Als „Revolutionärer Sozialist“ im Untergrund rechnete Karl Czernetz mit seinem politischen Ziehvater Otto Bauer und dem Austromarxismus ab. Warum die Broschüre auch heute hochinteressant ist, erklärt Yola Kipcak.
Die theoretische Methode Otto Bauers ist (…) auf der einen Seite automatistisch, sie ist auf der anderen Seite idealistisch; sie ist harmonisierend und daher undialektisch, sie ist eklektisch. Sie enthält von jeder großen Richtung etwas. Das macht sie so geeignet, Gegensätze zu verwischen, Kompromisse, theoretische und politische Kompromisse abzuschließen. Das macht den Austromarxismus so spiegelnd und schillernd, so anziehend und blendend. Das macht den Austromarxismus als theoretische und politische Methode auch so gefährlich für das Proletariat.
Dieses Zitat aus Czernetz‘ Pamphlet trifft mitten ins Herz der österreichischen Spielart des Reformismus. Doch was ist dieser Austromarxismus, wie kann man das oben genannte Zitat verstehen und warum sind dieselben Kritikpunkte auch heute noch „gefährlich für das Proletariat“?
Was ist der Austromarxismus?
Der Austromarxismus ist nicht als einheitliches Theoriegebäude oder Methode zu verstehen. Begründet vom bekanntesten Theoretiker der österreichischen Sozialdemokratie, Otto Bauer (1881-1938), ist er eine Ansammlung verschiedener, teilweise widersprüchlicher Ideen, die ihren Ursprung in der Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung haben. Diese formte sich in der österreichisch-ungarischen Monarchie zwischen unterschiedlichen nationalen Bestrebungen, klassenkämpferischen, anarchistischen und reformistischen Tendenzen. Am Einigungsparteitag der Sozialdemokratie 1888/9 bekannte man sich im Hainfelder Programm zum Marxismus. Allerdings ließ das Programm viele Fragen offen und stellte tatsächlich einen Kompromiss zwischen den verschiedenen Tendenzen dar. Diese Kompromissbereitschaft offenbart sich auch im Austromarxismus, der sich durch radikale Worte, jedoch in der Praxis durch politische Passivität auszeichnet. Das Beharren auf den „parlamentarischen Weg zur Revolution“ – der tatsächlich ein Ausdruck des mangelnden Vertrauens in die Arbeiterklasse war – hatte verheerende Folgen für die Arbeiterklasse:
Die Erfahrung des Februar
Der erste Weltkrieg endete mit einer revolutionären Welle, die über Europa hereinbrach. Angefangen bei der russischen Revolution 1917 gab es in zahlreichen Ländern Räte- und Streikbewegungen, in denen die Arbeiterklasse danach strebte, die Macht zu ergreifen – so auch in Österreich. Vom Jännerstreik 1918 über den Justizpalastbrand 1927 bishin zum Floridsdorfer Parteitag 1933 zeigte das Proletariat wieder und wieder seine Kampfbereitschaft. Obwohl vorwärtsstrebende Teile innerhalb der Sozialdemokratie die Passivität ihrer Führung immer mehr in Frage stellten und schließlich einen linken Flügel aufbauten, schaffte Otto Bauer es bis zum Schluss, die Einheit der Partei aufrecht zu erhalten. Der Preis dafür war hoch: Das stete Hinauszögern der Offensive gegen den erstarkenden Faschismus und für die Revolution führte schließlich zur Niederlage in den Feburarkämpfen 1934, als ArbeiterInnen unvorbereitet und schlecht bewaffnet von der Reaktion erschossen wurden. Um diese Erfahrung zu verarbeiten und aus den Fehlern der eigenen Bewegung zu lernen, entstand die vorliegende, von uns zum ersten Mal abgedruckte, Broschüre Karl Czernetz‘.
Dieser unternahm den Versuch, anhand des Buchs „Zwischen zwei Weltkriegen“ „…die Methode Otto Bauers aus seinem Buch herauszuschälen und mit klassischen Schriften des Marxismus zu vergleichen. Dabei wird offenbar, dass Otto Bauer die Marxsche Methode ganz anders auffasst und anwendet als Marx und Engels“.
Der Automatismus
Gründlich geschält offenbaren sich dem Kritiker mehrere Fehler Bauers, die der Autor in klaren Worten ausführt. Otto Bauer ging von einem Automatismus aus, indem er nachzuweisen versuchte, dass die Frage, ob das Proletariat bereit für eine Revolution sei oder aber die Konterrevolution siegt, direkt aus der ökonomischen Lage herzuleiten sei. Dabei verstrickt er sich allerdings in Widersprüche und leitet aus wirtschaftlichen Aufschwüngen mal eine Radikalisierung der Arbeiterschaft, mal den Sieg der Gegenrevolution ab. „Dabei ergibt sich freilich, dass weder in der Krise noch in der Konjunktur die Revolution theoretisch möglich ist. Nur wenn die Revolution schon gesiegt hat, war ihr Sieg die ‚zwangsläufige‘ Folge der ökonomischen Bedingungen.“
Die Rolle des subjektiven Faktors
Dem gegenüber erklären Marx und Engels, dass sich die Ökonomie zwar die bestimmende Basis der Gesellschaft darstellt, und dass Ideologie, Politik, Recht usw. (der sogenannte Überbau) auf dieser Basis entstehen, aber auch auf die wirtschaftliche Entwicklung Einfluss nehmen können. Wie Marx es ausdrückte: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“
Hinter einer mechanistischen, automatistischen Auffassung wie der Bauers steht letztlich die Absicht, die Rolle des subjektiven Faktors, also der Arbeiterpartei und ihrer Führung, die einen großen Einfluss auf das Proletariat ausüben, auszublenden und somit die eigene Verantwortung im Gang der Geschichte und in vergangenen Niederlagen zu relativieren. Ähnliche Argumentationsweisen finden sich auch heute noch zuhauf, beispielsweise wenn eine Sahra Wagenknecht erklärt, es sei „in diesem politischen Klima sehr schwer, mit linken Positionen zu punkten.“ Czernetz stellt klar: „[D]ie günstigsten Voraussetzungen für den Sieg der Revolution (sind) dann vorhanden, wenn im Gefolge ökonomischer Krisen die Radikalisierung der Volksmassen und besonders des Proletariats politische Krisen hervorrufen. In revolutionärem Sinne werden diese Krisen aber nur dann gelöst werden, wenn die kampfbereiten und zielbewussten revolutionären Kräfte stark genug sind, die Entscheidung zu ihren Gunsten herbeizuführen.“
Dialektik und Praxis
Die Rolle einer revolutionären Führung ist eine der zentralen Fragen für die Lösung der tiefen kapitalistischen Krise, wie wir sie in den 1930er Jahren und auch heute vorfinden. Um in einer solchen Situation mit einem klaren Programm die richtige Richtung vorgeben zu können, sind ehrliche und tiefgehende Analysen das Um-und-Auf; Unschärfe und Kompromisse zum Zweck der Konfliktvermeidung können fatale Folgen für die eigene Praxis haben, wie das Beispiel 1934 zeigt.
Daher betont Czernetz auch die fehlende Dialektik in Bauers Methodik. Nach Bauers Vorstellung entwickelt sich die Gesellschaft harmonisch; Gegensätze und Widersprüche gehen sanft in etwas Neues über. Diese Vorstellung verdeutlicht sich in Bauers Vorstellung vom „integralen Sozialismus“, in dem demokratisch-reformistische mit den kommunistischen Parteien vereint werden sollten – doch nicht etwa auf Basis eines revolutionären Programms, sondern als friedliche Kompromisslösung. Dieselbe Unschärfe findet sich in seiner Krisenanalyse. Er weist dabei auf allgemeine Übel des Kapitalismus hin, doch die Konkretisierung der Analyse bleibt aus. In der Praxis führt dies dazu, dass er ein gemeinsames Programm der SozialistInnen für unmöglich hält, da die spezifische Situation verschiedener Länder zu verschieden sei und rechtfertigt damit gleichzeitig den jeweiligen Weg der damaligen sozialistischen Parteien Europas.
Gleichgewichtstheorie
Das fehlende Vertrauen in die Arbeiterklasse, die Unterschätzung des subjektiven Faktors und die fehlende Dialektik in Bauers Methode manifestieren sich in seiner Herangehensweise an politische Analysen und in den praktischen Schlüssen, die er daraus zog – oder umgekehrt passten sich seine theoretischen Annahmen an seine Praxis an. Dies lässt sich gut an seiner Gleichgewichtstheorie veranschaulichen. Die Gleichgewichtstheorie Bauers besagt, dass es in bestimmten geschichtlichen Perioden ein Kräftegleichgewicht zwischen Klassen gebe, in welchem keine sich den Staat völlig zunutze machen könne und sie daher auf Kompromisse angewiesen seien oder der Staat sich verselbstständige. Aus diesem Gleichgewicht der Klassen erklärt Bauer sowohl die „Diktatur der Bolschewiki“ (als Kompromiss zwischen Arbeiter- und Bauernklasse), als auch den deutschen Faschismus (zwischen Arbeiter- und Kapitalklasse).
Auf den ersten Blick hat diese Theorie durchaus Ähnlichkeit mit Marx und Engels‘ Herangehensweise an die Staatsfrage. Auch sie sprechen von Situationen eines scheinbaren Kräftegleichgewichtes, in welchen sich der Staat bis zu einem gewissen Grad verselbstständigt und, gestützt auf einen starken Militärapparat, zwischen den Klassen laviert (der sogenannte Bonapartismus). Der Unterschied besteht jedoch darin, dass Marx und Engels von einem „scheinbaren“ Gleichgewicht sprachen, jedoch betonen, dass der Staat stets im Interesse einer Klasse agiert. Was Otto Bauer durch diese Ungenauigkeit erreicht, wird bald klar, wenn er seine Gleichgewichtstheorie auf die Erste Republik in den 1920ern anwendet: Der Staat wird bei ihm aufgrund des Gleichgewichts zu einem neutralen Spielfeld, auf dem Klassen in einem gegenseitigen Kuhhandel politische Kompromisse aushandeln können. Auf dieser Basis sei der österreichische Staat kein bürgerlicher Staat mehr gewesen sondern eine „Volksrepublik“, der gleichermaßen den ArbeiterInnen und KapitalistInnen dienen könne. Somit wurde die Politik der Sozialdemokratie in der Zwischenkriegszeit gerechtfertigt. Man verließ sich auf das Parlament und akzeptierte die scheibchenweise Abschaffung der Demokratie durch die Christlich-Sozialen, man vermied den offenen Kampf gegen den immer aufmüpfiger werdenden Austrofaschismus so lange, bis er bereits aussichtslos war.
Denjenigen, die die Nachrichten verfolgen, kommt die Idee vom Staat als „neutrales Spielfeld“, auf dem man durch geschickte Diplomatie eigene Politik gestalten kann, wohl bekannt vor. Es war dies auch die Annahme der SYRIZA-Regierung, die hoffte, verschiedene EU-Fraktionen gegeneinander ausspielen zu können und die zentralen Instrumente der bürgerlichen Herrschaft, wie den bürgerlichen Staat, die EZB und die EU-Kommission durch „vernünftige“ Argumente vom Sparkurs abzubringen. In der Realität wird die Demokratie in den EU-Staaten seit Jahren je nach Bedarf ausgehebelt, und auch das demokratische Referendum über die Austeritätsmaßnahmen, das die griechische Bevölkerung mit einem klaren „Nein!“ (OXI) beantwortete, wurde völlig übergangen.
Die Kritik des Austromarxismus präsentiert, wie wir sehen, 100 Jahre alte Diskussionen die in ihrer Aktualität überraschen. Obgleich Czernetz in einigen Details Schwächen in seiner Analyse aufweist, werden zentrale Fragen wie die nach der Rolle der Führung, die Notwendigkeit von klaren Analysen und richtiger Methodik herausgestrichen.