bündnis zwischen Radikalen aller Art. Heute sehen wir mit Sicherheit dasselbe politische Phänomen. Es wird eine antieuropäische Melodie gespielt. Wenn ich sage: antieuropäisch, dann meine ich dieses traditionelle Denken über die EU und Europa und die gemeinsame Währung, marktfeindliches, antiliberales Denken – geradezu revolutionär. Hin und wieder denke ich mir, dass es bedeutungslos ist, um welche Art von Ideologie es sich handelt.“
Tusk argumentiert aus der Sicht der liberalen, multilateral orientierten Bürgerlichen, die heute die EU-Zentralinstanzen dominieren. Nationalismus und Protektionismus erscheint ihm dabei gleich schädlich, wie soziale Kämpfe der Arbeiterklasse. Tatsächlich ist die Spaltung der herrschenden Klasse eine Erschütterung des politischen Systems, die historisch immer Revolutionen vorausgehen. Für sich selbst stellen diese inner-bürgerlichen Konflikte den Kapitalismus nicht in Frage. In Kombination mit sozialen Kämpfen bedeuten sie aber eine Schwächung des Kapitals und seines Staatsapparates gegenüber kommenden Massenkämpfen der Arbeiterklasse.
Doch die vollständige Kapitulation der griechischen Linkspartei Syriza vor dem Druck der europäischen und internationalen Finanzinstitutionen rettete der Bourgeoisie in Europa in der vergangenen Finanzkrise den Tag. Aber der Ausbruch einer neuen Wirtschaftskrise ist heute nur eine Frage der Zeit. Die soziale Krise in Europa drängt gleichzeitig weiter darauf, einen politischen Ausdruck zu finden. Der stagnierende Lebensstandard und mangelnde Perspektiven für die Menschen verdichtet sich zur politischen Krise und zur Krise der Institutionen. Mit dem Scheitern der Linken findet die Ablehnung der Gegenwart in nationalistischen und rassistischen Parteien politischen Ausdruck. „Hauptsache gegen das Establishment“ lautet die Haltung immer größerer Teile der Bevölkerung. In Österreich, Polen, Ungarn und Italien sind rechtspopulistische Parteien in der Regierung vertreten und in vielen Ländern werden sie eine Mehrheit bei den EU-Wahlen erreichen. Die bislang in drei Fraktionen aufgespaltete Rechte könnte nach den kommenden Wahlen eine bedeutende Stärke im EU-Parlament erreichen. Italiens Außenminister Salvini schmiedet an einer Fraktion im EU-Parlament, die zwar ohne gemeinsames Programm und Spitzenkandidaten auskommt, an der Institutionen der EU aber nicht vorbeikommen werden.
Das EU-Parlament hat Mitbestimmungsrechte bei der Ernennung der EU-Kommission und des Präsidenten des EU-Rates. Auch der Außenkommissar und die EZB werden noch heuer neu besetzt. Bislang sind diese EU-Institutionen fest in der Hand der liberalen, multilateral orientierten Teile der Bourgeoisie. Dies garantierte ein Mindestmaß an Funktionalität der EU-Institutionen, allen sozialen Protesten und nationalistischen Konflikten zwischen den unterschiedlichen europäischen Bourgeoisien und Staaten zum Trotz. Diese Stabilität steht nun auf der Kippe. Ähnlich wie bei der Wahl Van der Bellens bildet sich daher eine breite politische Allianz gegen den „Populismus“. Der nämliche Bundespräsident forderte diese Allianz seit vergangenem Sommer ein, die Spitze des ÖGBs schließt sich diesem Ruf ebenso an, wie der Wiener Erzbischof und der ÖVP-EU-Spitzenkandidat Karas.
Arbeiterklasse: keine politische Stimme
Keine politische Kraft vertritt die sozialen und demokratischen Interessen der Arbeiterklasse. Dies hätte zur Vorbedingung, dass die Wahrheit über den Charakter des realen Kapitalismus und seiner europäischen Institution, der EU, artikuliert wird: die EU ist und bleibt ein Instrument der Großkonzerne und der dominierenden Nationen. Sie kann nicht im Sinne der arbeitenden Menschen reformiert werden, im Gegenteil: die Schwächung der EU erleichtert die Verteidigung des Lebensstandards der Arbeiterklassen Europas, in insbesondere in den schwächeren Nationen.
Sozialdemokratie wie auch die europäischen Linksparteien schüren stattdessen utopische Hoffnungen in die soziale und ökologische Reformierbarkeit der EU. Die Durchsetzung multilateraler Klimaziele (die schon in wirtschaftlich und weltpolitisch besseren Zeiten nie das Papier wert waren, auf dem sie standen) werden geradezu als Existenzsinn der EU vermarktet. In der Realpolitik (fern von den Gefühlen die durch Wahlslogans vermittelt werden) bedeuten solche Forderungen, ein Bündnis mit den Liberalen (inklusive der liberalen Konservativen) einzugehen, die treu zu den Institutionen der EU stehen und zu Hause und in Brüssel die brutalste Politik gegen die Arbeiterklasse durchsetzen. „Alle gemeinsam gegen die Populisten“ macht die Führer der Arbeiterparteien und Gewerkschaften in der EU-Bürokratie populär. Sie hoffen dafür, die Klassenzusammenarbeit zwischen Arbeiter-/Linksparteien und bürgerlichen Parteien, die sie bei sich zu Hause mehr oder weniger erfolgreich aufrechterhalten können, nach Brüssel zu transformieren und damit stärker abzusichern.
Die realen Kämpfe werden jedoch anders geführt werden: um Arbeitsbedingungen, leistbares Wohnen, Löhne, Arbeitsrechte, funktionierende öffentliche Versorgungseinrichtungen. Politische Kämpfe um demokratische Rechte und gegen einen „Liberalismus“, der an den Außengrenzen Migranten sterben lässt und nach innen militärisch und überwachungstechnisch aufrüstet. In diesen Kämpfen wird sich eine neue Führung der Arbeiterklasse herausbilden, und diese Kämpfe werden jedenfalls auch gegen die Institutionen des europäischen Sparregimes gerichtet sein. Wir stehen dabei „Für die Vereinten Sozialistischen Staaten Europas!“, die nur im Zuge einer europäischen Revolution erreicht werden können.
(Funke Nr. 173/Mai 2019)