Im Mai 1919 trafen sich Lenin und Kropotkin im Kreml. Während Lenin Kropotkin vor allem für sein Buch „Die Große Französische Revolution“ bewunderte, zeigt sich in den Konversationen zwischen den beiden Männern, dass der anarchistische Anführer vor allem an dieser oder jener Genossenschaft bzw. Kooperative interessiert war und den Blick fürs Ganze, für die Revolution verloren hatte. Eine Debatte, die heute gerade in Venezuela von großer Aktualität ist. (Aus den Erinnerungen des Bolschewiken Wladimir Bontsch-Brujewitsch.)
Nach der Februarrevolution, am 12. Juni 1917, kehrte P.A. Kropotkin aus England zurück nach Hause. Fortan wollte er in St. Petersburg, Russland, leben. Bald allerdings änderte er seine Meinung und zog nach Moskau.
Eines Tages – es war im Jahre 1918 – tauchte eine Verwandte von Pjotr Alexejewitsch Kropotkin – seine Tochter gemeinsam mit ihrem Ehemann, wenn ich mich recht erinnere – in meinem Büro des Sowjets der Volkskommissare (Sovnarkom) auf. Sie erzählte mir von seinen Problemen, eine Wohnung zu finden. Es war klar, dass es sich dabei um ein großes Missverständnis handelte, da Pjotr Alexejewitsch als Veteran der Revolution auch während dieser stürmischen revolutionären Periode das Recht auf eine Wohnung hatte. So kam ich erneut in Kontakt mit P.A. Kropotkin, den ich bereits aus meiner Vergangenheit kannte. Ich meldete mich bei Wladimir Iljitsch, der mir sofort auftrug, für Pjotr Alexejewitsch eine Wohnerlaubnis auszustellen, was ich gleich erledigte. Um zu sehen, wie es ihm geht, stattete ich ihm kurz darauf einen Besuch ab. Diese Begegnung war außerordentlich heiter und herzlich. Pjotr Alexejewitsch lebte sehr bescheiden; in seinem Zimmer befanden sich viele Bücher und alles was man sehen konnte deutete darauf hin, dass er sehr mit der literarischen Arbeit beschäftigt war.
Gleich bei unserem ersten Wiedersehen erwähnte er seine Einstellung zur Oktoberrevolution. Die bolschewistische Revolution hatte ihn in einem fortgeschrittenen Alter überrascht. Seiner Meinung nach konnten nur Leute unter vierzig aktiv an einer Revolution teilhaben. Auf meinen Einwand, dass all jene Bolschewiki, die im Untergrund arbeiteten, dieses Alter bereits überschritten haben, meinte er: „Das ist in Russland tatsächlich der Fall. Hier gibt es wirklich außergewöhnliche RevolutionärInnen, die schon fünfzig oder älter sind. Was allerdings mein Alter betrifft…. das ist eine andere Geschichte…“ Jedoch an den Ereignissen unseres komplizierten Lebens nahm er von Herzen Anteil und bangte aufrichtig mit uns um das Schicksal der großen, proletarischen Bewegung, als weißgardistische und antisowjetische Feinde Sowjetrussland umzingelt hatten. Einmal erzählte er mir:
„Bei der gesamten Tätigkeit aller revolutionären politischen Parteien der Gegenwart sollte man daran denken, dass die mit einer Revolution beendete Oktoberbewegung des Proletariats allen bewiesen hat, dass eine soziale Revolution möglich ist. Diese weltbedeutende Errungenschaft muss man nach allen Kräften verteidigen und auf vieles andere verzichten. Die Partei der Bolschewiki hat richtig gehandelt, als sie den alten, wahrhaft proletarischen Namen annahm: Kommunistische Partei. Auch wenn sie nicht alles erreicht, was sie möchte, wird sie doch den zivilisierten Ländern zumindest für ein Jahrhundert den Weg erhellen. Ihre Ideen werden allmählich von den Völkern übernommen werden, genauso wie die Welt seinerzeit die Ideen der Großen Französischen Revolution des 19. Jahrhunderts übernahm. Darin liegt das kolossale Verdienst der Oktoberrevolution.“
Ich sollte auch noch erwähnen, dass im Sommer 1920 Pjotr Alexejewitsch – wie Lebedov schreibt – von einer Delegation englischer ArbeiterInnen besucht wurde.
Kropotkin übergab der Delegation einen langen Brief, der an die „ArbeiterInnen Westeuropas“ adressiert war. In diesem Brief schrieb er: “Die Werktätigen der Länder Europas und ihre Freunde aus den anderen Klassen müssen vor allem ihre Regierungen zwingen, den Gedanken einer bewaffneten Einmischung in Russlands Angelegenheiten aufzugeben, und zwar sowohl den einer offenen als auch den einer verschleierten Einmischung in Form militärischer Hilfe oder finanzieller Unterstützung für verschiedene Mächte. Sie sollten ihre Beziehungen zu Russland wieder aufnehmen.”
Als bekennender Anarchist anerkannte Pjotr Alexejewitsch natürlich nicht die Regierung unseres sowjetischen Staates. Er lehnte alle Parteien und Staaten komplett ab. Wenn man mit ihm allerdings nicht über Theorie sondern über Praxis sprach, verstand er sehr wohl, dass es ohne Staatsmacht unmöglich sei, die Errungenschaften der Revolution zu festigen. Im Rahmen unseres ersten Zusammentreffens erzählte er mir folgendes:
„Wladimir Iljitsch soll ein großartiges Buch über den Staat geschrieben haben. Ich habe es noch nicht gesehen und auch nicht gelesen. Er soll darin die Prognose gesellt haben, dass der Staat und die staatliche Gewalt letzten Endes absterben werden. Allein schon durch diese kühne Entdeckung in der Lehre von Marx verdient Wladimir Iljitschgrößten Respekt und Aufmerksamkeit. Das Weltproletariat wird das nie vergessen. Ich betrachte die Oktoberrevolution als Versuch, die Februarrevolution zu ihrem logischen Abschluss zu bringen und zum Kommunismus und Föderalismus überzugehen.“
Im Moskau von 1918 war das Leben hart. Pjotr Alexejewitsch nahm das Angebot seines Freundes Olsufiev an, in dessen Haus in der Stadt Dmitrow zu wohnen. Im Frühjahr 1918 zog Pjotr Alexejewitsch mit seiner Familie nach Dmitrow und zog zu Olsufiev, der ein großes Haus mit vier Zimmern hatte. Von Dmitrow aus fuhr er öfters nach Moskau, wo wir uns jedes Mal getroffen haben. Auch schrieb er mir und Wladimir Iljitsch Briefe zu den unterschiedlichsten Themen. Obwohl er immer mit seiner Gesundheit kämpfte, versuchte Pjotr Alexejewitsch immer noch am öffentlichen Leben teilzuhaben. Er sprach am LehrerInnenkongress, nahm am Kongress der Bauerngenossenschaften teil und war ein glühender Unterstützer des Aufbaus eines lokalen Museums. Ich informierte Wladimir Iljitsch regelmäßig über Kropotkins Lebensbedingungen und auch meine Gespräche mit ihm. Wladimir Iljitsch hatte großen Respekt vor Pjotr Alexejewitsch. Er schätzte ihn vor allem als Autor des Buches über die Französische Revolution und sprach oft ausführlich über die Qualitäten dieses bemerkenswerten Werkes. Er wies mir gegenüber darauf hin, dass Kropotkin der erste war, der die Französische Revolution mit den Augen eines Forschers analysierte und seine Aufmerksamkeit vor allem auf die plebejischen Massen richtete – und dass er ständig die Rolle und Bedeutung der HandwerkerInnen, ArbeiterInnen und anderer VertreterInnen der arbeitenden Bevölkerung während der Französischen Revolution unterstrich. Diese Arbeit Kropotkins war für ihn ein klassisches Werk, das er gerne zum Lesen empfahl und es im großen Rahmen verteilte. Er sagte dass es unbedingt notwendig sei, das Buch neu zu veröffentlichen, es groß in Umlauf zu bringen und es allen Bibliotheken unseres Landes kostenlos zukommen zu lassen. Während all unserer Unterredungen äußerte Wladimir Iljitsch den Wunsch, Pjotr Alexejewitsch zu treffen und mit ihm zu sprechen. Ende April 1919 schrieb ich ihm einen Brief, dessen Original im Kropotkin-Museum in Moskau aufbewahrt wird:
„Lieber Pjotr Alexejewitsch! Von Miller hab ich erfahren, dass Sie nach Moskau kommen wollen. Wäre das schön! Wl[adimir] Il[jitsch] lässt Ihnen Grüße ausrichten. Er sagt, er würde sich auch sehr freuen, Sie wiederzusehen. Wenn Sie sich auf den Weg nach Moskau machen, telegrafieren Sie bitte vorher, damit wir wissen, wann Sie ankommen. Ich möchte mich auch gerne mit Ihnen treffen. Wlad. Bontsch-Brujewitsch.“
Als Pjotr Alexejewitsch kurz darauf nach Moskau kam, meldete er sich gleich bei mir. Als ich ihn besuchte sagte er mir, dass er meinen Brief erhalten hätte und an einem Treffen mit Wladimir Iljitsch sehr interessiert wäre. „Ich habe viel mit ihm zu besprechen“, fügte er hinzu. Wir beschlossen, dass ich ihn telefonisch über den Tag und die Zeit des Treffens informieren würde; ich hatte vor, das Treffen in meiner Wohnung im Kreml stattfinden zu lassen.
Dieses Gespräch fand im Jahr 1919 statt – es muss der 8., 9. oder 10. Mai gewesen sein. Wladimir Iljitsch hatte beschlossen, das Treffen nach seinem Arbeitstag im Sovnarkom stattfinden sollte und er um 17 Uhr bei mir sein würde. Ich sagte Pjotr Alexejewitsch telefonisch bescheid und schickte ihm ein Auto vorbei. Wladimir Iljitsch war noch vor Pjotr Alexejewitsch hier. Wir sprachen über die Arbeit von RevolutionärInnen früherer Epochen. Wladimir Iljitsch meinte, dass wir ohne Zweifel auch einmal die Arbeiten russischer RevolutionärInnen, die im Ausland lebten, veröffentlichen werden würden. Er blätterte abwechselnd durch die Bücher Kropotkins und Bakunins, die seit 1905 in meinem Besitz waren, und flog sie kurz durch. In diesem Moment kam Kropotkin. Ich ging auf ihn zu. Langsam kletterte er die relativ steilen Stufen hoch. Wladimir Iljitsch ging ihm mit einem breiten Lächeln am Gang entgegen und nahm ihn sehr freundlich und vorsichtig am Arm und führte ihn äußerst zuvorkommend und höflich ins Zimmer, ließ ihn in einem Sessel Platz nehmen und setzte sich ihm gegenüber.
Pjotr Alexejewitsch strahlte förmlich und sagte gleich:
„Wie ich mich freue, Sie zu sehen, Wladimir Iljitsch! Wir haben beide unterschiedliche Standpunkte. In einer ganzen Reihe von Fragen treten wir für verschiedene Aktionsweisen und Organisationsformen ein, jedoch unsere Ziele sind die gleichen. Das, was Sie und ihre Genossen im Namen des Kommunismus tun, erfreut mein alterndes Herz und ist mir lieb. Aber Sie engen das Genossenschaftswesen ein, während ich für die Genossenschaft bin!“
„Wir sind auch dafür!“ rief Wladimir Iljitsch aus. „Jedoch wenden wir uns gegen Genossenschaften, in denen Kulaken, Gutsbesitzer, Kaufleute und überhaupt das Privatkapital untertauchen. Wir wollen den Pseudogenossenschaften die Maske vom Gesicht reißen und den breiten Bevölkerungsmassen die Möglichkeit geben, echten Genossenschaften beizutreten.“
„Dagegen kann ich nichts einwenden“, entgegnete Kropotkin, „und natürlich muss dort, wo das vorkommt, mit allen Kräften dagegen angekämpft werden, wie überhaupt gegen jede Lüge und Mystifikation. Wir brauchen keine Tarnungmanöver. Wir müssen alle Lügen erbarmungslos entlarven. In Dmitrow musste ich allerdings beobachten, dass nicht selten Genossenschaftler verfolgt werden, die überhaupt nichts mit jenen Menschen gemein haben, von denen Sie sprechen. Man verfolgt sie, weil sich die dortigen Behörden, in den Leute arbeiten, die vielleicht gestern noch Revolutionäre waren, wie alle anderen Behörden völlig bürokratisiert haben. Sie springen mit ihren Untergebenen nach Belieben um und glauben, die gesamte Bevölkerung sei ihnen untertan.“
„Gegen Bürokratie sind wir immer und überall“, erwiderte Wladimir Iljitsch. „Wir sind gegen Bürokraten wie gegen Bürokratismus! Diesen alten Plunder müssen wir mit allen Wurzeln ausreißen, wenn er sich in unserer neuen Ordnung breit macht. Aber Sie wissen doch ganz genau, Pjotr Alexejewitsch, dass es sehr schwer ist, die Menschen umzumodeln, und dass der menschliche Schädel die unzugänglichste Festung ist, wie Marx einmal gesagt hat. Wir treffen alle möglichen Maßnahmen, um in diesem Kampf voranzukommen, und auch das Leben zwingt natürlich dazu, noch vieles dazuzulernen. Unsere Kulturlosigkeit, Unwissenheit und Rückständigkeit machen sich selbstverständlich überall bemerkbar, aber niemand kann doch uns als Partei und Staatsmacht ankreiden, was in den Apparaten dieser Staatsmacht falsch gemacht wird, noch dazu im Landesinneren, weit entfernt vom Zentrum.“
„Bloß ist das für diejenigen auch kein Trost, die unter dieser rückständigen Staatsmacht leben müssen“, entgegnete Kropotkin, „denn Macht ist ja an sich schon für jeden, der sie übernimmt, ein furchtbares Gift.“
„Was soll man da machen“, erwiderte Wladimir Iljitsch. „Eine Revolution kann man nicht in Glacéhandschuhen machen. Wir wissen genau, dass wir so manchen Fehler begangen haben und noch begehen werden. Alles, was wir korrigieren können, bringen wir wieder in Ordnung und geben unsere Fehler zu, oft zu unserem eigenen Schaden. Aber trotz aller Mängel führen wir unsere sozialistische Revolution zum siegreichen Ende. Sie können uns dabei helfen. Teilen Sie uns alle Missstände mit, die Sie bemerken. Sie können überzeugt sein, jeder von uns wird mit größter Aufmerksamkeit darauf reagieren.“
„Weder ich noch jemand anders“, erwiderte Kropotkin, „wird es ablehnen, Ihnen und Ihren Genossen zu helfen, wo wir nur können. Wir werden Ihnen die Missstände melden, die es noch gibt und über die an vielen Stellen gestöhnt wird.“
„Es wird nicht gestöhnt, sondern geheult. Und zwar heulen die Konterrevolutionäre, die Widerstand leisten. Gegen die sind wir bisher rücksichtslos vorgegangen und werden das auch weiterhin tun.“
„Da sagen Sie, ohne staatliche Gewalt geht’s nicht“, begann Pjotr Alexejewitsch wieder zu theoretisieren. „Ich aber behaupte, es geht. Beobachten Sie nur einmal, wie das gewaltlose Prinzip aufblüht. In England zum Beispiel – ich habe gerade Informationen von dort bekommen – haben die Docker in einem Hafen eine großartige, völlig freie Genossenschaft gebildet, der sich immer mehr Arbeiter aus allen möglichen anderen Produktionsbereichen anschließen. Die Genossenschaftsbewegung ist gewaltig und ihrem Wesen nach im höchsten Grade wichtig.“
Ich sah auf Wladimir Iljitsch. Sein Blick enthielt ein Element der Ironie und des Vergnügens: Er hörte Pjotr Alexejewitsch aufmerksam zu und war deutlich überrascht darüber, dass jemand nach den enormen Fortschritten der Oktoberrevolution immer noch ausschließlich über Genossenschaften und noch mehr Genossenschaften kann. Pjotr Alexejewitsch plauderte und plauderte, erzählte uns wie an irgendeinem anderen Ort in England eine weitere Genossenschaft aufgebaut wurde, und wie irgendwo anders in Spanien eine andere kleine (Genossenschafts-)Vereinigung entstanden ist und wie sich die syndikalistische Bewegung in Frankreich entwickeln würde. Lenin konnte sich nicht länger zurückhalten und unterbrach ihn: „Es ist sehr gefährlich, der politischen Seite des Lebens keine Aufmerksamkeit zu widmen und die ArbeiterInnenklasse vom direkten Kampf abzuhalten.“
„Aber die Gewerkschaftsbewegung vereint Millionen. Sie ist an sich schon ein bedeutender Faktor”, widersprach Pjotr Alexejewitsch erregt. „Zusammen mit der Genossenschaftsbewegung ist sie ein riesiger Schritt nach vorn.“
„Das ist ja alles gut und schön“, unterbrach ihn Wladimir Iljitsch. „Natürlich ist die Genossenschaftsbewegung wichtig, jedoch als syndikalistische Bewegung allein bringt sie Schaden. Ist sie denn die Hauptsache? Kann sie allein denn zu Neuem führen? Denken Sie wirklich, die kapitalistische Welt gibt der Genossenschaftsbewegung den Weg frei? Sie wird mit allen Mitteln bemüht sein, sie selber in die Hände zu nehmen. Diese ‚gewaltlose’ Genossenschaftsgruppe der englischen Arbeiter wird in erbarmungslosester Weise niedergehalten und in den Dienst des Kapitals gestellt werden. Man wird sie in Abhängigkeit halten durch tausend Fäden, mit denen das Kapital diese neue, im Entstehen begriffene Richtung, die Ihnen in der Genossenschaftsbewegung so sympathisch ist, wie mit einem Spinnennetz umgarnen wird. Verzeihen Sie bitte, aber das ist doch ohne Bedeutung! Das sind belanglose Kleinigkeiten! Notwendig sind Massenaktionen. Solange es die nicht gibt, kann man weder von Föderalismus, von Kommunismus, noch von sozialer Revolution reden. Das sind Kinderspielzeuge, das ist Geschwätz ohne realen Boden, ohne Mittel und Kräfte, und es bringt uns unseren sozialistischen Zielen kaum näher.“
Wladimir Iljitsch stand auf und sprach das mit einer klaren und lebendigen Stimme. Pjotr Alexejewitsch hatte sich zurückgelehnt und lauschte aufmerksam Wladimir Iljitschs flammenden Worten und sprach daraufhin nicht mehr über Genossenschaften.
„Natürlich haben Sie recht“, sagte er. „Ohne Kampf, ohne erbitterten Kampf, geht’s in keinem Lande.“
„Aber er muss von den Massen geführt werden“, rief Wladimir Iljitsch aus. „Kampf und Attentate von Einzelpersonen brauchen wir nicht. Es ist längst an der Zeit, dass die Anarchisten das begreifen. Es geht nur über die Massen und mit den Massen. Alle anderen Methoden, auch die anarchistischen, hat die Geschichte längst beiseite gelegt. Niemand braucht sie, und sie zersetzen nur diejenigen, die sich so oder anders auf diesen alten, längst überwundenen Weg locken lassen.“
Plötzlich wurde Wladimir Iljitschstill, lächelte sehr verbindlich und sagte: „Ich bitte Sie um Verzeihung, Ich lasse mich selbst zu sehr gehen und langweile Sie. Aber so sind wir Bolschewiki nun einmal. Das ist unsere Frage, unser Steckenpferd. Das liegt uns so sehr am Herzen, dass wir nicht ruhig darüber reden können.“
„Nein, nein“, erwiderte Kropotkin, „wenn Sie und Ihre Genossen alle so denken, sich nicht berauschen lassen von der Macht und sich abgesichert fühlen gegenüber der Versklavung durch die Staatsgewalt, werden Sie viel erreichen. Dann liegt die Revolution wirklich in zuverlässigen Händen.“
„Wir werden uns bemühen“, entgegnete Wladimir Iljitsch gutmütig. „Wir brauchen aufgeklärte Massen“, fuhr er fort, „und ich möchte, dass beispielsweise Ihr Buch ‚Die Große Französische Revolution’ in möglichst vielen Exemplaren herauskommt. Es bringt doch allen Nutzen!“
Pjotr Alexejewitsch nickte zustimmend. „Na ja“, sagte er, sichtlich erfreut über Lenins Billigung und Vorschlag, “wenn Sie das Büchlein interessant finden, bin ich bereit, es in einer billigen Ausgabe herauszubringen. Vielleicht findet sich ein Genossenschaftsverlag, der es veröffentlichen möchte.”
„Der findet sich”, bestätigte Wladimir Iljitsch.” Davon bin ich überzeugt.”
So ging das Gespräch zwischen Pjotr Alexejewitsch und Wladimir Iljitsch zu Ende. Wladimir Iljitsch schaute auf seine Uhr, stand auf und sagte, dass er sich auf ein Treffen des Sovnarkom vorbereiten müsse. Er verabschiedete sich überaus herzlich von Pjotr Alexejewitsch und meinte, dass er sehr erfreut darüber wäre, Briefe von ihm zu erhalten. Auch Pjotr Alexejewitsch verabschiedete sich und ging nach draußen. Wir zeigten ihm gemeinsam die Türe.
„Alt ist er geworden“, sagte Wladimir Iljitsch hinterher zu mir. „Da lebt er nun in einem Land, in dem die Revolution brodelt, wo von einem Ende bis zum anderen alles in Entwicklung ist, ihm aber fällt nichts anderes ein, als von Genossenschaften zu reden. So erbärmlich sie die Ideen der Anarchisten und aller anderen kleinbürgerlichen Reformierer und Theoretiker, die dann, wenn die Massen auf den Plan treten und die Revolution ausbricht, nie mit richtigen Plänen oder Anweisungen aufwarten können, was getan werden muss und wie vorzugehen ist. Würde man nur für eine Minute auf ihn hören, so hätten wir morgen schon wieder die Selbstherrschaft, und wir alle, auch er, würden an Laternenpfählen baumeln. Er allein schon deshalb, weil er sich Anarchist nennt. Aber wie er früher geschrieben hat! Was für herrliche Bücher! Wie frisch und jung er da gefühlt und gedacht hat. Und das alles gehört nun der Vergangenheit an, nichts ist davon noch da. Natürlich, er ist sehr alt. Wir müssen uns um ihn kümmern, müssen ihm helfen, so gut wir können. Besonders taktvoll und vorsichtig müssen wir das tun. Immerhin ist er uns wertvoll und teuer wegen seiner großartigen Vergangenheit und wegen der Arbeit, die er geleistet hat. Lassen Sie ihn bitte nicht im Stich, kümmern Sie sich um ihn und seine Familie. Sagen Sie mir immer gleich, wenn er etwas braucht. Dann besprechen wir das und helfen ihm.“
Während wir unser Gespräch über Pjotr Alexejewitsch und die Leute seiner Generation fortsetzten, ging Wladimir Iljitsch über den Kreml in Richtung des Sovnarkom-Gebäudes, wo in einer viertel Stunde die nächste Sitzung der Regierung stattfinden sollte.
Quelle: Wladimir Bontsch-Brijewitsch, Auf Kampfposten in der Revolution. Erinnerungen und Schriften.