Im fünften und letzten Teil der Serie erklärt Alan Woods die Bedeutung der Russischen Revolution als ersten Versuch der Menschheit, sich von der Klassengesellschaft zu befreien. Von Alan Woods.
Die Russische Revolution
Für MarxistInnen war die bolschewistische Revolution das größte Einzelereignis in der menschlichen Geschichte. Unter der Führung der bolschewistischen Partei von Lenin und Trotzki gelang es der Arbeiterklasse, ihre Unterdrücker zu stürzen und mit der Aufgabe der sozialistischen Transformation der Gesellschaft zumindest zu beginnen. Die Revolution fand jedoch nicht in einem entwickelten kapitalistischen Land statt, wie Marx erwartet hatte, sondern auf der Grundlage einer furchtbaren Rückständigkeit. Um eine ungefähre Vorstellung davon zu geben, vor welchen Bedingungen die Bolschewiki standen, ein Beispiel: In nur einem Jahr, 1920, verhungerten sechs Millionen Menschen in Sowjetrussland.
Marx und Engels erklärten vor langer Zeit, dass der Sozialismus – eine klassenlose Gesellschaft – für seine Existenz die richtigen materiellen Bedingungen benötigt. Der Ausgangspunkt für den Sozialismus müssen höher entwickelte Produktivkräfte sein als die in der am höchsten entwickelten kapitalistischen Gesellschaft (z. B. den USA). Nur auf der Basis einer hoch entwickelten Industrie, Landwirtschaft, Wissenschaft und Technologie ist es möglich, die Bedingungen für die freie Entwicklung der Menschen zu garantieren, angefangen bei einer drastischen Verkürzung des Arbeitstages. Die Vorbedingung dafür ist die Beteiligung der Arbeiterklasse an der demokratischen Kontrolle und der Verwaltung der Gesellschaft.
Engels erklärte, dass in einer Gesellschaft, in der eine Minderheit das Monopol für Kunst, Wissenschaft und Regierung besitzt, diese Position für ihre eigenen Interessen nutzen und missbrauchen wird. Lenin sah sehr schnell die Gefahren der bürokratischen Degeneration der Revolution unter den Bedingungen einer allgemeinen Rückständigkeit. In seinem Werk „Staat und Revolution“, das er 1917 schrieb, arbeitete er ein Programm auf der Grundlage der Erfahrungen der Pariser Kommune aus. Hier erklärt er die Grundbedingungen, nicht für den Sozialismus oder den Kommunismus, sondern für die erste Zeit nach der Revolution, der Übergangsperiode zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Diese sind:
- Freie und demokratische Wahlen aller Funktionäre, mit jederzeitiger Abwählbarkeit.
- Kein Funktionär darf mehr verdienen als den Durchschnittslohn eines Facharbeiters.
- Kein stehendes Heer, sondern ein bewaffnetes Volk.
- Nach und nach sollen die Verwaltungsaufgaben des Staates abwechselnd von jedem übernommen werden können (wenn jeder ein „Bürokrat“ ist, ist keiner ein Bürokrat).
Das ist ein fertiges Programm für die Arbeiterdemokratie. Es ist direkt gegen die Gefahr des Bürokratismus gerichtet. Es schuf die Grundlage für das Parteiprogramm der Bolschewiki von 1919. Mit anderen Worten, im Gegensatz zu den Verleumdungen der Gegner des Sozialismus war Sowjetrussland zu Zeiten Lenins und Trotzkis die demokratischste Regierungsform in der Geschichte.
Aber die Regierungsform der sowjetischen Arbeiterdemokratie, die mit der Oktoberrevolution geschaffen wurde, überlebte nicht. Spätestens Anfang der 1930er waren die oben genannten Punkte abgeschafft worden. Unter Stalin erlitt der Arbeiterstaat einen bürokratischen Degenerationsprozess, der mit der Schaffung eines monströsen totalitären Systems und der physischen Vernichtung der leninistischen Partei endete. Der entscheidende Faktor für die politische Konterrevolution unter Stalin war die Isolation der Revolution in einem rückständigen Land. Trotzki erklärte in „Die verratene Revolution“, wie diese Konterrevolution vonstattenging. Es ist nicht realisierbar, dass eine Gesellschaft direkt vom Kapitalismus in eine klassenlose Gesellschaft überspringt. Das materielle und kulturelle Erbe der kapitalistischen Gesellschaft ist dafür viel zu unzureichend. Es gibt zu viel Mangel und Ungleichheit, die nicht sofort überwunden werden können. Nach der sozialistischen Revolution muss es eine Übergangsperiode geben, welche den Boden für Überfluss und eine klassenlose Gesellschaft bereitet. Marx nannte diese Stufe der neuen Gesellschaft die „niedere Phase des Kommunismus“ im Gegensatz zur „höheren Phase des Kommunismus“, in dem die letzten Überreste der materiellen Ungleichheit verschwinden würden. In diesem Sinne werden Sozialismus und Kommunismus der „niederen“ und „höheren“ Phase der neuen Gesellschaft gegenübergestellt. Marx beschreibt das niedere Stadium des Kommunismus wie folgt:
„Womit wir es hier zu tun haben, ist eine kommunistische Gesellschaft, nicht wie sie sich auf ihrer eignen Grundlage entwickelt hat, sondern umgekehrt, wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft hervorgeht, also in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig, noch behaftet ist mit den Muttermalen der alten Gesellschaft, aus deren Schoß sie herkommt.“ (Marx: Kritik des Gothaer Programms, MEW Bd. 19, S. 19)
„Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft“, so Marx, „liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andre. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts andres sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats.“ (ebd. S. 28)
Alle großen marxistischen Theoretiker erklären, dass es die Aufgabe der sozialistischen Revolution ist, die Arbeiterklasse an die Macht zu bringen und den kapitalistischen Staatsapparat zu zerschlagen. Dieser war das Repressionsorgan, das bestimmt war, die Arbeiterklasse in Unterwerfung zu halten. Marx erklärte, dass dieser kapitalistische Staat zusammen mit der Staatsbürokratie nicht den Interessen der neuen Macht dienen kann. Er muss abgeschafft werden. Der neue, von der Arbeiterklasse geschaffene Staat würde jedoch anders sein als alle bisherigen Staaten in der Geschichte. Engels beschrieb ihn als Halbstaat, ein Staat, der dazu bestimmt ist, abzusterben.
Für Marx würde diese niedere Stufe des Kommunismus, und das ist ein zentraler Punkt, sich bezüglich seiner ökonomischen Entwicklung auf einem höheren Niveau befinden als der am weitesten und höchsten entwickelte Kapitalismus. Warum ist das so wichtig? Weil ohne die massive Entwicklung der Produktivkräfte Mangel herrschen würde und damit ein Kampf ums Überleben. Wie Marx erklärte, würde in einer solchen Lage die Gefahr der Degeneration bestehen:
„Die Entwicklung der Produktivkräfte … [ist] auch deswegen eine absolut notwendige praktische Voraussetzung [des Kommunismus], weil ohne sie nur der Mangel verallgemeinert, also auch mit der Notdurft der alte Streit um das Notwendige wieder und die ganze alte Scheiße sich herstellen müsste …“ (Marx: Die deutsche Ideologie, MEW Band 3, S. 34/35).
Diese prophetischen Worte von Marx erklären, warum die Russische Revolution, so vielversprechend sie auch begann, in einer bürokratischen Entartung und der monströsen, totalitären Karikatur, dem Stalinismus, endete, der wiederum den Weg für eine kapitalistische Restauration und eine weitere Zurückentwicklung bereitete. „Die ganze alte Scheiße“ wurde wiederhergestellt, weil die Russische Revolution unter den Bedingungen einer schrecklichen materiellen und kulturellen Rückständigkeit isoliert war. Heute wäre das nicht der Fall, weil der enorme Fortschritt in der Wissenschaft und Technik die notwendigen Voraussetzungen geschaffen haben.
Ein beispielloser Fortschritt
Jede Phase der menschlichen Entwicklung hat ihre Wurzeln in allen früheren Entwicklungen. Das trifft sowohl auf die menschliche Evolution als auch auf die gesellschaftliche Entwicklung zu. Wir haben uns aus niedrigeren Arten entwickelt und sind genetisch sogar mit den primitivsten Lebensformen verwandt, wie es das menschliche Genom schlüssig bewiesen hat. Wir sind von unseren nächsten lebenden Verwandten, den Schimpansen, nur durch einen genetischen Unterschied von weniger als zwei Prozent getrennt. Aber dieser kleine Prozentsatz stellt einen enormen qualitativen Sprung dar. Die Menschen sind aus der Wildheit, der Barbarei, der Sklavenhaltergesellschaft und dem Feudalismus hervorgegangen, und jedes dieser Stadien repräsentiert eine bestimmte Stufe in der Entwicklung der Produktivkräfte und der Kultur. Hegel drückte diese Vorstellung in einer sehr schönen Passage in seinem Werk „Die Phänomenologie des Geistes“ aus:
„Die Knospe verschwindet in dem Hervorbrechen der Blüte, und man könnte sagen, daß jene von dieser widerlegt wird, ebenso wird durch die Frucht die Blüte für ein falsches Dasein der Pflanze erklärt, und als ihre Wahrheit tritt jene an die Stelle von dieser. Diese Formen unterscheiden sich nicht nur, sondern verdrängen sich auch als unverträglich miteinander. Aber ihre flüssige Natur macht sie zugleich zu Momenten der organischen Einheit, worin sie sich nicht nur nicht widerstreiten, sondern eins so notwendig als das andere ist, und diese gleiche Notwendigkeit macht erst das Leben des Ganzen aus.“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Band 3, Frankfurt a. M. 1979, S. 11)
Jedes Stadium der Entwicklung der Gesellschaft basiert auf Notwendigkeiten und entsteht aus den vorhergehenden Stadien. Die Geschichte kann nur verstanden werden, wenn man diese Stadien als Einheit betrachtet. Jede einzelne hatte ihre Existenzberechtigung bei der Entwicklung der Produktivkräfte, und jede geriet in einem bestimmten Stadium in Widerspruch zu deren weiteren Entwicklung, als eine Revolution notwendig war, um sich der alten Formen zu entledigen und das Entstehen neuer Formen zu ermöglichen.
Wie wir gesehen haben, wurde der Sieg der Bourgeoisie mit revolutionären Maßnahmen erreicht, obwohl die Verteidiger des Kapitalismus heute nicht mehr gern an diese Tatsache erinnert werden. Wie Marx erklärte, hat die Bourgeoisie historisch eine höchst revolutionäre Rolle gespielt:
„Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. Unveränderte Beibehaltung der alten Produktionsweise war dagegen die erste Existenzbedingung aller früheren industriellen Klassen. Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen.“ (Kommunistisches Manifest, MEW, Bd. 4, S. 465)
Im Kapitalismus haben die Produktivkräfte eine spektakuläre Entwicklung erfahren, die einzigartig in der Geschichte der Menschheit ist – und das, obwohl der Kapitalismus das System mit dem höchsten Grad an Ausbeutung und Unterdrückung ist, das je existiert hat. Obwohl das Kapital „von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend“ in die Geschichte eintrat, wie Marx es formulierte, stellte der Kapitalismus trotzdem einen kolossalen Sprung in der Entwicklung der Produktivkräfte, und damit unserer Macht über die Natur, dar.
In den letzten zweihundert Jahren hat sich die Entwicklung der Technologie und Wissenschaft schneller vollzogen als in der gesamten vorherigen Geschichte. Die Kurve der menschlichen Entwicklung, die im größten Teil unserer Geschichte praktisch stagnierte, erlebte plötzlich einen steilen Anstieg. Der atemberaubende Fortschritt der Technologie ist die Voraussetzung für die endgültige Emanzipation der Menschheit, der Abschaffung von Armut und Analphabetismus, Ignoranz, Krankheiten und die Beherrschung der Natur durch den Menschen durch eine bewusste Planung der Ökonomie. Der Weg für die Eroberung ist offen, nicht nur auf der Erde, sondern auch im Weltall.
Kapitalismus im Niedergang
Es ist die Illusion einer jeden Epoche, dass sie auf ewig bestehen wird. Jedes soziale System glaubt, dass es die einzig mögliche Existenzform für die Menschen darstellt, dass seine Institutionen, seine Religion, seine Moral das letzte gesprochene Wort sind. Das glaubten die Kannibalen, die ägyptischen Priester, Marie Antoinette und Zar Nikolaus inbrünstig. Und auch die Bourgeoisie und ihre Apologeten wollen uns das heute beweisen, wenn sie uns bar jeder Grundlage versichern, dass das so genannte System der „freien Marktwirtschaft“ das einzig mögliche System ist und das gerade jetzt, wo es beginnt, alle Zeichen der Altersschwäche zu zeigen. Das aktuelle kapitalistische System erinnert an den Zauberlehrling, der mächtige Kräfte heraufbeschwor, die er nicht kontrollieren konnte. Der grundlegende Widerspruch der kapitalistischen Gesellschaft ist der Gegensatz zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und der privaten Aneignungsform. Aus diesem Grundwiderspruch entstehen viele andere. Dieser Widerspruch zeigt sich in periodischen Krisen, wie Marx erklärte:
„In den Handelskrisen wird ein großer Teil nicht nur der erzeugten Produkte, sondern der bereits geschaffenen Produktivkräfte regelmäßig vernichtet. In den Krisen bricht eine gesellschaftliche Epidemie aus, welche allen früheren Epochen als ein Widersinn erschienen wäre – die Epidemie der Überproduktion. Die Gesellschaft findet sich plötzlich in einen Zustand momentaner Barbarei zurückversetzt; eine Hungersnot, ein allgemeiner Vernichtungskrieg scheinen ihr alle Lebensmittel abgeschnitten zu haben; die Industrie, der Handel scheinen vernichtet, und warum? Weil sie zuviel Zivilisation, zuviel Lebensmittel, zuviel Industrie, zuviel Handel besitzt. Die Produktivkräfte, die ihr zur Verfügung stehen, dienen nicht mehr zur Beförderung der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse; im Gegenteil, sie sind zu gewaltig für diese Verhältnisse geworden, sie werden von ihnen gehemmt; und sobald sie dies Hemmnis überwinden, bringen sie die ganze bürgerliche Gesellschaft in Unordnung, gefährden sie die Existenz des bürgerlichen Eigentums. Die bürgerlichen Verhältnisse sind zu eng geworden, um den von ihnen erzeugten Reichtum zu fassen. – Wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen? Einerseits durch die erzwungene Vernichtung einer Masse von Produktivkräften; anderseits durch die Eroberung neuer Märkte und die gründlichere Ausbeutung alter Märkte. Wodurch also? Dadurch, daß sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert.“ (Kommunistisches Manifest, MEW, Bd. 4, S. 468)
Dies ist eine genaue Beschreibung der gegenwärtigen Lage. Es ist schrecklich paradox, dass je mehr die Menschheit ihre produktiven Kapazitäten entwickelt, je spektakulärer die Fortschritte in der Wissenschaft und Technologie sind, desto größer werden das Leiden, der Hunger, die Unterdrückung und das Elend für die Mehrheit der Weltbevölkerung. Die Krankheit des Kapitalismus im Weltmaßstab zeigte sich im Zusammenbruch 2008. Das war der Beginn der größten Krise in der gesamten 200-jährigen Existenz des Kapitalismus, und sie ist weit davon entfernt, gelöst zu sein. Sie ist ein Ausdruck für die Sackgasse, in der sich der Kapitalismus befindet, die letztendlich ein Ergebnis des Aufstandes der Produktivkräfte gegen die Zwangsjacke der Privateigentums und des Nationalstaats ist.
Sozialismus oder Barbarei
Über tausende von Jahren hatte die privilegierte Minderheit das Monopol auf die Kultur, während die große Mehrheit der Bevölkerung von Wissen, Wissenschaft, Kunst und Regierung ausgeschlossen war. Das ist auch heute noch der Fall. Trotz aller Ansprüche sind wir nicht wirklich zivilisiert. Die Welt, in der wir leben, verdient diesen Namen jedenfalls nicht. Es ist eine barbarische Welt, die von Menschen bewohnt wird, die ihre barbarische Vergangenheit noch nicht überwunden haben. Das Leben bleibt ein harter und unerbittlicher Überlebenskampf für die große Mehrheit der Menschen auf dem Planeten, nicht nur in den Entwicklungsländern, sondern auch in den entwickelten kapitalistischen Ländern.
Rosa Luxemburg wies darauf hin, dass die Menschheit vor der Alternative “Sozialismus oder Barbarei” steht. Die folgende Frage muss deshalb mit Nachdruck gestellt werden: In der nächsten Zukunft wird entweder die Arbeiterklasse die Führung der Gesellschaft in die Hand nehmen und das heruntergekommene kapitalistische System durch eine neue soziale Ordnung ersetzen, auf Grundlage der harmonischen und rationalen Planung der Produktivkräfte und der bewussten Kontrolle von Menschen über ihr eigenes Leben und Schicksal, oder uns steht die schreckliche Aussicht eines sozialen, ökonomischen und kulturellen Zusammenbruchs bevor.
Die Krise des Kapitalismus verkörpert nicht nur eine Wirtschaftskrise, welche die Arbeitsplätze und den Lebensstandard von Millionen auf der gesamten Welt bedroht. Sie bedroht auch die eigentliche Grundlage einer zivilisierten Existenz, soweit diese existiert. Sie läuft Gefahr, dass die Menschheit auf allen Ebenen zurückgeworfen wird. Falls das Proletariat – die einzige wirklich revolutionäre Klasse – es nicht schafft, die Herrschaft der Banken und Monopole zu stürzen, werden die Voraussetzungen für einen Zusammenbruch der Kultur und sogar eine Rückkehr in die Barbarei geschaffen.
Bewusstsein
Die Dialektik lehrt uns, dass sich Dinge früher oder später in ihr Gegenteil verwandeln. Es ist möglich, Parallelen zwischen der Geologie und der Gesellschaft zu ziehen. Genauso wie tektonische Platten, die sich zu langsam bewegt haben und dies durch ein schweres Erdbeben ausgleichen, so wird das Zurückhinken des Bewusstseins hinter den Ereignissen durch eine plötzliche Veränderung der Psychologie der Massen ausgeglichen. Der augenfälligste Beweis der Dialektik ist die Krise des Kapitalismus selbst. Die Dialektik rächt sich an der Bourgeoisie, die nichts verstanden hat, nichts vorhergesehen hat und nicht in der Lage ist, auch nur ein Problem zu lösen.
Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion verbreitete sich eine pessimistische und verzweifelte Stimmung in der Arbeiterklasse. Die Verteidiger des Kapitalismus starteten eine unbarmherzige Gegenoffensive gegen die Ideen des Sozialismus und Marxismus. Sie versprachen uns eine Zukunft des Friedens, des Wohlstands und der Demokratie, dank der Wunder der freien Marktwirtschaft. Zwei Jahrzehnte sind seitdem vergangen, und ein Jahrzehnt ist keine besonders lange Zeit vor dem Hintergrund der gesamten geschichtlichen Entwicklung. Diese tröstlichen Illusionen sind seitdem sehr gründlich zerstört worden.
Überall gibt es Kriege, Arbeitslosigkeit, Armut und Hunger. Und überall entsteht ein neuer Geist des Aufbegehrens, und die Menschen suchen nach Antworten, die erklären können, was in der Welt geschieht. Der alte, stabile, friedliche und blühende Kapitalismus ist tot und mit ihm die friedlichen und harmonischen Klassenbeziehungen. Die Zukunft heißt: Sparpolitik, Arbeitslosigkeit und sinkender Lebensstandard. Das ist ein fertiges Rezept für eine Wiederbelebung des Klassenkampfs weltweit.
Der Embryo einer neuen Gesellschaft reift schon im Schoß der alten. Die Elemente einer Arbeiterdemokratie bestehen schon in Form von Arbeiterorganisationen, Betriebsräten, den Gewerkschaften, den Genossenschaften usw. In der vor uns liegenden Zukunft wird es einen Kampf auf Leben und Tod geben – einen Kampf der Elemente einer neuen Gesellschaft, die auf die Welt kommt und ein genauso erbitterter Widerstand der alten Ordnung, die verhindern will, dass dies geschieht.
Es stimmt, dass das Bewusstsein der Massen weit hinter den Ereignissen her hinkt. Aber auch das wird sich in das Gegenteil verkehren. Große Ereignisse zwingen Männer und Frauen, ihre alten Überzeugungen und Annahmen in Frage zu stellen. Sie werden aus der alten Trägheit und apathischen Gleichgültigkeit gerüttelt und werden gezwungen, der Realität ins Auge zu blicken. Wir können das schon in groben Zügen in Griechenland sehen. In solchen Zeiten kann sich das Bewusstsein sehr schnell verändern. Und das ist genau das, was eine Revolution ausmacht.
Der Aufstieg des modernen Kapitalismus und seines Totengräbers, der Arbeiterklasse, hat viel deutlicher gemacht, was der Kern der materialistischen Geschichtsauffassung ist. Nicht nur das Verstehen des historischen Kampfes zwischen den Klassen ist unsere Aufgabe, sondern ihn durch den Sieg des Proletariats und der sozialistischen Umwandlung der Gesellschaft zu einem Abschluss zu bringen. Der Kapitalismus hat es nicht geschafft, die Geschichte zu „beenden“. Es ist die Aufgabe der MarxistInnen, aktiv zu arbeiten, um den Sturz des alten, gebrechlichen Systems zu beschleunigen und bei der Geburt einer neuen und besseren Welt behilflich zu sein.
Von der Notwendigkeit zur Freiheit
Die wissenschaftliche Herangehensweise an die Geschichte, die uns der historische Materialismus ermöglicht, bringt uns nicht dazu, pessimistische Schlussfolgerungen aus dem allseits deutlich werdenden Niedergang zu ziehen. Im Gegenteil, die allgemeine Entwicklungstendenz der menschlichen Geschichte vollzieht sich in Richtung einer weiteren Entfaltung unseres Potentials im Bereich der Produktion und Kultur.
Der Zusammenhang zwischen der Entwicklung der menschlichen Kultur und den Produktivkräften war schon dem großen antiken Genie Aristoteles bewusst. In seinem Buch ‘Die Metaphysik’ erklärte er, dass der Mensch mit dem Philosophieren beginnt, wenn die Mittel zum Leben vorhanden sind und ergänzte, dass der Grund für die Entdeckung der Astronomie und der Mathematik darin lag, dass in Ägypten die Priesterkaste nicht arbeiten musste. Das ist ein vollkommen materialistisches Geschichtsverständnis.
Die großen Errungenschaften der letzten hundert Jahre haben zum ersten Mal eine Situation geschaffen, in der alle Probleme der Menschheit leicht gelöst werden könnten. Weltweit gesehen bestehen die Möglichkeiten für eine klassenlose Gesellschaft bereits. Es ist notwendig, die Produktivkräfte auf eine rationale und harmonische Weise zu planen, damit dieses immense, praktisch unbegrenzte Potential realisiert werden kann. Sobald die Produktivkräfte aus der Zwangsjacke des Kapitalismus befreit worden sind, wird es möglich, dass reihenweise Genies zum Vorschein kommen: KünstlerInnen, SchriftstellerInnen, KomponistInnen, PhilosophInnen, WissenschaftlerInnen und ArchitektInnen. Kunst, Wissenschaft und Kultur würden eine nie dagewesene Blüte erleben. Diese reiche, großartige und wunderbar vielseitige Welt würde endlich zu einem Ort werden, der für das Leben der Menschen geeignet ist.
Die sozialistische Gesellschaft ist auf eine Weise eine Wiederkehr des Urkommunismus, aber auf einem weitaus höheren Level der Produktivität. Bevor eine klassenlose Gesellschaft in Angriff genommen werden kann, müssen alle Merkmale der Klassengesellschaft, besonders die Ungleichheit und der Mangel, beseitigt sein. Es wäre absurd, über die Abschaffung der Klassen zu sprechen, solange Ungleichheit, Mangel und ein Kampf ums Überleben vorherrschen – das wäre ein Widerspruch in sich. Der Sozialismus kann erst ab einem bestimmten Entwicklungsstadium der menschlichen Gesellschaft verwirklicht werden, wenn die Produktivkräfte das notwendige Level erreicht haben.
Auf Grundlage einer echten Revolution in der Produktionsweise wäre es möglich, Überfluss in dem Maße zu erschaffen, dass Menschen sich nicht länger über das tägliche Überleben sorgen müssten. Die erniedrigenden Sorgen und Ängste, welche das Leben der Menschen heute prägen, werden verschwinden. Zum ersten Mal werden freie Menschen ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen. Erstmals werden sie wirklich menschlich leben können. Dann erst wird die Menschheitsgeschichte ihren wirklichen Anfang nehmen.
Auf Grundlage einer harmonisch geplanten Wirtschaft, in der die enorme Produktivkraft von Wissenschaft und Technologie für die Bedürfnisse der Menschen, nicht für die Profite einiger weniger, nutzbar gemacht werden, wird die Kultur neue und ungeahnte Höhen erreichen. Die Römer beschrieben die Sklaven als „Werkzeuge ohne Stimmen“. Heute müssten wir Menschen nicht mehr versklaven, damit sie arbeiten. Wir haben schon jetzt die Technologie, um Roboter herzustellen, die nicht nur Schach spielen und einfache Aufgaben am Fließband verrichten können, sondern Fahrzeuge sicherer fahren als Menschen oder sogar kompliziertere Aufgaben ausführen. Diese Technologie droht im Kapitalismus Millionen von ArbeiterInnen in die Arbeitslosigkeit zu stürzen. Das trifft nicht nur auf LKW-FahrerInnen und ungelernte ArbeiterInnen zu, sondern auch Menschen wie BuchhalterInnen oder ProgrammiererInnen, die Gefahr laufen, ihren Lebensunterhalt zu verlieren. Millionen werden zur Untätigkeit verdammt, während diejenigen, die ihren Arbeitsplatz behalten, länger arbeiten müssen als zuvor.
In einer sozialistischen Planwirtschaft würde die gleiche Technologie dafür genutzt werden, um die Arbeitszeit zu verkürzen. Wir könnten sofort eine 30-Stunden-Woche einführen, diese dann auf 20 Stunden, zehn Stunden und noch weniger verkürzen, während die Produktion steigt und der Wohlstand der Gesellschaft viel stärker ausgebaut wird, als es im Kapitalismus vorstellbar ist. Das wäre eine grundlegende Veränderung des menschlichen Lebens. Zum ersten Mal würden Menschen von der mühsamen Plackerei befreit werden. Sie wären frei, um sich selbst körperlich, psychisch, und man könnte noch ergänzen, geistig weiterzuentwickeln. Die Menschen wären frei, ihren Blick zu heben und das Universum zu kontemplieren. Trotzki schrieb einst: “Wie viele Aristoteles hüten Schweine? Und wie viele Schweinehirten sitzen auf einem Thron?“ (Aus „On the Suppressed Testament of Lenin“, 1932, eigene Übersetzung). Die Klassengesellschaft verarmt die Menschen nicht nur materiell, sondern auch psychisch. Das Leben von Millionen Menschen ist auf das äußerste begrenzt, ihr mentaler Horizont beschnitten. Der Sozialismus würde all das Potenzial, das vom Kapitalismus beschränkt wird, entfesseln.
Menschen haben unterschiedliche Charaktere und Begabungen. Nicht jeder kann ein Aristoteles, ein Beethoven oder ein Einstein sein. Aber jeder verfügt über das Potential, auf dem einen oder anderen Gebiet Großes zu leisten, ein großer Wissenschaftler, Künstler, Musiker, Tänzer oder Fußballer zu werden. Der Kommunismus wird die Bedingungen schaffen, diese Potentiale ganz auszuschöpfen. Das wäre die größte Revolution aller Zeiten. Sie würde die menschliche Zivilisation auf ein neues und qualitativ höheres Niveau heben. Um mit Engels zu sprechen: Es wäre der Sprung der Menschheit vom Reich der Notwendigkeit in das Reich der wirklichen Freiheit.
London, 8. Juli 2015