„Wer Schengen killt, wird den Binnenmarkt zu Grabe tragen“, mit diesen scharfen Worten kommentiert EU-Kommissionspräsident Juncker im Jänner die Lage der europäischen Union. Er hat jeden Grund alarmiert zu sein. Ein Land nach dem anderen scheidet aus dem Europa des freien Personenverkehrs aus.
Die nationalistischen Töne werden immer schriller: Zuletzt verlautbarten die Staatschefs von Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei an der Grenze zu Griechenland eine „undurchdringliche neue zweite Verteidigungslinie“ befestigen zu wollen. Österreichs Außenpolitik verfolgt am Balkan dasselbe Ziel, Mikl-Leitner & Co. verbarrikadieren die Grenzen zu Ungarn, Slowenien und auch Italien, um die Obergrenze von 35.000 Flüchtlingen auch an den eigenen Grenzen gewaltsam durchzusetzen. Im Norden schlägt Schweden den Nachbarländern Dänemark und Norwegen eine neue Union vor, die auf der Abschottung von Deutschland beruhen sollte. Selbst die Achse Paris-Berlin, in der Vergangenheit Motor der europäischen Integration, wird von Frankreich öffentlich gebrochen.
Auslöser dieses Auseinanderbrechens ist die Flüchtlingskrise. Die Rechten malen seit Monaten das Gespenst an die Wand, dass EU-Europa von einer Million Flüchtlingen allseits in seiner Sicherheit, kulturellen Identitäten und wirtschaftlichen Tragfähigkeit bedroht wird. Es geht hier um einen Bevölkerungszuwachs von 0,2%. Diese lächerliche Zahl wird zum Katalysator aller Widersprüche. Ein Land nach dem anderen suspendiert nun „temporär“ den Schengen-Vertrag, ein gemeinsames politisches Vorgehen der EU ist gescheitert. Eine solche gesamteuropäische Lösung hätte zwei Voraussetzungen: Erstens ein erkauftes Abkommen mit der Erdogan-Türkei, wobei die EU dafür geflissentlich alle Menschenrechtsverbrechen vertuscht, um mit diesem Gangster vertragseinig zu werden. Die zweite würde bedeuten, das Mittelmeer zu einem Massengrab zu machen. Der Druck auf Athen wird immer größer, dass es zur „Flüchtlingsabwehr“ (Mikl-Leitner) auch seine Kriegsflotte einsetzt. Um die innereuropäischen Widersprüche nicht weiter zuzuspitzen und damit das Europa des freien Kapitalverkehrs zu schützen, schrecken seine PolitikerInnen vor keiner Barbarei zurück. Es ist wie Lenin es bereits 1915 sagte: Der Traum eines vereinten kapitalistischen Europas ist eine reaktionäre Utopie.
Die Ursachen der EU-Krise liegen jedoch viel tiefer, und sind v.a. wirtschaftlicher Natur. Das Wirtschaftswachstum der Eurozone kam 2015 auf magere 1,5%, obwohl die EZB seit März vergangenen Jahres 1.100 Mrd. € an frischem Geld in die Wirtschaft pumpte. Dieses Geld verlässt die Sphäre der Finanzzirkulation aber kaum. Laut Angaben der EZB parken die Banken 80% des frischen Geldes wieder in der EZB.
Die Banken agieren so, weil sie weiter auf Bergen fauler Kredite sitzen. Studien gehen davon aus, dass aktuell 1.000 Mrd. € an in der EU vergebenen Krediten nicht zurückgezahlt werden können. Das frische Kapital der EZB wird also folgerichtig genützt, um flüssige Rücklagen für aktuelle und kommende Zahlungsausfälle aufzubauen.
Das Kreditsystem spiegelt dabei nur die Situation in der sogenannten „Realwirtschaft“ wider. Tatsächlich liegen die jährlichen produktiven Investitionen in der Euro-Zone noch immer 20% unter dem Vorkrisenniveau – ohne Aussicht auf Besserung. Die massiven Sparpakete, vor allem im Süden Europas, würgen die Binnennachfrage ab. Die Krise in den „Schwellenländern“, insbesondere in China, droht die gesamte Weltwirtschaft erneut nach unten zu ziehen. Die massiven Verluste an den Aktienmärkten spiegeln wider, dass viel Sand im kapitalistischen Getriebe ist.
Die Krise der EU wird nunmehr als „Merkels Isolation“ beschrieben. Als sie im vergangenen September scheinbar ihr Herz und die deutschen Grenzen geöffnet hat, tat sie dies aus reinem Kalkül. Einerseits wollte sie sich zum politischen Ausdruck der tief empfundenen Solidarität der Jugend und der Arbeiterklasse mit den Opfern des Syrienkrieges stilisieren. Den Rechenstift aber legte sie dabei nie zur Seite. Sie setzte darauf, mittels der Flüchtlinge mittelfristig den Druck auf den Arbeitsmarkt zu erhöhen. Sie verfolgte damit aber auch das strategische Ziel durch eine Vorleistung Deutschlands eine „gesamteuropäische Lösung“ zu erzwingen. Wir müssen verstehen, für Deutschlands Industrie ist Europa der Heimmarkt: 45,6 % des deutschen BIPs werden durch Export erwirtschaftet. Niemand würde durch ein Auseinanderbrechen des Schengen-Raumes wirtschaftlich mehr leiden als Deutschland, niemand hat mehr bisher von der Integration Europas profitiert als seine stärkste Wirtschaftsmacht.
Doch die Eskapaden des ungarischen Ministerpräsidenten Orban waren nur die ersten Sterbeglocken, die nun europaweit die Renaissance des Nationalismus einläuten. Die Idee von einem geeinten Europa liegt mittlerweile vollständig in Scherben.
Doch auf dem Kontinent herrscht auch bei den ArbeiterInnen und Jugendlichen eine Stimmung von Misstrauen bis offener Feindschaft gegenüber der EU vor. Diese ist wohlbegründet. Die EU ist Inbegriff der Herrschaft der Banken und Konzerne, die eisern Austerität einfordert, die durch kein demokratisches Votum gestoppt werden kann, wie die Nichtbeachtung des griechischen „Nein!“ vom 5. Juli 2015 gezeigt hat. Offiziell 25 Millionen Arbeitslose und 120 Millionen unter der Armutsgrenze sind die vorläufige Binnen-Bilanz der kapitalistischen Integration des Kontinents.
Diese soziale Katastrophe hat in Ländern wie Spanien, Griechenland und Portugal zu einer Massenradikalisierung nach links geführt, in anderen Ländern (inklusive Österreich) vorerst zum Aufstieg von rechten Bewegungen. Die Krise der traditionellen Parteien ist nicht mehr wegzureden.
Wo die Rechte zulegt, ist dies eine direkte Folge des Versagens der Linken: Der Rassismus kann nicht durch die Verteidigung von Schengen bekämpft werden, dem Nationalismus kann nicht entgegengetreten werden, indem man die EU zu demokratisieren verspricht. Wer diese reaktionären Verträge bewahren will, führt die Arbeiterbewegung in eine gefährliche Sackgasse. Stattdessen müssen wir eine revolutionäre Alternative formulieren.
Ein friedliches Europa, das seinen Wohlstand, seine Wissenschaft und seine Produktionskapazitäten für die harmonische Entwicklung unserer Gesellschaft einsetzt, ist nur als ein sozialistisches Europa denkbar. Es gilt sich sowohl von jenen Kapitalfraktionen, die für „mehr“ Europa, als auch jenen, die „weniger“ Europa wollen, zu distanzieren. Diese Tendenzen spiegeln nur wider, dass unterschiedliche Teile des Kapitals die Ausbeutung der Arbeiterklasse unter unterschiedlichen Rahmenbedingungen jeweils besser gestalten könnten.
Diesem Treiben muss ein solidarischer und internationalistischer Standpunkt der Arbeiterklasse entgegengesetzt werden. Kani Beko, Präsident des türkischen Gewerkschaftsverbandes DISK, sagte dazu unlängst: „Die syrischen Flüchtlinge sind für uns keine Konkurrenz, sondern Geschwister und Teil der türkischen Arbeiterklasse. Wir werden gemeinsam für Ihre Rechte kämpfen.“ Dem ist voll zuzustimmen.
Wien, 17. Februar 2016
Weitere Themen der neuen Ausgabe:
- Österreich
- Pensionssystem: Ist das noch finanzierbar?
- Bilanz Antifa-Demos: Keinen Fußbreit zurück weichen!
- Flüchtlingshilfe muss politisch werden
- Sozialabbau: Kürzungen voraus
- Betrieb & Gewerkschaft
- KV-Abschluss: Von BAGS zu SWÖ
- Vermögensverteilung: Reich trotz Krise
- Gesellschaft
- Charity: Die Heuchelei der Wohltätigkeit
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- Entstehung der Frauenunterdrückung
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- Kultur
- Krise goes to Hollywood – Filmkritik „The big short“
- International
- Griechenland: Auf, auf zum Kampf!
- Saudi Arabien: Der Gottesstaat wankt
- Cizre: Massenmord und Heuchelei des Westens
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