Der Film „Murer-Anatomie eines Prozesses“ behandelt einen der größten Justizskandale der Zweiten Republik. Bruno Pegrovic hat ihn für uns angesehen und die Geschichte rund um den Fall Murer aufgearbeitet.
Kennen Sie den Namen Franz Murer? Nein? Wirklich nicht? Dann haben sie mit uns- vor diesem Film- und sicherlich mit einem Großteil der ÖsterreicherInnen etwas gemeinsam. Selbst der Regisseur des Films, Christian Frosch, stolperte mehr zufällig über diesen Namen. Vor sieben Jahren, im jüdischen Museum von Vilnius, hörte er das erste Mal von ihm, auf „einer Schautafel zur Geschichte des städtischen Ghettos wurde er als Haupttäter während der Nazizeit genannt.“ Was ihn besonders verwunderte war, dass der Name, der bei uns beinahe unbekannt, in Litauen sehr berüchtigt ist. So kam ihm die Idee zu diesem Film, der den Hauptfokus auf die Zeit der Verhandlung Murers vor dem Gericht in Graz im Jahre 1963 legt. Wer oder was Murer war, ergibt sich aus der Schilderung des Prozesses, der Be- und Entlastungszeugen, der Bemerkungen der Richter Schöffen sowie aus den Ränkespielen, die sich hinter der Fassade der Justiz abspielen.
Wer war Franz Murer?
Franz Murer wurde im Jahr 1912 in St. Lorenzen ob Murau in kleinbäuerliche Verhältnisse hinein geboren. Seine Eltern hatten zwar einen eigenen Hof, waren jedoch arm. Mit 18 Jahren nimmt der ehrgeizige Murer eine Stelle in der Forstdirektion an und arbeitet sich bis zum Verwalter hoch. 1938, sechs Wochen nach dem Einmarsch der Nazis, wird Murer Mitglied der NSDAP. Er wird weiterempfohlen zur Ausbildung in die NS-Ordensburg Krösinsee in Pommern, eine sogenannte Führerschule. Dort sollte die Elite der Nationalsozialisten ausgebildet und zur „Freude am Herrschen“ (Robert Ley) herangezogen werden. 1940 heiratet er Elisabeth Möslberger, die aus Gaishorn bei Trieben stammt, seinem späteren Wohn- und auch Zufluchtsort. Auch nimmt er am Frankreichfeldzug teil.
Im August 1941 wird er in die neu eroberten Gebiete beordert: Er wird Stellvertreter des Gebietskommissars, einem gewissen Hans Christian Hingst, von Wilna, dem heutigen Vilnius. Weil die Hauptstadt Litauens mit ihren rund 80.000 jüdischen Bewöhnern bisher von Progromen verschont geblieben war, galt sie damals als „Jerusalem des Nordens“. Die Pläne der Nazis sahen anfangs eine umfassende Ghettoisierung und Zwangsarbeit für die JüdInnen vor: In einen Stadteil, der für 4000 Personen ausgelegt war, wurden 40.000 JüdInnen eingepfercht. Pro Person waren 1,5 m² Platz vorgesehen. Murer war dort in der Zivilverwaltung tätig, war jedoch uniformiert und trug ständig eine Pistole mit sich. Unter anderem für die Versorgung mit Lebensmitteln und Gebrauchsgütern zuständig, zeichnete er sich vor allem durch eine Grausamkeit und Willkür aus, die ihm den Spitznamen „Schlächter von Wilna“ einbrachte. Er prügelte und demütigte die GhettobewohnerInnen oft. Beispielsweise mussten sich ArbeiterInnen in Werkstätten während Murers Anwesenheit sich auf den Boden legen und bellen, er exerzierte mit Ghetto-Insassen bis zu deren vollkommener Erschöpfung, bei Durchsuchungen mussten sich die Verdächtigen nackt vor ihm ausziehen. Gleichzeitig war er von dem Gedanken besessen, dass Personen gegen seine Regeln verstoßen könnten: Bei Kontrollen am Ghetto-Tor, an denen Murer beteiligt war, kam es vor, dass kleinste entdeckte Mengen an geschmuggelten Waren (beispielsweise Nahrung) ausreichten, um zusammengeschlagen, ausgepeitscht oder im schlimmsten Fall erschossen zu werden.
Gleichzeitig wurden laufend Ghetto-BewohnerInnen aussortiert, die dann zur Erschießung nach Ponary (einem ehemaligen sowjetischen Treibstofflager) gebracht wurden. Zehntausende Menschen wurden dort systematisch von den NS-Schergen und ihren litauischen Hilftstruppen ermordet. Gleichzeitig galt Murer als korrupt: Der Historiker Halbrainer schreibt hierzu: „Wer es sich leisten konnte, kaufte sich los. Es war bekannt, dass Murer Gold, Schmuck und Wertgegenstände kistenweise nach Gaishorn […] schicken ließ.“ 1943 verschlechterte sich jedoch die Position des „König[s] über Leben und Tod“: Im Juni desselben Jahres verließ er die Stadt Richtung Front. Der Chronist des Ghettos vermerkt erleichtert dazu, „M. ist weg und das Ghetto soll die Hände zum Himmel heben. Er ist derjenige, der uns erniedrigt, gepeitscht und beleidigt hat.“ Das Ghetto wird später aufgelöst. Von den 80.000 Menschen haben bis Kriegsende lediglich einige hundert überlebt. Murer selbst soll (laut späterer sowjetischer Anklage) für den Tod von insgesamt ca. 5000 Menschen verantwortlich gewesen sein.
Er kommt nach Kriegsende in britische Kriegsgefangenschaft, im Oktober 1945 ist er jedoch schon wieder frei und kehrt zurück nach Gaishorn am See. Dort wird er im Jahr 1947 von Simon Wiesenthal durch einen Zufall aufgespürt und, noch bevor er fliehen kann, verhaftet. Schon vorher wurde Murer von einem „Zuagroastn“ aus Rumänien Namens Zylinski zweimal angezeigt, jedoch ohne ein signifikantes Ergebnis. Gemäß der Moskauer Deklaration wird er im März 1948 von den ohnehin nicht sehr motivierten Briten an die UdSSR übergeben, wo in Litauen 1949 der „Faschist Murer“ vor einem Kriegstribunal wegen diverser Verbrechen schuldig gesprochen und zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt wird. Murer hat dabei noch Glück: Zwei Jahre früher wäre auf seine Taten noch die Todesstrafe gestanden. Er kommt zur Arbeit nach Workuta in den Kohleabbau, später zur Arbeit in eine Stadt Namens -Nomen est Omen- Asbest.
Doch mit dem Staatsvertrag kommt Murer 1955 schon wieder frei. Er wird – wie andere Verurteilte – Österreich mit der Auflage übergeben, dass ihm in der Heimat der Prozess gemacht wird. Dies passiert jedoch nie, im Dezember 1955 wird das Verfahren eingestellt. Zuhause in Gaishorn wird Murer willkommen geheißen; er wird ÖVP-Mitglied und 1957 Obmann der Bezirksbauernkammer. Wiederum per Zufall wird er erneut von Simon Wiesenthal aufgespürt, der ihn eigentlich für tot hält, da sein Name wegen eines „bürokratischen Fehlers“ nicht auf der Liste der Heimkehrer zu finden war. Die Justiz reagiert anfangs nur zögerlich; so wird eingewandt, dass das Verfahren eingestellt und neue Beweise erbracht werden müssen. Auch wäre die Gefangenschaft in der Sowjetunion dreimal so beschwerlich wie ein Aufenthalt in einem österreichischen Gefängnis, weswegen Murer einen Großteil seiner Strafe schon verbüßt hätte. „Warum quälen sie andauernd einen Menschen, der schon lange Buße geleistet hat?“, wird Wiesenthal von einem Beamten des dafür zuständigen Ministeriums gefragt. Jedoch nach innenpolitischen Druck durch die jüdische Gemeinde sowie der Erwähnung Murers im Eichmannprozess muss gehandelt werden. Er wird im Mai 1961 verhaftet, zur Verhandlung kommt es im Juni 1963.
Rosen auf den Weg gestreut
Der Prozess findet unter schlechten Vorzeichen statt. In den sechziger Jahren kam es zu einer Reihe von „unglaublichen Fehlurteilen“ gegenüber Ehemaligen, Anklagen wurden fallengelassen oder sehr milde Strafen gefällt. Von den 200 Heimkehrern, denen laut Staatsvertrag der Prozess gemacht werden sollte, wurden insgesamt drei für schuldig befunden. Diese kamen aber nach wenigen Jahren wieder frei. 1961 wurde der ehemalige Werwolf-Kommandant Richard Hochrainer, der nach Kriegsende noch Kriegsgefangene erschossen haben soll und Gemeinderat der freiheitlichen Partei im salzburgischen St. Martin war, zwar zuerst für schuldig befunden und zu sieben Jahren Haft im Kerker verurteilt, jedoch in zweiter Instanz freigesprochen.
Derselbe Hochrainer holte Murer nach seinem Freispruch 1963 unter dem Jubel der Menschen vor dem Gericht in Graz mit einem Mercedes ab. Franz Novak, der für Eichmann die Transporte in die Vernichtungslager für rund 1,6 Millionen Menschen mitorganisiert hatte und geständig war, wurde 1964 zu acht Jahren Gefängnis wegen „öffentlicher Gewalttätigkeit“ verurteilt, das Urteil später annulliert, er wurde wieder verurteilt, schließlich vom Bundespräsidenten in den Siebzigern begnadigt. Ein Jahr später wurde Erich Rajakowitsch, der für die Deportation der holländischen Juden mitverantwortlich war, zu zweieinhalb Jahren Haft wegen „boshafte[r] Sachbeschädigung und absichtliche[r] Gefährdung von Menschenleben“ verurteilt. Er kommt nach Prozessende wegen der Anrechnung der Untersuchungshaft sofort wieder frei. Im November des gleichen Jahres startete der Prozess gegen Robert Jan Verbelen, belgischer SS-Kommandant und verantwortlich für sogenannte Vergeltungsaktionen gegen belgische Partisanen. 1947 zum Tode in Belgien verurteilt, arbeitete er zwischenzeitlich in Österreich für die Staatspolizei und den amerikanischen Geheimdienst. Mittlerweile österreichischer Staatsbürger, billigten die Geschworenen ihm Befehlsnotstand zu und sprachen ihn frei.
Alle diese Fälle zeigen die Haltung der österreichischen Justiz und eines Teils der österreichischen Bevölkerung gegenüber den Verbrechen des Nationalsozialismus, die Simon Wiesenthal treffend so zusammenfasste: „In Österreich wird nur eingeseift, aber nie rasiert.“ Hinter der Fassade der offiziellen Distanzierung (Österreich als Opfer) und Proklamierung als demokratische Republik lag die nach dem Staatsvertrag erfolgte Wiedereinbindung ehemaliger, selbst schwer belasteter Nationalsozialisten in den politischen und Staatsapparat. Neben der gesellschaftlichen Rehabilitierung buhlten die beiden Großparteien um Stimmen und Personal im (ehemals?) braunen Sumpf. An einer konsequenten Trockenlegung dieses Morastes hatte in dieser Zeit keiner ein wirkliches Interesse.
Dies zeigt sich auch im Fall des Prozesses gegen Murer im Jahr 1963. Der Prozess beginnt am 10. Juni. Angeklagt wird er wegen 15-fachen „gemeinen Mord“, im Laufe des Prozesses kommen noch weitere Anklagepunkte hinzu. Diese Form der Anklage ist nötig, weil das Verfahren gegen Murer bereits eingestellt war und es nach dem Amnestiegesetz von 1957 nun besonders darum ging, ihm direkt Morde nachzuweisen. 37 Zeugen identifizierten den Angeklagten, teilweise konnten die Zeugen auf Grund des emotionalen Traumas und der Schrecken der Vergangenheit nur schreiend ihre Aussagen machen. Sein Verteidiger ritt besonders auf Kleinigkeiten herum (bspw. die Farbe der Uniform Murers, Zeitpunkt und Ort der Taten) und versuchte so die Zeugen zu verunsichern und widersprüchliche Aussagen zu unterstellen. Die Stimmung im Gerichtssaal mitsamt Richter kippte mehr und mehr auf die Seite des Angeklagten, dessen Aussagen teilweise mit Beifall quittiert wurden. Die Kinder Murers machten sich manchmal über die Aussagen der Zeugen und deren Gestik lustig.
Die Zeitungen berichten teilweise sehr engagiert von dem Fall (bspw. die SPÖ nahe Arbeiterzeitung oder die KP nahe Volksstimme), einige zeigten sich sehr desinteressiert und berichteten nur am Rande und ohne eigene Note von dem Fall. Besonders bemüht um die Ehrenrettung Murers zeigte sich das „Kleine Volksblatt“ eine ÖVP-Parteizeitung. So wird in ihren Artikeln zum Fall von den „angeblichen Morden“ berichtet, die Verbindung der Taten zum NS-Regime wird nicht ausdrücklich erwähnt und die Rolle Murers zum „so genannte[n] Kreislandwirt in den Stab des Gebietskommissärs von Wilna“ heruntergespielt. Zeugenaussagen werden als wenig glaubwürdig dargestellt, es wird kritisiert, dass die Aussagen nicht auf Deutsch erfolgen und „ Dolmetscher der jiddischen und hebräischen Sprache“ eingreifen mussten. Gleichzeitig sieht die Zeitung als Grund des Prozess eine regelrechte Verschwörung am Werk, an dessen Spitze ein gewisser Zylinski steht der zuerst „radikaler Nazi“ und später als „radikaler Kommunist und Terrorist“ aufgetreten sei. Man unterstellte ihm, er habe sich „in den Besitz von Murers Hof setzen wollen“. Man merkt hier, wie offen antisemitische Deutungsmuster immer wieder durch die Argumentation durchscheinen.
Kollektiv-Schuld-These
Der Film selbst folgt jedoch nicht nur dem Prozess, sondern gibt den Ereignissen rund um ihn genügend Raum, um politische und gesellschaftliche Atmosphäre erfahrbar zu machen. Es gelingt ihm treffend, die Stimmung dieser Zeit einzufangen und wie die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen rund um den Prozess agieren. Dies liegt durchaus in der Intention des Regisseurs, dem es vor allem darum geht „genau hinzusehen und zu verstehen, wie sich die vom Wesen her grundsätzlich verschiedenen Gruppen (Täter, Opfer und Zusehende) in der Republik Österreich darstell(t)en.“
Es ist erschütternd zu sehen, wie 20 Jahre nach der beinahe erfolgten Auslöschung der JüdInnen, im und um den Prozess der Antisemitismus in seiner versteckten wie offenen Form unverhohlen weiter besteht. So haben die Geschworenen kein Problem, sich gegenseitig antisemitische Witzchen zu erzählen, auch Rufe aus dem Publikum wie „Greuelpropaganda“ greifen die Vorstellungen einer Verschwörung wieder auf. Sie finden sich ebenso in den Aussagen von Zeugen und des Verteidigers wieder, der der Meinung ist „ihr Feind sei der Mann in deutscher Uniform gewesen“ während „der Gebietskommisaar von Wilna und dessen Mitarbeiter im wohlverstandenen Interesse ihre schützende Hand über die Juden“ gehalten hätten. Ebenso wird die Rolle des jüdischen Widerstandes als Auslöser für die Taten Murers betont. Auch taucht im Prozess die Meinung auf, dass Murer rachsüchtig verfolgt würde und einer persönlichen Feme Simon Wiesenthals unterläge und es sich beim Prozess um eine Inszenierung von Zionisten und des jüdischen Weltkongresses handeln würde, auf dessen Gehaltsliste die Zeugen stehen. Man sieht quasi auf der Leinwand die sorgsam versteckte antisemitische Eiterbeule aufplatzen. Die Gruppe der JüdInnen ist wiederum selbst nicht in sich widerspruchsfrei: Es gibt Differenzen über die Kollaboration und Verhalten zur Zeiten der NS-Herrschaft, zwischen religiösen und nicht religiösen JüdInnen sowie zum Vorgehen innerhalb des Prozesse. So kann bspw. nur mit viel Überzeugungskraft verhindert werden, dass ein Zeuge, der seinen Sohn durch die Hand Murers sterben sah, sich im Gerichtssaal bewaffnet auf Murer stürzt. Man begreift schnell, dass es sich nicht um die homogene Gruppe handelt, die sich die Antisemiten herbei halluzinieren. Sie wird durch das erlebte und die bestehende Feindschaft aufrechterhalten.
Eine weitere Gruppe sind die ehemaligen Nazis, in der Person Hochrainers kumuliert, die den Prozess aufmerksam verfolgen. Sie haben ihre Finger im Spiel und versuchen, bis zu den Schöffen hinauf, unbedingt einen Freispruch zu erreichen. Beim prozessführenden Richter müssen sie sich nicht viel Mühe machen: Im Prozess sehr forsch und grob zu den ZeugInnen der Anklage, stellt sich während des Films heraus, dass er selbst NS- Mitglied war und Todesurteile unterzeichnet hat. Mit der Nazizeit eng verbunden ist auch der Appell an den Krieg und die vermeintlich soldatische Pflicht, die dort erfüllt wurde. So appellieren der Angeklagte und sein Verteidiger des Öfteren an dieses ominöse Ding. Selbst als am Ende als dem Verteidiger Zweifel an der Unschuld seines Mandaten kommen, spricht er davon, nur seine Pflicht erfüllt zu haben. Hier wird klar, welche Funktion diese Argumentation eigentlich hat: Es geht um die Abwehr von Schuld, indem man sich und seine Handlungen hinter Befehlen und Vorstellungen versteckt.
Womit wir bei einem weiteren wesentlichen Aspekt des Filmes wären: dem der Schuld. Der Film lässt hier keinen Zweifel offen, in dem er Zeugenaussagen auf Zeugenaussagen bringt: Murer ist so schuldig, wie man nur sein kann. Im Gegensatz dazu leugnet er jedwede Schuld und spricht konsequent von Verwechslungen und Ähnlichem. Er gibt sehr gekonnt den biederen Bauern, der hier angeklagt wurde. Dazu passt sein ganzes Auftreten im Gerichtssaal: Mit einer Unschuldsmine, im biederen Janker, zu dem ihm sein Anwalt geraten hat, denn das sei Arbeit, das sei Heimat. Während an ihm die ganzen Aussagen abprallen wie an einer Mauer, ist einer der Schöffen voller Zweifel aufgrund seiner Vergangenheit und Rolle im Prozess. Als Jugendlicher war dieser beim Volkssturm und bei Erschießungen dabei und hat deswegen im Laufe des Prozesses zunehmende Gewissensbisse. Er erklärt sich gegen Ende für Befangen und scheidet bei den Geschworenen aus, für ihn rückt ein zuverlässiger Ehemaliger nach, was die knappen Freisprüche Murers in einigen Anklagepunkten mit 4:4 ermöglicht.
Es zeigt sich im Laufe der Handlung auch, dass die Justiz nicht unabhängig agiert, sondern es wird vermittelt, dass das Urteil politisch so gewollt ist. Egal wie tief das Unkraut des Vergessens und der ehemaligen Nazis auch Wurzeln schlägt, ihre eigentliche Grundlage hat dieses Gewächs in den alten und neuen Seilschaften der Politik, die – wie sich herausstellt- hinter den Kulissen den Ausgang des Prozesses massiv beeinflussen. Hinter der Fassade eines vermeintlichen Rechtstaates wird die Frage, ob schuldig oder nicht schuldig, ganz groß-koalitionär ausgehandelt. Die Spitze des Bauernbundes Wallner interveniert direkt bei Justizminister Broda für Murer. Als im Laufe des Films die SPÖ-Presse zu sehr die Verstrickung Murers mit der schwarzen Reichshälfte betont, wird diese vorstellig und droht dem SPler mit Aufdeckung der ehemals braunen Gesinnungsgenossen in den roten Reihen sowie den kommunistischen Jugendsünden Brodas. Das widersprüchliche Verhältnis innerhalb der Sozialdemokratie wiederum wird im Film anhand der Aussprache zweier Genossen deutlich: Der Korrespondent der Arbeiterzeitung, der den Prozess verfolgt, ist an einer Aufdeckung und Aufarbeitung interessiert, während der andere „Genosse“-Minister nur nach einem kurzfristigen politischen Gewinn schielt, indem er hofft, das ehemals nazistische Wählerpotential für einen Wahlerfolg und ein rot regiertes Europa vor den eigenen Karren spannen zu können. Ihm ist bspw. ein modernes Familienrecht allesamt wichtiger als eine konsequente Aufarbeitung der Vergangenheit. So wird klar, wie die schlappe reformistische Politik der Sozialdemokratie erst den Kameraden in die Hände spielt: Der rote Kettenhund ist – wie es im Film heißt – nur der rosa Pudel, der sich den politischen Gegebenheiten, anstatt sie zu ändern, anpasst und letzten Endes vor ihnen kapituliert.
Wie konsequent schief das Bild von Österreich als Staat und Nation ist, wird auch im Schlussplädoyer des Verteidigers von Murer klar. Dies stellt ein Sammelsurium aus Heimatkitsch und typisch österreichischen Geschichtslügen dar und steht unter dem Motto „Österreich ist frei“. Murer, der nur seine Pflicht getan hätte, würde nun verfolgt und Heim und Familie unrechtmäßig entrissen. Österreich würde hier als erstes Opfer des Nazismus in Frage gestellt, Murer sei nur ein Sündenbock um eine kollektive Schuld der ÖsterreicherInnen zu suggerieren. Das Aufzeigen des Zurechtrückens und Umdeutens ist auch Anliegen des Regisseurs. Ihm geht es darum, dass „bewusst gelogen, verschleiert, verbogen und gesteuert [wurde]. Nur so konnte man Täter zu Opfern machen und die Opfer zu den eigentlich Schuldigen erklären. Diesem Prozess lag kein seelischer Defekt zugrunde, sondern Kalkül. Wir müssen uns endgültig von der Vorstellung verabschieden, dass der Patient Österreich nur die Fakten in sein Bewusstsein integrieren muss, um den Heilungsprozess einzuleiten.“
Was bleibt?
Murer selbst wird am 19 Juni 1963 in allen Anklagepunkten, wenn auch in einigen sehr knapp, freigesprochen. Durch eine jubelnde Menge verlässt er das Gerichtsgebäude. Nicht wenige zeigen sich aber auch geschockt, die kommunistische Volkstimme schreibt, dass durch das Urteil „der Massenmord […] straffrei erklärt worden ist.“ Es kommt zu wütenden Protesten in Wien und vor allem in Israel im Juli 1963. Die israelische Presse folgt dem Tenor, dass sich mit dem Freispruch Österreich „in all seiner Gemeinheit“ gezeigt hätte. Der Freispruch belastet das Verhältnis zwischen Österreich und Israel lange Jahre. Es wird von verschiedenen Seiten weiterhin versucht Murer nochmal vor Gericht zu bringen. Es gibt im Laufe der Jahre von jüdischer Seite Petitionen und neuen Aussagen, die einen erneuten Prozess möglich machen würden. Die Staatsanwaltschaft legt nach dem Prozess Nichtigkeitsbeschwerde ein, die der oberste Gerichtshof 1964 teilweise stattgibt. Eigentlich müsste darauf noch eine Verhandlung erfolgen, die jedoch nie stattfindet. 1974 wird das Verfahren endgültig eingestellt. Bis zu Letzt auf einen Irrtum beharrend, stirbt Murer 1994 in Leoben.
Murers Sohn Gerulf Murer war lange Zeit für die FPÖ im Nationalrat, Staatssekretär im Landwirtschaftministerium unter Sinowatz und Vranitzky und Träger des Großen Silbernen Ehrenzeichens am Bande für Verdienste um die Republik Österreich. Ende der achtziger Jahre hat er angekündigt, dass ein Buch von Historikern erarbeitet wird, das die Unschuld seines Vaters beweisen würde. Das Buch ist bis heute nicht erschienen.
Bei „Murer-Anatomie eines Prozesses“ handelt es sich – laut Eigenaussage- um einen politischen, nicht nur geschichtlich zu verstehenden Film, der „das brisante Material so authentisch wie möglich „zum Sprechen“ bringen“ will. Dies ist ihm durchaus gelungen und so eine schonungslose Aufarbeitung in einem Land wie Österreich ist es allemal wert, gesehen zu werden.
Lesetipp: Johannes Sachslehner: „Rosen für den Morder“. Die zwei Leben des NS-Täters Franz Murer. Molden Verlag (Wien-Graz-Klagenfurt)
Filmtipp: Murer – Anatomie eines Prozesses (engl. The Murer Case).Österreich und Luxemburg (2018) Regie und Drehbuch: Christian Frosch. Mit: Alexander E. Fennon, Karl Fischer, Roland Jaeger, Mathias Forberg, Melita Jurisic