Recep Tayyip Erdogan, seines Zeichens Sultan der Herzen im deutschen Außenamt ebenso wie in den konservativsten Kreisen der Türkei, befindet sich in einer anhaltenden Offensive gegen die grundlegendsten Freiheiten in der Türkei. Dabei setzt er die bürgerliche Herrschaft insgesamt auf Spiel, berichtet Kurt Bührle.
Die Türkei, das war für Bürgerliche ein Musterbeispiel für einen laizistischen Staat im Nahen Osten. In den Universitäten durften keine Kopftücher getragen werden, der Islam war staatlich geregelt. Ein allmächtiges Militär sicherte die „westlichen Werte“, Linke und Gewerkschafter wurden regelmäßig verfolgt und inhaftiert.
Doch ist das Land gespalten, nicht nur in Kurdistan und den Westen, sondern auch in die moderneren Gebiete im Westen und die islamisch geprägten Teile Zentralanatoliens und des Nordens. Bis heute haben sich die letzteren wechselseitig ergänzt, die Rückständigkeit des Landes war für die Eliten kein Problem, konnten die Armen vom Land doch immer am einfachsten in den Krieg, gerade gegen die KurdInnen, geschickt werden.
In den ersten Jahren der islamisch-konservativen AKP-Regierung mit einem massiven Wirtschaftsaufschwung änderte sich das ökonomische Bild der Türkei jedoch dramatisch – es fand auch eine gewisse Entwicklung dieser Landesteile statt.
Eine Schicht von „neuen“ ArbeiterInnen und KleinstunternehmerInnen schreibt dort das reale Wachstum ihres Lebensstandards in dieser Zeit der Politik der AKP zu. Dass ihnen nur der kleinste Teil des neuen Reichtums zugekommen ist, den Fabriksherren und Freunden Erdogans aber der Löwenanteil, ist zwar eine Tatsache, ändert jedoch nichts an ihrem Bewusstsein.
Letztes Jahr, als die AKP ihre absolute Mehrheit verloren hat, begann eine beispiellose Offensive gegen die kurdische Befreiungsbewegung und die gesamte Linke. Doch auch gegen die altehrwürdigen Parteien und Institutionen der Türkischen Republik schlägt Erdogan in seiner Schwäche immer mehr aus. Richter werden auf Geheiß des Präsidenten ausgetauscht, wenn sie seine Befehle nicht befolgen, Drohungen werden gegen jeden ausgesprochen, der die Türkei (Erdogan meint damit sich und seine Clique) in Verruf bringt. Zeitungen werden per Gerichtsbeschluss unter staatliche Kontrolle gestellt, vor kurzem etwa wurde die Redaktion der „Zaman“ unter Einsatz von Tränengas von der Polizei gestürmt. Auch nur die leiseste Kritik an der Führung kann schwere Strafen nach sich ziehen.
Gerade im Westen der Türkei werden gegen die zunehmend autoritäre Herrschaft in Verbindung mit islamistischen und osmanischen Gesten (Erdogans Frau bezeichnete in einer Rede Harems als eine „Schule fürs Leben“) immer wieder Stimmen laut. Die CHP (nationalistisch-sozialdemokratische Partei) protestiert dagegen im Parlament, die StudentInnen in den Unis, die AlevitInnen und andere Minderheiten immer wieder auf der Straße. Doch die bürgerlichen und reformistischen Führungen beschränken sich darauf, die kulturellen und autoritären Phänomene völlig isoliert zu betrachten. Sie verbergen oder verstehen nicht, dass es Erdogan nicht um einen Kampf kultureller Reaktion gegen fortschrittliche Lebensweisen geht, sondern um klar kalkulierte Machterhaltungspolitik in Zeiten einer tiefen Krise. Erdogan weiß, dass er den konservativen ArbeiterInnen und KleinbürgerInnen keinen sozialen Fortschritt mehr bringen kann, um sie ruhig zu halten. Er stützt sich deswegen auf religiöse Vorurteile und – unterdrückt brutal, wer sich davon nicht täuschen lässt.
Dass die zentrale Frage in der Türkei die Klassenfrage ist, zeigt sich sehr deutlich in Artvin. In diesem konservativen Idyll im ländlichen Nordosten will die Cengiz-Holding, die mit dem Regime eng verknüpft ist, ein Goldbergwerk bauen, das die ganze Region nachhaltig schädigen würde. Wie auch in Europa üblich gab es einen Gerichtsprozess und Gutachten. Cengiz ließ sich aber nicht von derartigen Kleinigkeiten aufhalten und ließ schon mal die Bagger vorfahren. Die AnwohnerInnen, nicht bekannt als Staatsfeinde oder Revolutionäre, haben sich ihnen in den Weg gestellt. Dies führte zu einer Bewegung die nicht nur in Artvin praktisch alle BürgerInnen auf die Straßen gebracht hat, sie blockierten auch gewaltsam und mit Barrikaden die Zufahrtsstraßen. Nach einigen Tagen ließ der Staatsapparat die Polizei mit Wasserwerfern auffahren, um die Arbeiten beginnen zu können, für die es noch gar keinen gerichtlichen Bescheid gab. Den BewohnerInnen gelang es jedoch durch konsequente Massenmobilisierungen und massiven öffentlichen Druck die Arbeiten zu verhindern und den Streit zurück ins Gericht zu bringen.
Auch sonst ist es nicht ruhig im Klassenkampf. Zwar gibt es im Moment keine zentralen Aktionen oder Massenstreiks gegen arbeiterfeindliche Gesetze, an vielen Arbeitsplätzen wurde und wird aber trotz wachsender Repression gekämpft.
So etwa bei Renault, wo die ArbeiterInnen seit Monaten dafür kämpfen, ihre eigene gewerkschaftliche Vertretung wählen zu können. Zuletzt ist auch hier die Polizei offensiver aufgetreten und hat den „Arbeitsfrieden“ wiederhergestellt.
Die Reihe an Kämpfen, die die ArbeiterInnen, die StudentInnen und die Jugend führen lässt sich beliebig fortsetzen, eines ist ihnen gemeinsam: Weder die HDP, noch die CHP oder die traditionellen Gewerkschaften spielen hier die organisierende und verallgemeinernde Rolle, die nötig wäre. Trotzdem ist der Druck enorm, was sich darin ausdrückt, dass selbst innerhalb der AKP kritische Stimmen gegenüber Erdogan aufkommen.
Doch trotz aller Kämpfe der verschiedenen Fraktionen des Kapitals – in einem sind sie sich alle einig. Das kündigt sich schon im Verfahren gegen HDP-Abgeordnete an, deren Immunität aufgehoben werden soll, was von Abgeordneten der oppositionellen bürgerlichen Parteien unterstützt wird. Nicht mit den Bürgerlichen ist der Kampf gegen Erdogan zu gewinnen. Als Vollstrecker des Kapitals kann ihn nur der entschiedene Widerstand der Arbeiterklasse stoppen. Die Kämpfe, die jetzt schon in der ganzen Türkei gegen Unternehmer und die Unterdrückung geführt werden, müssen unter Führung der Arbeiterklasse vereint werden. Jeden Tag beweisen die ArbeiterInnen und Jugendlichen in der ganzen Türkei ihre Kampfbereitschaft. Wir solidarisieren uns mit diesen Kämpfen und betonen dabei den gemeinsamen, revolutionären Charakter, lehnen aber ein Sektierertum gegenüber den rückständigen Schichten der Klasse entschieden ab. Die Aufgabe von Revolutionären in der Türkei ist es, entschlossen gegen alle Rückschritte auf sozialer, aber auch kultureller und demokratischer Ebene zu kämpfen. Gleichzeitig darf der Zugang zu den rückständigeren Schichten kein ablehnender, sondern der einer freundlichen, geduldigen Erklärung sein: Ein Bauarbeiter in Zentralanatolien, der in der Krise arbeitslos geworden ist, wird sich nicht ewig durch religiöse Rhetorik davon ablenken lassen, dass er kein Brot mehr auf seinem Teller hat!
Es ist klar: Mit dem Kapitalismus gibt es in der Türkei keinen Frieden für die ArbeiterInnen und Unterdrückten. Die stärkste Waffe von Erdogan ist die Spaltung anhand nationaler, religiöser und kultureller Linien. Er spielt damit ein gefährliches Spiel und setzt bewusst die Einheit des Landes aufs Spiel, um selbst an der Macht zu bleiben.
Wir dagegen stehen für die sozialistische Befreiung in der gesamten Türkei und in Kurdistan – für die freiwillige und revolutionäre Vereinigung der Arbeiterklasse, der Minderheiten und aller Unterdrückten in ihrem gemeinsamen Kampf!