Zur Erinnerung an den italienischen Revolutionär und Begründer der Kommunistischen Partei, der am 27. April 1937 im faschistischen Kerker starb, wiederveröffentlichen wir einen Artikel aus dem Jahr 2008.
„Die großen Revolutionäre wurden zu Lebzeiten von den unterdrückenden Klassen ständig verfolgt, die ihrer Lehre mit wildestem Ingrimm und wütendstem Hass begegneten, mit zügellosen Lügen und Verleumdungen gegen sie zu Felde zogen. Nach ihrem Tode versucht man, sie in harmlose Götzen zu verwandeln, sie sozusagen heilig zu sprechen, man gesteht ihrem Namen einen gewissen Ruhm zu zur ‚Tröstung’ und Betörung der unterdrückten Klassen, wobei man ihre revolutionäre Lehre des Inhalts beraubt, ihr die revolutionäre Spitze abbricht, sie vulgarisiert. Bei einer solchen ‚Bearbeitung’ des Marxismus findet sich jetzt die Bourgeoisie mit den Opportunisten innerhalb der Arbeiterbewegung zusammen.“ (Lenin, Staat und Revolution)
Das Schicksal, post mortuum in einen harmlosen Götzen verwandelt zu werden, hat wohl selten jemanden schlimmer ereilt als den italienischen Kommunisten Antonio Gramsci. Vom UNO- und ILO-Theoretiker Robert Cox zum Mainstream am Institut für Internationale Entwicklung, von der Führung der sozialistischen Jugendorganisationen bis zum SP-Klubobmann Josef Cap, sie alle geben vor, sich in ihren Theorien und Politikpraxen auf Antonio Gramsci zu stützen. Der sogenannte „Neogramscianismus“ ist heute international der dernier cri am theoretischen Modehimmel der akademischen Linken und des politischen Reformismus.
Was uns dabei unter dem schicken Label „Gramsci“ an Konzepten präsentiert wird, hat mit Gramscis theoretischem Werk und seinem politischen Wirken nur sehr wenig zu gemein.
Antonio Gramsci, Leninist und Generalsekretär der PCI
Antonio Gramsci gründete 1919 unter dem Eindruck der siegreichen Revolution in Russland die sozialistische Zeitung L’Ordine Nuovo („Neue Ordnung“) und spielte eine führende Rolle in der Rätebewegung von Turin. 1921 am Kongress der Sozialistischen Partei von Livorno gehörte zu den Hauptvertretern des linken Flügels, welcher in der Folge die Kommunistische Partei Italiens gründete. Die folgenden beiden Jahre verbrachte er als Delegierter der Komintern in Russland, weil 1922 der Faschismus die Macht in Italien ergriff. In dieser Zeit setzte sich Gramsci intensiv mit den Theorien und Taktiken Lenins auseinander, um die Gründe für die Niederlage der italienischen ArbeiterInnenbewegung zu analysieren und theoretisch zu verarbeiten. Besonderen Eindruck machte auf ihn Lenins Theorie von der Einheitsfront, mit der die Kommunistischen Parteien im Westen die Hegemonie über die ArbeiterInnenklasse erringen sollten, eine Theorie, die in Lenins Buch Der „Linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus dargelegt wird.
Zurück in Italien versuchte er die KPI entlang der Einheitsfronttaktik neu auszurichten. Als Gramsci 1926 verhaftet wurde, sah er sich als Bolschewik und Leninist, wie die beiden von ihm in diesem Jahr verfassten Texte „Die ersten fünf Jahre der Partei“ und „Die italienische Situation und die Aufgaben der KPI“ (Thesen von Lyon) nachdrücklich zeigen.
Die Bedeutung der Gefängnishefte
Zwischen 1929 und 1935 verfasste Gramsci in der Gefangenschaft eine Vielzahl von Texten, die nach seinem Tod als „Gefängnishefte“ herausgegeben wurden. Neogramscianer unterstellen, dass Gramsci zwischen 1926 und 1929 einen politischen Wandlungsprozess um 180 Grad durchgemacht habe. Dieser Lesart zufolge gäbe es zwei Gramscis, den Leninisten vor 1926 und jenen der Gefängnishefte.
Gramsci war im Kerker der faschistischen Zensur unterworfen. Er fürchtete die ganze Zeit, dass ihm Feder und Papier entzogen werden. Deshalb nahm er zu einem akademisch- soziologischen Stil zuflucht, benutzte für sämtliche Personen und marxistische Begriffe Decknamen und verschlüsselte Begriffe. „Staatsfeindliche, umstürzlerische“ Ideen wie die des revolutionären Aufstandes konnte er unmöglich in den Gefängnisheften offen formulieren. Kein Wunder, dass dies das Herz des akademischen Soziologen höher schlagen lässt. Die Gefängnishefte sind in Form von Notizen geschrieben und richten sich nicht an ein öffentliches Publikum. Gramsci verfasste sie hauptsächlich um innerhalb der Gefängnismauern nicht verrückt zu werden oder abzustumpfen. Aus all diesen Gründen sind zahlreiche Passagen unklar und schwammig formuliert.
Hinzu kommt, dass die Gefängnishefte vor ihrer Veröffentlichung durch die Hand der Führung der damals extrem stalinhörigen KPI gingen. Parteichef Togliatti richtete die KPI nach 1945 stark auf eine sozialpartnerschaftliche Teilung der Macht mit den konservativen Christdemokraten aus, die in den 1970er Jahren im historischen Kompromiss gipfelte. Togliatti – und nach ihm der französische KP-Ideologe Althusser – versuchten mit Hilfe einer gezielten Veröffentlichung der Gefängnishefte den neuen Kurs der Klassenzusammenarbeit zu rechtfertigen. Ende der 1970er Jahre fand durch die engen Kontakte von Josef Cap, dem damaligen Vorsitzenden der SJÖ, mit der KPI die Beschäftigung mit Gramsci auch Eingang in die österreichische Linke.
Diejenigen, die Gramscis Verwandlung in einen harmlosen Götzen betreiben, machen sich dabei nicht nur seine Zwangslage im Gefängnis zu Nutze, sondern auch die Zensur von Faschismus und Stalinismus, den monströsesten Diktaturen des 20. Jahrhunderts.
In Wirklichkeit wird jede nur annähernd kritische Studie der Gefängnishefte ergeben, dass zwischen dem Gramsci vor 1926 und dem Gramsci nach 1929 kein Blatt Papier Platz hat. Er hat sich sehr wohl weiter entwickelt, aber weiterhin auf der Grundlage des revolutionären Marxismus.
Gramscis Hegemonie- und Staatstheorie
Das Herzstück seines Ideengebäudes ist seine Hegemonietheorie und das damit verbundene Konzept der „società civile“. Der italienische Name „Società civile“ bedeutet dabei nicht etwa „Zivilgesellschaft“ im modernen Sinn der Politikwissenschaften, sondern „bürgerliche Gesellschaft“ und bezeichnet in der Begrifflichkeit von Hegel und Marx einen Aspekt der menschlichen Lebensverhältnisse, der analytisch zwischen der ökonomischen Basis der Besitz- und Produktionsverhältnisse und dem politischen Überbau der Staatsgewalt angesiedelt ist: Gramsci versteht darunter alle Arten von Vereinen, Standesorganisationen, Kirchen, Gewerkschaften, Parteien, aber auch das Bildungswesen, die Kultur, die Massenmedien, sowie die Moral, den Alltagsverstand und die Folklore. (Vgl. Gramsci, Passato e Presente, Torino 1966, Opere Bd. 7, S. 172.)
Die ökonomische herrschende Klasse kann laut Gramsci nur dann die politische Macht behaupten, wenn sie sich zusätzlich zur Staatsgewalt auch die Hegemonie auf der Ebene der bürgerlichen Gesellschaft sichert. Diese Idee, dass der Staat sich nicht auf die Rolle eines Unterdrückungsinstruments beschränken darf, sondern zusätzlich auch den Schein eines neutralen Vermittlers zwischen den Klassen erwecken und Repräsentanten der gesamten Gesellschaft schaffen muss, findet sich bereits bei Marx, Engels und Lenin. Gramsci selbst sieht Lenin als Vater der Lehre der Hegemonie, indem er über ihn schreibt:
„Der ‚größte moderne Theoretiker der Philosophie der Praxis’ [hat] auf dem Gebiet der politischen Organisation und des Kampfes, gegen die verschiedenen ‚ökonomistischen’ Tendenzen, die Front des kulturellen Kampfes, in politische Terminologie gefasst, aufgewertet und die Lehre von der Hegemonie als Ergänzung zur Theorie des Gewaltstaates und als aktuelle Form der Lehre von 1848, der Lehre von der ‚permanenten Revolution’ entwickelt.“ (Il materialismo storico e la filosofia die Benedetto Croce, Torino 1966, Opere Bd. 2;, S. 201 f, )
Gramsci sieht den Staat als untrennbare Einheit von politischer und bürgerlicher Gesellschaft
(Vgl. Gramsci, Passato e Presente, Torino 1966, Opere Bd. 7, S. 72.) und ortet zudem einen immer weiter gehenden Prozess der Verstaatlichung der bürgerlichen Gesellschaft (Gli intelettuali e l‘ organizzazione della cultura, Torino 1966, Opere Bd. 3, S. 9). Er betrachtet die bürgerliche Gesellschaft dementsprechend nicht als neutralen Boden, der von jeder sozialen Gruppe erobert werden kann, sondern als ideologischen „Schützengraben“ der Herrschenden, der gegen die revolutionäre ArbeiterInnenklasse gerichtet ist. RevolutionärInnen müssen laut Gramsci versuchen, die Vorherrschaft dieser Schützengräben über die ArbeiterInnen und die Massen zu brechen, indem sie diese durch ihre eigene Hegemonie und Weltanschauung ersetzen.
Dazu sei es notwendig den Ökonomismus, d.h. die Fixierung auf den Kampf um ökonomische Reformen, zu überwinden und den revolutionären Kampf auf alle Ebenen der Gesellschaft auszudehnen und in einen allumfassenden Kampf der Weltanschauungen zu verwandeln. Lenin verlangte in seinem Kampf gegen den Ökonomismus, dass dieser seinen Kampf für die ökonomischen Interessen der ArbeiterInnenklasse mit der Überzeugungsarbeit für die sozialistische Weltanschauung und dem revolutionären Kampf gegen den Staat verbinden müsste. Dies steht in antagonistischem Widerspruch zur reformistischen Politik, die zwecks angeblich „leichterer Durchsetzbarkeit“ immer nur Teilforderungen aufstellt. Wie wir oben nachgewiesen haben, diente Lenins Streit mit dem Ökonomismus Gramsci zum Ausgangspunkt seiner Theoriebildung. Es ist daher kein Wunder, dass Gramsci auf Grund seiner Hegemonietheorie zu denselben Schlussfolgerungen gelangt wie Lenin:
„Die ‚Frage der Hegemonie des Proletariats’ ist ‚die Frage der sozialen Basis der proletarischen Diktatur und des Arbeiterstaates’.“ (Gramsci: Die süditalienische Frage, Berlin 1955.)
Und weiter in den Gefängnisheften:
„Wenn die Hegemonie ethisch-politisch ist, so muss sie auch ökonomisch sein.“ (Gramsci: Note sul Machiavelli, sulla politica e sullo stato moderno, Torino 1973, Opere Bd. 5; S. 31)
Gramsci ist der Meinung, dass eine Klasse nur dann die ethisch-politische Hegemonie verteidigen kann, wenn sie ökonomisch bereits herrscht. Eine unterdrückte Klasse kann nur dann die Hegemonie in Frage stellen, wenn sie gleichzeitig auch eine solche Rolle in der Produktion spielt, dass sie die ökonomische Herrschaft beanspruchen kann. Daher macht der Kampf um die Hegemonie nur dann Sinn, wenn er Hand in Hand geht mit dem ökonomischen Klassenkampf und mit dem revolutionären Kampf für die Errichtung des ArbeiterInnenstaates. (Vgl. Kramer, Annegret: Gramscis Interpretation des Marxismus in: Gesellschaft, Beiträge zur Marxschen Theorie 4, S. 65-118 Frankfurt am Main 1975, S. 19). Die Idee, Intellektuelle könnten losgelöst von einer auf die Produktion gestützten Organisation die Gesellschaft verändern, bezeichnet Gramsci in den Thesen von Lyon als „kleinbürgerlich“.
Unter dem Kampf für einen ArbeiterInnenstaat versteht Gramsci explizit einen revolutionären Aufstand. Gramsci sagt dazu selbst in den Thesen von Lyon, es sei „die grundlegende Aufgabe“ der Kommunistischen Parteien, „dem Proletariat und seinen Verbündeten das Problem des Aufstands gegen den bourgeoisen Staat und den Kampf für die Diktatur des Proletariats vorzulegen.“
Wenn Gramsci also von der Schaffung von revolutionärem Bewusstsein spricht, meint er also nichts anderes als das Bewusstsein, dass eine Revolution und letztlich ein Aufstand notwendig ist.
Stellungskrieg oder Bewegungskrieg
Diejenigen, die meinen Gramsci hätte aufbauend auf seiner Hegemonietheorie eine neue Taktik entwickelt, stützen sich vor allem auf eine einmalige, kurze Notiz Gramscis über die Frage von Bewegungskrieg und Stellungskrieg. Aus dieser Passage leiten sie ab, Gramsci habe in Westeuropa – im Gegensatz zum revolutionären Aufstand der russischen Oktoberrevolution – eine schrittweise Eroberung der Apparate der bürgerlichen Gesellschaft propagiert. In Wirklichkeit ist hier große Vorsicht bei der Interpretation geboten. So schreibt Gramsci etwa über den Stellungskrieg:
„Mir scheint, Ilici (Lenin, Anmerkung des Verfassers) hatte verstanden, dass eine Wendung vom Bewegungskrieg, der 1917 im Osten erfolgreich war, zum Stellungskrieg, als dem im Westen einzig möglichen, nötig war, wo […] die gesellschaftlichen Strukturen von selbst zu wohl ausgerüsteten Schützengräben werden konnten. Dies, so scheint mir, ist die Bedeutung der Formel von der ‚Einheitsfront’.“ (A. Gramsci: Note sul Machiavelli, sulla politica e sullo stato moderno, Torino 1973, Opere Bd. 5; S. 68.)
Gramsci spricht hier von der Wendung der Komintern im Jahr 1921, die vor allem von Lenin und Trotzki gegen Sinowjews Offensivtaktik durchgesetzt wurde. Die neue Parole der Komintern lautete: „Eroberung der Macht durch die Eroberung der Massen“. Zentrales Instrument der neuen Politik war die Einheitsfrontpolitik, in der es sich darum handeln sollte, im Kampf für Reformen an der Seite reformistischer Parteien und Gewerkschaften, die Überlegenheit der revolutionären Methodik und die Notwendigkeit der Revolution zu demonstrieren. Mit dieser Taktik sollte die ArbeiterInnenklasse dem Einfluss der bürgerlichen Schützengräben in Form der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie entzogen werden.
Wir sehen hier sehr klar, dass es Gramsci nicht darum gehen konnte, die Apparate der bürgerlichen Gesellschaft schrittweise zu erobern. Nein! Die Massen sollten erobert und dem Einfluss der Apparate der bürgerlichen Gesellschaft entzogen werden, um der Eroberung der Staatsgewalt eine soziale Basis zu verschaffen.
Die Formel von Bewegungskrieg und Stellungskrieg ist sehr unklar und missverständlich. Es zeigt sich hier, wie wenig sinnvoll es ist, aus einer einmaligen Notiz, die unter den Bedingungen der Zensur verfasst wurde, eine ganze Theorie abzuleiten. Gramsci hatte nie die Chance seine Theorie auszuformulieren. Er gibt aber bezüglich der Interpretation des Stellungskrieges einen eindeutigen Hinweis auf die ausformulierte Theorie von Lenin zur Einheitsfront und an die sollten wir uns aus Respekt gegenüber Gramsci selbst auch halten.
In Russland wurde der Schützengraben Reformismus über die Sowjets innerhalb von neun Monaten ausgehebelt, wenngleich auch dort die Massen erobert werden mussten. Gramscis Formulierung ist insofern treffend, als vor einer erfolgreichen Revolution zuerst durch geduldige Einheitsfrontpolitik die Massen den reformistischen Apparaten entrissen werden müssen, und das dies in Ländern mit entwickeltem Reformismus einen längeren Stellungskrieg erfordert als anderswo. Dies trifft noch mehr für die Zeit nach 1945 zu. Hier handelte es sich überhaupt erst wieder darum, durch geduldiges Arbeiten als marxistische Strömung in den Massenorganisationen Wurzeln in der ArbeiterInnenbewegung zu schlagen. Hier ist die Bezeichnung Stellungskrieg noch treffender.
Wichtig ist jedoch zu verstehen, dass es sich nicht um eine schrittweise Veränderung der Apparate handelt, sondern um eine schrittweise Verankerung revolutionärer Ideen in der Basis. Klar ist aber, dass an dem Punkt, an dem die Massen dem reformistischen Einfluss entzogen wurden, und das kann durch historische Ereignisse gewaltig beschleunigt werden, die Frage der Macht im Staat offen gestellt werden muss. Der Frontalangriff auf die Staatsmacht bleibt schlussendlich auch in Westeuropa nicht aus. Gramsci, der wie Lenin die Frage der Diktatur des Proletariats zu allen Zeiten ins Zentrum seiner Taktik stellte, wenn er nicht der Zensur unterstand, konnte das nicht anders sehen. Apparate, die nicht reformiert werden können, müssen schlussendlich zerschlagen und ersetzt werden.
Gramsci und Trotzki
Interessant ist, dass Gramsci bei der Ausarbeitung seiner Notiz vom Stellungskrieg von Trotzki beeinflusst war. Er schreibt in seiner Notiz zum Stellungskrieg:
„Einen Versuch eine Revision der aktuellen taktischen Methoden zu beginnen war vielleicht der von L.Dav. Br [Trotzki] am vierten Treffen [4. Kongress der Kommunistischen Internationale] dargelegte, als er einen Vergleich zwischen den östlichen und westlichen Fronten anstellte. Die erstere ist mit einem Mal gefallen, aber unvorhergesehene Kämpfe waren gefolgt; Im Falle letzterer würden die Kämpfe ‚im Voraus’ stattfinden. Die Frage, folglich, war ob die bürgerliche Gesellschaft vor oder nach der Machtergreifung ihren Widerstand leistet.“ (Vgl. A. Gramsci, Quaderni dal carcere, pagg. 801-802, Editori riuniti, 1979)
Später in der Notiz beschuldigt jedoch Gramsci denselben Trotzki, ohne Unterschied der historischen Bedingungen immer nur den Bewegungskrieg und den Frontalangriff als taktische Lösung vorzuschlagen. Hier unterliegt Gramsci einem Irrtum. Da Bordiga, der erste italienische Kommunist war, der sich der Linken Opposition anschloss, setzt Gramsci Trotzkismus mit Bordigas Konzepten gleich. Leider war Bordiga in Wirklichkeit Anhänger von Sinowjews Offensivtheorie und entsprach damit genau der Karikatur, die der Stalinismus vom Trotzkismus zeichnete.
Leider führte die Verwechslung von Trotzkismus mit dem linksradikalen Bordigismus auch dazu, dass Gramsci im Kampf zwischen Stalin und Trotzki, lange Zeit Stalin unterstützte. Ab 1929, als Stalin selbst eine ultralinke Linie einschlug, versuchte Gramsci jedoch aktiv zu den Schriften Trotzkis Zugang zu bekommen. 1931 trug er seinem Bruder auf, seinen offiziellen Bruch mit Stalins Linie bekannt zu machen. Gramscis Sekretär Pietro Tresso wurde Mitglied der 4. Internationale. 1930 wurde er als Trotzkist aus der KPI ausgeschlossen und 1943 von einem GPU-Kommando, das ihn vorher extra zu diesem Zweck aus einem Nazi-KZ befreit hatte, erschossen.
Neogramscianismus versus Gramsci
Der Neogramscianismus stellt nicht nur eine falsche Interpretation Gramscis dar, sondern eine Taktik, die genau die gegenteiligen Maßnahmen vorschlägt wie Gramsci. Laut Gramsci kann der Kampf gegen die Hegemonie der bürgerlichen Gesellschaft immer nur ein Kampf für die Hegemonie einer alternativen Weltanschauung, also des revolutionären Marxismus, einer alternativen Klasse, also des Proletariats, sein. Im Ringen um die Hegemonie geht es darum der Diktatur des Proletariats eine soziale Basis zu verschaffen.
Der Neogramscianismus hingegen versteht den Kampf um Hegemonie nicht als Kampf der revolutionär-sozialistischen Weltanschauung gegen alle Weltanschauungen, die kapitalistische Produktionsverhältnisse legitimieren, sondern er sieht meist als Feindbild lediglich den Neoliberalismus. Er ist blind gegenüber der Tatsache, dass gerade die Spielarten des Reformismus, die die kapitalistische Produktionsweise nicht in ihrer Existenz angreifen, die Gramsci wie Lenin als Ökonomismus und Trade-Unionismus bezeichnet, eine zentrale Rolle bei der Aufrechterhaltung der bürgerlichen Hegemonie spielen.
Die neoliberale Politik könnte sich in keinem Land der Erde für lange Zeit aufrechterhalten, wenn sie nicht durch den Reformismus der Gewerkschaftsbewegung und der offiziellen Linken gestützt werden würde, indem einerseits jeder Protest in institutionelle Bahnen der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates gelenkt wird und in dem andererseits keine alternative revolutionäre Konzeption und Praxis angeboten wird. Auf diese Weise wird die Linke und die ArbeiterInnenklasse der Hegemonie des Kapitals schutzlos ausgeliefert.
Der Neogramscianismus verhält sich selbst genau so wie eben der Ökonomismus und Trade-Unionismus, den Gramsci Zeit seines Lebens und vor allem auch in den Gefängnisheften bekämpft hat. Er möchte für einzelne anti-neoliberale, antikapitalistische Reformkonzepte eine Hegemonie gewinnen, ohne zu zeigen, dass echte, nachhaltige soziale Reformen mit der kapitalistischen Produktionsweise unvereinbar sind. Die Neogramscianer versuchen nicht vom Boden des revolutionären Kassenkampfs die Massen den bürgerlichen Schützengräben zu entziehen, er versucht die bürgerlichen Schützengräben selbst in Instrumente seiner Reformpolitik zu verwandeln. Die Hegemonie soll als Reformhegemonie in den Apparaten selbst geschaffen werden.
Die wesentliche Tragik des Neogramscianismus besteht darin, den Schein der Neutralität, den die bürgerliche Gesellschaft immer im Sinne der Hegemonie und Harmonie wahren muss, mit wirklicher Neutralität zu verwechseln.
Die Institutionen und Apparate der bürgerlichen Gesellschaft sind für den Neogramscianismus keine Schützengräben, die sich gegen die revolutionäre Minderheit richten und denen es die ArbeiterInnenmasse zu entreißen gilt, sondern neutrale Ebenen, die erobert und in Instrumente sozialer Emanzipation verwandelt werden könnten. Nicht der Slogan der von Gramsci begeistert begrüßten Wende der Komintern-Politik im Westen, „Eroberung der Massen zur Eroberung der Macht“ ist der Slogan der NeogramscianerInnen, sondern vielmehr „Marsch durch die Institutionen für eine bessere Welt auf dem Boden der kapitalistischen Produktionsweise und der vorhandenen bürgerlichen Gesellschaft“. Die neogramscianische Ideologie, die mit ihren ökonomistischen Konzepten genauso auf dem Boden des Kapitalismus steht wie der Neoliberalismus, spielt selbst auf der Universität, in der UNO, in der ILO und in VSSTÖ, SJ und als neue Modeideologie der akademischen und reformistischen Linken, oft eine wichtige Rolle in der bürgerlichen Hegemoniebildung. Robert W. Cox, der neben den Stalinisten Luis Althusser und Palmiro Togliatti zum eigentlichen Gründer des Neogramscianismus gezählt werden muss, hat es immerhin zum Direktor des „International Institute for Labor Studies“ der International Labor Organisation (ILO) geschafft. NeogramscianerInnen versuchen heute international mit Hilfe einer pseudomarxistischen Rhetorik trade-unionstische Konzepten wie Keynesianismus und Protektionismus zu legitimieren. Sie unterstützen das Vorgehen von NGOs, die im Auftrag von UNO und ILO in vielen Ländern der sogenannten Dritten Welt sozialpartnerschaftliche Konzepte gegen die vorhandene revolutionäre Linke durchzusetzen versuchen.
Der Kult um die Zivilgesellschaft
Wenn Gramsci selbst mit societa civile die bürgerliche Gesellschaft, mit Kirchen, Bildungssystem, Vereinen und Standesorganisationen bezeichnete und in ihr einen ideologischen Schützengraben gegen die revolutionäre ArbeiterInnenklasse sah, geben die Neogramscianer dem Begriff Zivilgesellschaft einen anderen weitegehend gegenteiligen Charakter. NeogramscianerInnen lassen die bürgerlichen Medienmonopole und die sogenannte internationale Staatengemeinschaft entscheiden, welche NGOs und Vereine den heiligen Namen Zivilgesellschaft für sich beanspruchen dürfen, in dem sie ihre Definition kritiklos übernehmen. Zudem wird im krassen Unterschied zu Gramsci der Zivilgesellschaft weitgehend Fortschrittlichkeit attestiert.
In Wirklichkeit benutzen vor allem die USA und die EU beispielsweise in der Ukraine, in Georgien, in Venezuela, in Pakistan und in vielen anderen Ländern, die sogenannte Zivilgesellschaft direkt als Rammbock zur Durchsetzung ihrer imperialistischen Interessen. Friedrich Ebert –Stiftung, die Olaf Palme Stiftung, die George Soros Open Society Stiftung, das Democratic Institute for International Affairs, die International Republican Institute, die Bilderberg Gruppe, das NGO Freedom House, so nennen sich die Financiers der sogenannten Nicht- Regierungsorganisationen, die selbst Hals über Kopf mit Regierungsparteien imperialistischer Ländern verstrickt sind und vielfach direkt von der US-Regierung finanziert sind (vgl. Wikipedia). Die von Gramsci diagnostizierte Verstaatlichung der bürgerlichen Gesellschaft findet in der Verstrickung von Imperialismus, NGOs, und Zivilgesellschaft einen weiteren Beweis.
Neogramscianismus, Bewusstsein und Philosophie der Praxis
NeogramscianerInnen sehen als wichtigsten Grund für die Schwäche der Linken das niedrige Bewusstsein der Massen, die angeblich tief in neoliberalen Vorurteilen verhaftet seien. Es gelte gegen den Neoliberalismus jede anti-neoliberale, reformistische Idee, vom Keynesianismus bis zum Protektionismus zu unterstützen, um den Neoliberalismus zu schwächen.
MarxistInnen hingegen sind der Meinung, dass der Neoliberalismus in den Augen der Mehrheit längst abgewirtschaftet hat, dass diese sich nach einer sozialen Wende sehnen. Das Problem liegt aber darin, dass eben die ReformistInnen an der Spitze der Gewerkschaften und der sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien jeden praktischen Versuch, das System zu verändern, niederhalten, in sozialpartnerschaftliche Bahnen lenken und dafür sorgen, dass die Massen nirgends ein Instrument der Gesellschaftsveränderung vorfinden.
Das ist der wirkliche Grund für die Passivität der Massen. Hinzu kommt, dass der Reformismus dem Neoliberalismus ideologisch unterlegen ist, weil er logisch inkonsistent ist. Der Reformismus möchte gegen den Kapitalismus vorgehen, aber gleichzeitig auf dem Boden der kapitalistischen Gesetzmäßigkeit bleiben, das heißt er möchte das System, auf dem er fußt, schwächen. Wenn die Massen ohne Angebot einer sozialen und ökonomischen Alternative danach gefragt werden, wer den Kapitalismus besser verwalten kann, werden sie tendenziell konservativ wählen. Kommt eine „linke“ Regierung an die Macht, scheitert sie an den Sachzwängen des Kapitalismus und treibt die Wähler wieder in die Arme der Rechten. Auf diese Weise wird der Reformismus zum Komplementär des Neoliberalismus in der bürgerlichen Gesellschaft. Der Reformismus, nicht der Neoliberalismus, wird so zum wichtigsten Schützengraben des Kapitals im Kampf gegen den sozialen Fortschritt. der Neogramscianismus selbst spielt am linken Rand des Reformismus eine kleine Nebenrolle in diesem Prozess. Wie können Schützengräben aufgebrochen werden? In dem wir es schaffen auf den Unis, in den Schulen und Betrieben, in der Gewerkschaft und den Organisationen der ArbeiterInnenschaft Herde der revolutionären Praxis zu schaffen, Kanäle, in denen sich der antikapitalistische Widerstand sammeln kann und sich mit einer sozialistischen, gesellschaftsübergreifenden Ideologie verbindet. Wir müssen zeigen, dass es sich lohnt tätig zu werden, weil die Tat in eine wirklich soziale Gesellschaft führt.
Diese Verbindung von ökonomischem Kampf mit sozialistischem Bewusstsein durch den subjektiven Faktor der revolutionären Kräfte war es, was Gramsci als Philosophie der Praxis bezeichnete. Eben genau diese Herangehensweise lehnen NeogramscianerInnen zu tiefst ab, weil sie sich durch revolutionäre Praxis und Ideologie in ihrem Marsch durch die Institutionen und der Stärkung von vermeintlichen Reformkräften gefährdet sehen. Den Namen Philosophie der Praxis verdient der Neogramscianismus höchstens aus dem Blickwinkel von ReformistInnen, für die sich ein marxistisches, gramscianisches Mäntelchen als praktisch erweist.