Das Rote Wien ist für viele Menschen ein historisches Vorbild für fortschrittliche Politik. Mit der Idee einen „neuen Menschen“ zu schaffen, baute die Sozialdemokratie in ihrer Hochburg in der Bundeshauptstadt ein Angebot an Freizeit-, Kultur-, Sport- und nicht zuletzt Wohnungsangeboten auf. Von diesem reichen Erbe zehrt sie bis heute.
In der Zeit zwischen 1925 und 1934 (Beginn des Austrofaschismus) wurden 60.000 neue Wohnungen bei einer gleichbleibenden Bevölkerungszahl von nicht ganz 2 Mio. Menschen errichtet, was also eine deutliche Entspannung der Wohnsituation bedeutete – von den Sozialexperimenten in diesen Wohnungen, wie Gemeinschaftsküchen, -wäschereien, Kindergärten etc. ganz zu schweigen.
Das war nur möglich, weil die sozialdemokratische Regierung der Stadt keine Angst davor hatte, die notwendigen Mittel bei denen einzutreiben, die sie hatten. Neben Luxussteuern (auf Reitpferde, Nachtlokale, Dienstmädchen usw.) war auch die Wohnbausteuer progressiv ausgestaltet, sodass 0,5% der (Edel)immobilien 45% der notwendigen Kosten erbrachten.
Vor welchem Hintergrund schaffte es die SDAP (Sozialdemokratische Arbeiterpartei) damals, diese Erfolge zu erringen? Der Mieterschutz – eingeführt noch im Ersten Weltkrieg um einen Aufstand der armen Bevölkerung zu verhindern – und die hohe Inflation hatten zu einem Zusammenbruch des privaten Wohnungsmarktes geführt. Das ermöglichte es der Stadt Wien, den Wohnbau in eigene Hände zu nehmen. Trotzki beschrieb die Situation 1929 so: „Die österreichische Sozialdemokratie zog ihre Kraft vor allem aus der außerordentlich schwachen Position, in die die österreichische Bourgeoisie nach Krieg und Revolution geraten war, und aus der damit verknüpften wirtschaftlichen und politischen Unselbständigkeit des Landes.“ Die Arbeiterklasse befand sich global in der Offensive: Die Bourgeoisie fürchtete nichts mehr als ein Übergreifen der Oktoberrevolution 1917 auf den Rest Europas. Diese Angst war begründet – in Österreich und vielen Ländern gab es revolutionäre Bewegungen, die in Bayern und Ungarn sogar zum Aufbau von Räterepubliken führten.
In dieser Situation verzichtete die SDAP bewusst auf den Sturz des Kapitalismus und wurde stattdessen zu dessen wichtigster Stütze. Unter anderem verzichtete sie in einem Kuhhandel mit den Christlich-Sozialen auf die Organisierung der LandarbeiterInnen, ließ eine Trennung Wiens von Niederösterreich zu und zog sich auf das Aufbauprojekt Wien zurück. Diese Politik gab ihnen einerseits die Steuerhoheit in Wien, wodurch der öffentliche Wohnbau möglich gemacht wurde, andererseits verfolgten sie konsequent eine kompromissorientierte Politik, die letztlich in der Niederlage der FebruarkämpferInnen 1934 mündete.
Auch heute ist die Bourgeoisie in der Krise ihres Systems gefangen, die sie seit fast einem Jahrzehnt durch permanente Einsparungen zu lösen versucht – mit dem Effekt, dass sie mit dem Versuch, wirtschaftliches Gleichgewicht herzustellen, das politische und soziale Gleichgewicht opfert. Das erkennt man an der tiefen Legitimationskrise der bürgerlichen Demokratie und aller traditionellen Parteien auf der ganzen Welt.
Worin liegt der Unterschied zu den 1920er Jahren? Vor allem in der historischen Desorientierung der Arbeiterbewegung, deren Führung jahrzehntelang die Sozialpartnerschaft verfolgt hat. Ein weiterer Höhepunkt dieser Desorientierung ist die Neuorientierung der SPÖ auf die „Mittelschicht“: Sie drückt aus, dass die bürokratische Führung der Partei tatsächlich unfähig geworden ist, über den eigenen, kleinbürgerlichen Tellerrand zu sehen. Das große Korrektiv der Sozialdemokratie, ihre eigene Basis in der Arbeiterklasse, wird hier offen verleugnet. Statt HacklerInnen sieht man lieber Start-Up-GründerInnen. Das macht sich auch in den Vorschlägen zum Wohnbau in dem berühmten „Plan A“ bemerkbar: Man erwägt keine fixierten Mietobergrenzen oder Wohnbausteuern mehr, weil man fürchtet, es sich mit den Investoren und ihre Parteien (NEOS) zu verscherzen. Stattdessen soll der „gemeinnützige“ Wohnbau noch weiter aufgeweicht werden. Schon jetzt dürfen Genossenschaften bis zu 3,5% Profit aus dem Stammkapital der Investoren schlagen. Diese Obergrenze soll nun erhöht werden, indem das Eigenkapital als Grundlage für Profite herangezogen wird, was de facto bedeutet, dass Immobilien zum Marktpreis weiterverkauft werden können. So sollen mehr private Investoren, wie Versicherungen, mit dem Versprechen auf Profit im sozialen Wohnbau angelockt werden. Die aktuelle SPÖ-Programmatik widerspricht damit allen historischen Erfahrungen: die Lösung der sozialen Frage Wohnbau soll durch eine noch stärkere Durchdringung des Wohnbaus durch Profitinteressen gelöst werden.
Damit gibt man einmal mehr dem permanenten Druck der Bürgerlichen nach, die auch im Thema Wohnen auf ganzer Linie arbeiterfeindliche Politik machen: Von der Privatisierung der BUWOG im Jahr 2002 bei der 60.000 staatliche Wohnungen an Immobilienhaie zur Hälfte ihres eigentlichen Wertes verscherbelt wurden, über die großkoalitionäre Kürzung der Wohnförderung in der Steiermark bis hin zur Verdrängung der KPÖ Graz aus dem Wohnbauressort, in dem sie eine Politik des sozialen Wohnbaus betrieben hat, die sie seit 1998 zur zweitstärksten Partei der Stadt gemacht hat.