Überforderung, Verzweiflung, Stillstand: Über 2000 Flüchtlinge befinden sich zurzeit im Camp Bihac nahe der kroatischen Grenze. Die Zustände im Camp sind mittlerweile so desolat, dass viele Flüchtlinge Obdachlosigkeit bevorzugen. Eine Gastreportage von Tabea Kerschbaumer und Petra Kovacs.
Die EU verschließt die Augen vor dem Offensichtlichen: Für Bosnien, einem Staat gezeichnet durch die drittgrößte Arbeitslosigkeit der Welt, ist es nicht möglich, die Situation in den Griff zu bekommen. Die Folgen tragen die untergebrachten Flüchtlinge vor Ort.
Humanitäre Krise in Bosnien
Anfang der humanitären Krise in Bosnien-Herzegowina war die Schließung der Balkanroute durch die Europäische Union im Februar 2016. Durch die Abschottungspolitik der EU und der Apathie des bosnischen Staates strandeten mehr als zehntausend Flüchtlinge Anfang 2018 in Bosnien-Herzegowina.
Der erste Eindruck des Lagers in Bihać war genauso, wie es uns eine Reporterin zuvor geschildert hatte: „Es fehlt an allen Enden an den nötigen Ressourcen, um hier einen menschenwürdigen Platz zu schaffen.“
Tatsächlich wird die Versorgung der Flüchtlinge in Bosnien zu einem großen Teil von der Bevölkerung getragen. Sachspenden und Lebensmittel wurden hier an die Migranten verteilt. Die finanzielle Unterstützung des bosnischen Staates ist bis heute nicht vorhanden.
„Die große Frage die sich uns seit Monaten stellt ist, wo die Gelder der EU hingehen, die die IOM (Internationale Organisation für Migration, führende NGO in Camp Bihać) bezieht“, teilt uns eine Reporterin in Bihać mit. Mit der Unterschlagung von europäischen Geldern seitens der IOM (insgesamt hat die EU eine Unterstützung in Höhe von 7.2 Millionen Euro für Bosnien vorgesehen; im Jahr 2018 wurden bereits 2 Millionen für Bosnien freigegeben) und verschärfte Grenzkontrollen an der kroatischen Außengrenze wird die Aussicht auf eine Zukunft für die Geflüchteten in Bosnien immer geringer. Die Flüchtlinge sind in einer alten Fabrikhalle nahe dem Zentrum von Bihać untergebracht.
Schlafplatz bieten Container und Zelte. Privatsphäre ist durch die Unterbringung von bis zu 42 Personen in einem Zelt nicht gegeben. Durch den Mangel an Mitarbeitern seitens der IOM wird der Nährboden für Konflikte im Camp geschaffen: Bei Streitigkeiten im Camp sind die Mitarbeiter und das Security-Personal restlos überfordert – ein Flüchtling im Camp teilte uns mit, dass rund 30 Mitarbeiter von IOM im Camp tätig sind. „Vor zwei Wochen gab es eine Auseinandersetzung im Camp: Es wurde mit Steinen geworfen und Chaos ist ausgebrochen. Die Security-Mitarbeiter konnten die Situation nur schwer wieder unter Kontrolle bringen“, teilt uns Mohammed (Name geändert) mit, ein Flüchtling aus dem Iran, der bereits seit sechs Monaten im Camp Bihać festsitzt.
Im Gegensatz zur Aussage eines IOM-Mitarbeiters, Hygiene sei im Camp eine der obersten Prioritäten, sieht man auf den ersten Blick, dass dies nicht der Fall ist. Ein großes Problem bildet schon die Unterkunft selbst: Die Wände der Fabrikhalle sind undicht und dadurch sind viele Bereiche des Camps mit Wasser bedeckt. Die sanitären Anlagen sind in einem katastrophalen Zustand, die Schlafgelegenheiten sind verdreckt und durch den Mangel an Reinigungspersonal findet man im gesamten Camp Müll auf dem Boden. Kaltes Duschen und dürftige Lebensmittelversorgung stehen auf der Tagesordnung der Geflüchteten. „Unser Abendessen besteht aus einem Joghurt und einem Stück Käse,“ berichtet uns Mohammed. Auch das Frühstück und Mittagessen von den Geflüchteten deckt nicht die Kalorienzufuhr eines durchschnittlichen Menschen ab. Eine finanzielle Unterstützung in Form von Taschengeld gibt es hier nicht. Eine permanente psychologische Betreuung wird hier nicht geboten: Nur zweimal pro Woche haben die Flüchtlinge die Möglichkeit auf eine medizinische Versorgung. „Bekommen Kinder hier eine Möglichkeit in den Kindergarten zu gehen?“ – Die IOM-Mitarbeiterin zeigt uns den einzigen Container im Camp, der als Kindergarten gedacht ist. Dieser hat eine Platzkapazität von rund sechs Personen. Die rund 200 Kinder konnten erst seit Jänner 2019 einen regulären Schulunterricht besuchen. Der Unterricht für die Flüchtlingskinder wurde in einem Projekt von der internationalen Hilfsorganisation „UNICEF“ ermöglicht. Im Camp findet man keine Unterhaltungsmöglichkeiten für die Kinder.
The Game – Das Spiel um eine Zukunft
Es ist bereits der sechzehnte Versuch von Muhammad, über die kroatische Grenze zu kommen. Unter den Geflüchteten wird der Weg von Bosnien nach Europa „The Game“ genannt. Über die Berge und durch die Wälder geht es mit tagelangen Fußmärschen in Gruppen von bis zu 30 Personen zum Ziel. Der Winter erschwert den harten Weg in eine Zukunft: Mit Jeanshose und Turnschuhen durch 1 ½ Meter hohen Schnee haben die Geflüchteten einen bis zu 10 Tage Marsch vor sich. Die größte Hürde auf der Flucht ist die kroatische Grenzpolizei: Einmal erwischt, werden Handys zerstört, Geld und Papiere abgenommen. „Als ich erwischt wurde haben mich die kroatischen Grenzpolizisten Kopfüber gehalten und geschlagen. Meine Papiere wurden mir weggenommen und meine Sim-Karte beschädigt,“ erzählt uns Muhammad von seinem gescheiterten Game. Misshandlung und Gewalt ist hier ein gängiges Mittel und dient als Abschreckung. Viele Fluchtversuche scheitern aufgrund der Illegalen Push-Back Aktionen seitens der kroatischen Grenzpolizei. Aufgegriffene Flüchtlinge werden wieder nach Bosnien zurückgeführt. Dieses Vorgehen stellt eine Verletzung des europäischen und internationalen Rechts dar und ist der Europäischen Union nicht unbekannt. „Meine Flucht nach Europa war meine einzige Chance auf eine Zukunft. In meinem Heimatland wurde ich verfolgt und meine gesamte Familie wurde umgebracht. Als ich in Bosnien ankam realisierte ich, dass ich hier noch immer mit Gewalt und Zurückweisung kämpfen muss. Hier wird man wie ein Tier behandelt,“ erzählt Muhammad.
Muhammads Geschichte spiegelt das Schicksal der vielen Flüchtlinge wider. Die EU sieht es nicht als ihre Verpflichtung, den Menschen in Not zu helfen. Hier zeigt sie die EU ihr wahres Gesicht am deutlichsten: , dass ihre Ziele pro-kapitalistisch sind, dass sie ein ‚Club der Bosse‘ Europas ist. Solange indes die Außengrenzen weiterhin geschlossen bleiben, müssen tausende Geflüchtete weiterhin in unmenschlichen Bedingungen leben.
Tabea und Petra machen gemeinsam Fotodokumentationen in Konfliktländern. Ihre Fotos findet ihr auf instagram.com/kairoskk.