Wir veröffentlichen hiermit eine Reihe, die erstmals 2016 auf marxist.com publiziert wurde.
„Die Liebe zum Geld führt zum Übel”, sagt uns die Bibel. (1. Timotheus 6, 10). Nach dem Zusammenbruch der Finanzsysteme 2008 und der folgenden Wirtschaftskrise, die bis heute die Gesellschaft plagt, ist es schwer nicht mit diesen Worten aus der Bibel mitzufühlen. Von Adam Booth.
Eine ähnliche Sprache wiederholt sich im Roman ‚Die Menschenfreunde in zerlumpten Hosen‘ von Robert Tressell, das Anfang des 20. Jahrhunderts erschien und oft als moderne Bibel der ArbeiterInnenbewegung betrachtet wird. In dieser fiktiven Erzählung über das Leben der ArbeiterInnenklasse behauptet der Protagonist, ein Sozialist namens Owen, gegenüber seinen ungläubigen KollegInnen: „Geld ist die wichtigste Ursache für Armut“. Owen versucht seinen KollegInnen kühn zu erklären, dass „solange das gegenwärtige Geldsystem bestehen bleibt, (es) unmöglich ist, die Armut abzuschaffen, denn Anhäufungen an einigen Stellen bedeuten wenig oder gar nichts an anderen. Deshalb werden wir, solange das Geldsystem andauert, zwangsläufig Armut und alle die Übel haben, die sie mit sich bringt.“
„Das gegenwärtige Geldsystem hindert uns an der Durchführung der notwendigen Arbeit und bewirkt daher, dass es der Mehrzahl der Bevölkerung an den durch die Arbeit herstellbaren Dingen fehlt. Die Menschen leiden Mangel angesichts der Mittel, einen Überfluss zu schaffen. Sie bleiben arbeitslos, weil sie mit einer Goldkette gebunden und gefesselt sind.“
„Dieser systematische Raub wird bereits seit Generationen betrieben; der Wert der angehäuften Beute ist ungeheuer, und all das, der gesamte Reichtum, der sich
gegenwärtig im Besitz der Reichen befindet, ist rechtmäßig Eigentum der Arbeiterklasse – er ist ihr mit Hilfe des Geldtricks gestohlen worden.“
Geld, lässt uns Tressell durch seinen Helden Owen mitteilen, erscheint uns als mystische Kraft, als „Goldkette“, welche die große Mehrheit der Bevölkerung an ein Leben aus Leid und Schufterei fesselt; ein großartiger Trick, der der ArbeiterInnenklasse den Wohlstand vorschwindelt, den sie erzeugt hat. Wir sehen es überall um uns herum, allgegenwärtig und in Überfluss; und trotzdem finden wir inmitten dieser Fülle einen allgemeinen Bedarf. Innerhalb dieses „Geldsystems“ werden unsere Bedürfnisse auf das Bedürfnis nach Geld degradiert – mit den Worten von Bard aus Shakespeares Timon von Athen: „Gemeine Hure du der Menschen“.
Ob es nun die Geldpolitik der Zentralbanken ist, wie die beschönigend bezeichnete „Quantitative Easing“ (Quantitative Lockerung), die finanzielle Alchemie, die in den Glastürmen der Canary Wharf und der City of London betrieben wird; oder die utopischen Alternativen, die durch digitale Währungen, wie dem Bitcoin, angeboten werden: Für die meisten Menschen ist die Funktionsweise des modernen Geldsystems geheimnisumwoben.
Es ist wie mit allen verehrten Idolen der Klassengesellschaft, seien es nun Götter oder die Religion, das Recht und der Staat, durch die Anwendung der marxistischen Methode, d. h. durch eine dialektische und materialistische Analyse der Geschichte und der Gesellschaft – können wir die Ursprünge, die Evolution und die Entwicklung des Geldes erklären. Auf diese Weise können wir die Mystik dieser scheinbar allmächtigen Macht abstreifen und die Lösung verstehen, um den Zugriff auf uns entfernen.
Der Urkommunismus
Wenn wir die Geschichte studieren, können wir sehen, dass es das Geld nicht immer gegeben hat, sondern mit der Entwicklung der Klassengesellschaft und besonders der Entwicklung der Waren verknüpft ist, d. h. von Gütern, die nicht für den individuellen Konsum oder den des Gemeinwesens produziert werden, sondern für den Tausch. Für Marx liegt der Schlüssel zum Verständnis der Frage des Geldes in der Analyse der historischen Entwicklung der Warenproduktion und des Tausches. „Das Rätsel des Geldfetischs ist daher nur das sichtbar gewordne, die Augen blendende Rätsel des Warenfetischs”, schreibt Marx in seinem Hauptwerk ‚Das Kapital‘. (Band 1, S. 108)
Friedrich Engels, Marx’ Mitbegründer der Grundvorstellungen über den wissenschaftlichen Sozialismus, bezog sich auf die Pionierarbeit des amerikanischen Anthropologen Lewis H. Morgan aus dem 19. Jahrhundert. Er analysierte die frühesten Formen der menschlichen Gesellschaft und zeigt in seinem Klassiker ‚Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates‘ auf, dass die sozialen Klassen von Ausbeutern und Ausgebeuteten nicht immer existiert haben. Engels erklärte stattdessen, dass frühe Gesellschaften auf „Gens“ und Stämmen basierten, in denen es ein Gemeineigentum an Werkzeigen und Produkten gab. Die Gemeinwesen waren deshalb eine Form des „primitiven Kommunismus“, in dem es keinen Tausch zwischen Individuen gab, sondern vielmehr eine Produktion für das Gemeinwohl und den Konsum auf der Basis der Notwendigkeit. Gleichzeitig war dieser „Kommunismus“ „primitiv“, da er auf der Grundlage einer allgemeinen Knappheit existierte, die aus einem niedrigen Produktivitätsniveau und einem niedrigen Stand in der Technik und Kultur resultierte.
In seinem 2011 veröffentlichten Buch ‘Schulden: Die ersten 5000 Jahre’ zitiert der US-amerikanische Anthropologe David Graeber ein Beispiel, das sein Vorgänger Morgan über Irokesen Gens, eine Gruppe von Stämmen Nativer Amerikaner, aufführte und auf dessen Sozialstruktur sich auch Engels in seinem Werk stützte. Graeber schreibt: „Mitte des 19. Jahrhunderts wurde durch die Beschreibungen von Lewis Henry Morgan deutlich, dass die wichtigste ökonomische Einrichtung unter den Irokesen Langhäuser waren, in denen die meisten Güter gelagert und anschließend durch Frauenräte zugeteilt wurden, niemand handelte je Pfeilspitzen gegen Fleischlappen.“
An anderer Stelle stellt der Autor Felix Martin in seinem Buch ‚Geld – Die wahre Geschichte‘ dar, dass Geld in den ältesten bekannten Zivilisationen, die sich längs der mesopotamischen Flüsse Euphrat und Tigris, also im heutigen Irak, entwickelten, auch nicht existierte. Hier im alten Mesopotamien wurden die Bewässerungstechnik und die Landwirtschaft erfunden und im Gegenzug entstanden die ersten Städte, wie die Metropole Ur. „Zu Beginn des zweiten Jahrtausends vor unsrer Zeitrechnung“, schreibt Martin, „lebten mehr als sechzigtausend Menschen in der Stadt selbst … tausende Hektar Land wurden kultiviert… und weitere hunderte standen für die Milchwirtschaft und Schafherden zur Verfügung.“ In solchen Stadtwirtschaften, erklärt Martin, finden wir statt des Geldes ein System der hierarchischen Planung und Buchhaltung, die durch eine bürokratische Kaste verwaltet wurde und in der alle Produkte in den Lagern der Stadt (oftmals königliche Paläste oder Tempel) aufbewahrt wurden, mit beschrifteten Tafeln, die benutzt wurden, um Buch zu führen; „eine komplexe Ökonomie, die im Sinne eines ausgearbeiteten Systems der ökonomischen Planung verwaltet wurde, welche einem Manager in einem multinationalen Konzern bekannt vorkommen würde“.
Ob es nun der primitive Kommunismus der irokesischen Gens oder die in den mesopotamischen Städten beobachtete bürokratische Planung sind, es sind Beispiele, die zeigen, dass das Geld, und alle mit ihm verbundenen Übel, keine zeitlose, ewige Wahrheit ist. Um zu verstehen, was Geld ist und woher es gekommen ist, müssen wir die qualitative Transformation der sozialen Beziehungen, die in der Gesellschaft vor tausenden von Jahren stattfanden, analysieren.
Der Aufstieg des Geldes
Frühe griechische Gesellschaften, wie sie in den Epen von Homer, wie z.B. der Ilias und der Odyssee, beschrieben wurden, basierten wie die Irokesen auf Gens mit Gemeineigentum an den Produktivkräften und den hieraus resultierenden Produkten. Felix Martin beschreibt wie: „Für die Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern – Lebensmittel, Wasser und Kleidung – war es in erster Linie eine Ökonomie von autarken Haushalten, in denen die einzelnen Stammesmitglieder von den Produkten ihrer eigenen Ländereien lebten.“
Zusätzlich zu dieser Ökonomie der individuellen Versorgung gab es, so Martin, „drei einfache Mechanismen zur gesellschaftlichen Organisation bei Abwesenheit von Geld – ineinandergreifende Institutionen zur Verteilung der Beute, gegenseitiger Austausch von Geschenken und die Verteilung der Opfergaben“, die nicht „nur im antiken Griechenland einzigartig waren. Vielmehr haben moderne anthropologische und vergleichende historische Forschungen gezeigt, dass sie typisch für die Praktiken für Stammesgesellschaften in einem kleinen überschaubaren Rahmen und Raum waren.“
Der geschichtliche Wendepunkt erklärt Engels in ‘Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates’ setzte ein mit der Entwicklung des Privatbesitzes an Produktionsmitteln und er damit verbundenen Umwandlung gemeinschaftlicher Produkte in Waren. „Der aufkommende Privatbesitz an Herden und Luxusgerät führte zum Austausch zwischen einzelnen, zur Verwandlung der Produkte in Waren. Und hier liegt der Keim der ganzen folgenden Umwälzung. Sobald die Produzenten ihr Produkt nicht mehr selbst verzehrten, sondern im Austausch aus der Hand gaben, verloren sie die Herrschaft darüber. Sie wußten nicht mehr, was aus ihm wurde, und die Möglichkeit war gegeben, daß das Produkt dereinst verwandt werde gegen den Produzenten, zu seiner Ausbeutung und Unterdrückung. Darum kann keine Gesellschaft auf die Dauer die Herrschaft über ihre eigne Produktion und die Kontrolle über die gesellschaftlichen Wirkungen ihres Produktionsprozesses behalten, die nicht den Austausch zwischen einzelnen abschafft.“
„Wie rasch aber, nach dem Entstehn des Austausches zwischen einzelnen und mit der Verwandlung der Produkte in Waren, das Produkt seine Herrschaft über den Produzenten geltend macht, das sollten die Athener erfahren.“ (Kapitel V)
Der Prozess, den Engels beschreibt, entfaltet sich anfänglich, nicht innerhalb des Gemeinwesens, sondern an den Rändern einer bestimmten Gesellschaft mit dem Handel von Überschussprodukten zwischen verschiedenen Stämmen. Dieser Handel bringt den Tausch von produzierten Waren ins Rollen, weitet sich später innerhalb des Gemeinwesens aus, stärkt den Privatbesitz und beschleunigt die Auflösung der gemeinschaftlichen Bindungen. Die Entwicklung der Warenproduktion und des Tausches führte zur Ausweitung des Handels und mit dem wachsenden Handel entstand die Ware Geld – ein universelles Äquivalent, das als Tauschmittel fungieren konnte, den Handel über größere Entfernung erleichterte; eine einzige Ware die als Maßstab fungierte, mit der alle anderen verglichen werden konnten.
Ein solcher Prozess geschieht nicht bewusst oder geplant, sondern entsteht aus den Bedürfnissen der Gesellschaft, um den Handel und den Markt auszuweiten. Die ursprüngliche Ware, die den Status dieses universellen Äquivalents erhält, ist im historischen Sinne weitgehend zufällig; trotzdem ist sie in den materiellen Bedürfnissen dieser Gesellschaft verwurzelt und ist im Allgemeinen in der Anfangsphase diejenige, die als die wichtigste Ware der betreffenden Gesellschaft betrachtet wird. Marx schreibt dazu im ‚Kapital‘:
“Eine Ware scheint nicht erst Geld zu werden, weil die andren Waren allseitig ihre Werte in ihr darstellen, sondern sie scheinen umgekehrt allgemein ihre Werte in ihr darzustellen, weil sie Geld ist.“ (Band 1, S. 107)
Im Falle der amerikanischen Ureinwohner waren es Rinder, die als Geld-Ware entstand, wie Engels erklärt: „Ursprünglich tauschte Stamm mit Stamm, durch die gegenseitigen Gentilvorsteher; als aber die Herden anfingen in Sondereigentum überzugehn, überwog der Einzelaustausch mehr und mehr und wurde endlich einzige Form. Der Hauptartikel aber, den die Hirtenstämme an ihre Nachbarn im Tausch abgaben, war Vieh; Vieh wurde die Ware, in der alle andren Waren geschätzt und die überall gern im Austausch gegen jene genommen wurde – kurz, Vieh erhielt Geldfunktion und tat Gelddienste schon auf dieser Stufe. Mit solcher Notwendigkeit und Raschheit entwickelte sich schon im Anbeginn des Warenaustausches das Bedürfnis einer Geldware.“ (Kapitel IX)
Die Expansion und der Wachstum des Handels im antiken Griechenland führten zum Bedarf an der Geld-Ware, welche man über weite Strecken transportieren konnte. Aus diesem Grunde erleben wir im späten 6. Jahrhundert v.u.Z. das Aufkommen von Münzen, unter Verwendung von wertvollen Metallen, wie Gold und Silber, als Geld. Die vorteilhaften Materialeigenschaften solcher Metalle zum Gebrauch als Geld sind klar: Sie sind im Allgemeinen einheitlich und gleichmäßig in ihrer Qualität – ein Klumpen Gold ist mit jedem anderen gleichwertig, sie sind leicht in verschiedene Anteile teilbar (oder kombinierbar), sie sind langlebig und verfallen nicht oder verlieren nicht an Wert, das macht sie zu einer Wertanlage und vor allem haben sie eine hohe Wertdichte, bei der kleine Mengen wertvollen Metalls gleichwertig sind mit einer großen Menge anderer, weniger wertvoller Waren. Gold ist deshalb nicht wegen seiner verehrten ästhetischen Qualitäten Geld, sondern es wird als ästhetisch ansprechend angesehen, weil es Geld ist.
Der Aufstieg des Geldes und des Münzwesens stand, wie Engels erklärt, mit der zunehmenden Arbeitsteilung in der Klassengesellschaft in Zusammenhang und dem Auftreten einer Klasse, „ die sich nicht mehr mit der Produktion beschäftigt, sondern nur mit dem Austausch der Produkte – die Kaufleute.“
„Hier tritt zum erstenmal eine Klasse auf, die, ohne an der Produktion irgendwie Anteil zu nehmen, die Leitung der Produktion im ganzen und großen sich erobert und die Produzenten sich ökonomisch unterwirft; die sich zum unumgänglichen Vermittler zwischen je zwei Produzenten macht und sie beide ausbeutet. Unter dem Vorwand, den Produzenten die Mühe und das Risiko des Austausches abzunehmen, den Absatz ihrer Produkte nach entfernten Märkten auszudehnen, damit die nützlichste Klasse der Bevölkerung zu werden, bildet sich eine Klasse von Parasiten aus, echten gesellschaftlichen Schmarotzertieren, die als Lohn für sehr geringe wirkliche Leistungen sowohl von der heimischen wie von der fremden Produktion den Rahm abschöpft, rasch enorme Reichtümer und entsprechenden gesellschaftlichen Einfluß erwirbt und eben deshalb während der Periode der Zivilisation zu immer neuen Ehren und immer größerer Beherrschung der Produktion berufen ist, bis sie endlich auch selbst ein eignes Produkt zutage fördert – die periodischen Handelskrisen.“
„Auf unsrer vorliegenden Entwicklungsstufe hat die junge Kaufmannschaft allerdings noch keine Ahnung von den großen Dingen, die ihr bevorstehn. Aber sie bildet sich und macht sich unentbehrlich, und das genügt. Mit ihr aber bildet sich aus dem Metallgeld, die geprägte Münze, und mit dem Metallgeld ein neues Mittel zur Herrschaft des Nichtproduzenten über den Produzenten und seine Produktion. Die Ware der Waren, die alle andern Waren im Verborgnen in sich enthält, war entdeckt, das Zaubermittel, das sich nach Belieben in jedes wünschenswerte und gewünschte Ding verwandeln kann. Wer es hatte, beherrschte die Welt der Produktion, und wer hatte es vor allen? Der Kaufmann. In seiner Hand war der Kultus des Geldes sicher. Er sorgte dafür, daß es offenbar wurde, wie sehr alle Waren, damit alle Warenproduzenten, sich anbetend in den Staub werfen mußten vor dem Geld. Er bewies es praktisch, wie sehr alle anderen Formen des Reichtums nur selber bloßer Schein werden gegenüber dieser Verkörperung des Reichtums als solchem.“ (Kapitel IX)
Geld ist also, wie Engels erklärt, das Produkt des Privateigentums; das Ergebnis eines entstehenden Systems der Warenproduktion und des –austausches. Nachdem es ins Leben gerufen wurde, entwickelt das Geld jedoch seine eigene Logik, es wird durch die soziale Interaktion verbreitet und setzt seine kalten, herzlosen Gesetze in einem Lebensbereich nach dem anderen durch. Geld und Wucher, stellte Engels fest, waren „das Hauptmittel zur Unterdrückung der gemeinen Freiheit“, welche die alten gemeinschaftlichen Bindungen der griechischen Gens auseinanderbrachen und die Ungleichheit und die Ausbeutung in der neu entstehenden Klassengesellschaft des athenischen Staates verstärkten.
„Von hier aus drang die sich entwickelnde Geldwirtschaft wie zersetzendes Scheidewasser in die auf Naturalwirtschaft gegründete, althergebrachte Daseinsweise der Landgemeinden. Die Gentilverfassung ist mit Geldwirtschaft absolut unverträglich; der Ruin der attischen Parzellenbauern fiel zusammen mit der Lockerung der sie schützend umschlingenden alten Gentilbande. Der Schuldschein und die Gutsverpfändung (denn auch die Hypothek hatten die Athener schon erfunden) achteten weder Gens noch Phratrie. Und die alte Gentilverfassung kannte kein Geld, keinen Vorschuß, keine Geldschuld. Daher bildete die sich immer üppiger ausbreitende Geldherrschaft des Adels auch ein neues Gewohnheitsrecht aus zur Sicherung des Gläubigers gegen den Schuldner, zur Weihe der Ausbeutung des Kleinbauern durch den Geldbesitzer…“
„Mit der Warenproduktion kam die Bebauung des Bodens durch einzelne für eigne Rechnung, damit bald das Grundeigentum einzelner. Es kam ferner das Geld, die allgemeine Ware, gegen die alle andern austauschbar waren; aber indem die Menschen das Geld erfanden, dachten sie nicht daran, daß sie damit wieder eine neue gesellschaftliche Macht schufen, die eine allgemeine Macht, vor der die ganze Gesellschaft sich beugen mußte. Und diese neue, ohne Wissen und Willen ihrer eignen Erzeuger plötzlich emporgesprungne Macht war es, die, in der ganzen Brutalität ihrer Jugendlichkeit, ihre Herrschaft den Athenern zu fühlen gab.“
„Was war zu machen? Die alte Gentilverfassung hatte sich nicht nur ohnmächtig erwiesen gegen den Siegeszug des Geldes; sie war auch absolut unfähig, innerhalb ihres Rahmens selbst nur Raum zu finden für so etwas wie Geld, Gläubiger und Schuldner, Zwangseintreibung von Schulden. Aber die neue gesellschaftliche Macht war einmal da, und fromme Wünsche, Sehnsucht nach Rückkehr der guten alten Zeit trieben Geld und Zinswucher nicht wieder aus der Welt.“ (Kapitel V)
Kreditgeld
Wie Engels oben angedeutet hat, als er sich auf die „Sehnsucht nach Rückkehr der guten alten Zeit“ bezog, als „Geld und Wucher“ nicht existierten, solange es Geld gibt, gibt es Kredit und Schulden und seitdem es Wucher gab, gab es die „Zwangseintreibung von Schulden“ – „eine neue gesellschaftliche Macht …, „vor der die gesamte Gesellschaft sich beugen musste“. (ebd.)
Einige Geldtheoretiker, versuchen jedoch zu unterstreichen, dass Geld vor allem nichts weiter ist als ein System von Kredit und Schulden; eine Aufstellung von Konten und Bilanzen, welche die Verteilung des Wohlstands der Gesellschaft unter seiner Bevölkerung wiedergibt. Was wir hinsichtlich des Austausches von Münzen und Währungen, im Rahmen des Verständnisses Geld, sehen, ist nur ein Mittel zur Begleichung von Konten und zur Vornahme von Überweisungen zwischen den Konten – Geld als Zahlungsmittel. solche Vorstellungen, die allgemein als Kredittheorien bekannt sind, wurden Anfang des 20. Jahrhunderts vom britischen Ökonomen Alfred Mitchell Innes aufgestellt und werden nach Graeber in seinem Buch ‚Schulden: Die ersten 5000 Jahre’ durch moderne anthropologische Beweise unterstützt.
Innes und Graeber zufolge basiert unsere moderne Vorstellung von Geld, wie sie in akademischen Lehrwerken beschrieben wird, im Wesentlichen auf einem Mythos: dem „Mythos vom Tauschhandel“, wie Graeber ihn beschreibt, der sich als Ergebnis der Werke der klassischen politischen Ökonomen wie Adam Smith und David Ricardo und sogar des antiken griechischen Philosophen Aristoteles in die allgemeine Meinung und das allgemeine Bewusstsein ausgebreitet hat.
Für die klassischen Ökonomen wurde Geld in erster Linie als Tauschmittel betrachtet – eine einzige Ware, die sich über alles erhebt, um allgemein akzeptiert zu werden, um den Handel zu erleichtern. Der Gebrauch einer speziellen Ware als Geld, wie z.B. Gold, lag in ihrer hohen Wertdichte. Bevor es Geld gab, besagt die Geschichte, gab es den Handel ausschließlich durch Tausch. Das warf Schwierigkeiten auf, denn es würde sowohl voraussetzen, dass Individuen mit wechselseitigen Bedürfnissen aufeinandertrafen als auch, dass gehandelte Waren, die bereit zum Austausch standen, transportiert wurden. Daher kam es zur Erfindung des Geldes, um die Grenzen des Tauschhandels zu überwinden und die Vielzahl der Waren, die getauscht werden konnten, und die Distanz, über die sie gehandelt wurden, zu vergrößern.
Das Problem, bemerkt Graeber und zitiert die Anthropologin Caroline Humphrey ist Folgendes: “Es ist bisher keine reine und einfache Form der Tauschwirtschaft je beschrieben worden, geschweige denn die Entstehung des Geldes aus ihr; alles was in der vergleichenden Völkerkunde bekannt ist, besagt, es hat nie so etwas gegeben.“ Es sollte beachtet werden, dass diese anthropologische Schilderung vom “Mythos des Tauschhandels” auf der Suche nach einer Tauschwirtschaft – d. h. nach einem Gemeinwesen, in welcher der interne Austausch von Gütern durch Tauschhandel stattfand. Aber wie Engels (und Marx) bemerkten, die Entwicklung des Warenaustausches durch Tauschhandel tritt ursprünglich nicht innerhalb des Gemeinwesens auf, sondern von außen, an den Rändern, wo verschiedene Stämme interagierten. Es sollte deshalb nicht überraschen, dass kein „Beispiel für eine Tauschwirtschaft“ in der Geschichte gefunden wurde. Für diejenigen, welche die Kredittheorie aufstellten, im Gegensatz zu den klassischen Ökonomen und deren Werttheorie des Geldes, ist die wichtigste Rolle des Geldes nicht die des Tauschmittels, sondern die einer Rechnungseinheit. Im heutigen modernen Kapitalismus, mit seinem hochentwickelten Kreditsystem, seinem Mindestreserve-Bankwesen und seinen elektronischen Überweisungen, mag die Vorstellung, dass Geld mehr als Münzen und Bargeldumlauf ist, offensichtlich erscheinen. Aber zu den Zeiten von Smith, Ricardo u. a. wurde eine solche Vorstellung nicht als selbstverständliche Wahrheit betrachtet. Selbst heute gibt es diejenigen, die in Anbetracht des Zusammenbruchs des Finanzsystems als Folge der Bankenkrise von 2008 und ganz zu schweigen von den sich immer weiter aufblähenden Kreditblasen und das Drucken von Geld durch die quantitative Lockerung, die heute ihre Fortsetzung findet, nach der Rückkehr des Goldstandards rufen, um Ruhe und Ordnung im weltweiten Geldsystem wiederherzustellen.
Als Mittel für Berechnung stellt Geld in erster Linie ein System von Krediten und Schulden dar. Wie Graeber betont: „Wir haben nicht mit dem Tauschhandel begonnen, Geld entdeckt und dann schließlich die Kreditsysteme entwickelt. Es geschah genau anders herum. Was wir heute als virtuelles Geld bezeichnen, kam zuerst. Münzen kamen viel später und ihre Verwendung breitete sich ungleichmäßig aus und ersetzte niemals das Kreditsystem vollständig“.
Felix Martin stellt in seinem Buch ‚Geld – Die wahre Geschichte‘ zwei Beispiele heraus, um diesen Punkt zu betonen. Das erste Beispiel sind die Menschen von Yap, einer entfernten und abgeschiedenen Insel im Pazifik. Der US-amerikanische Anthropologe William Furness besuchte Yap 1903 und war erstaunt, dass die Ökonomie der Insel nur aus einigen wenigen gehandelten Waren bestand und was noch wichtiger war, es gab weder einen Tauschhandel noch eine Währung, die als Tauschmittel fungierte. Stattdessen hatte Yap ein hoch entwickeltes Währungssystem, wozu auch große Steinräder – „fei“ genannt – die eine Größe von bis zu 12 Zoll hatten, gehörten. Sie wurden verwendet, um die den unterschiedlichen Wohlstand der Individuen innerhalb des Gemeinwesens darzustellen.
Insbesondere, sagt Martin, „beobachtete Furness, dass der physische Transport des „fei“ von einem Haus zu einem anderen höchst selten war. Es fanden zahlreiche Transaktionen statt, aber die entstandenen Schulden wurden normalerweise miteinander verrechnet, jeder ausstehende Betrag wurde in Erwartung eines zukünftigen Tausches übertragen. Selbst wenn offene Rechnungen beglichen werden mussten, war es nicht üblich einen „fei“ physisch auszutauschen.“ Martin fährt fort: „Das Geld auf Yap war nicht der „fei“, sondern das zugrundeliegende System von Kreditkonten und Bezahlung, wobei die „fei“ halfen den Überblick zu behalten. Die „fei“ waren nur Spielsteine, mit deren Hilfe die Konten geführt wurden“.
Martin nennt ein weiteres Beispiel für ein solches Kreditgeld in Form von Kerbhölzern – Holzstöcke, die in England zwischen dem 12. und 18. Jahrhundert verwendet wurden, um Zahlungen an oder vom Staat aufzuzeichnen. Solche Stäbe wurden in der Mitte gespalten und der Kreditgeber und der Gläubiger behielten eine Hälfte als Beleg über die Zahlung. Insbesondere die Hälfte des Kreditgebers konnte als Zahlungsmittel verwendet werden – eine Form der finanziellen Sicherheit, die man mit einem anderen Individuum tauschen konnte, um eine unverwandte Schuld zu begleichen.
Diese Kerbhölzer wurden 1834 endgültig abgeschafft und durch die Bank von England durch ein System von Papierscheinen ersetzt. Die verbliebenen Kerbhölzer wurden verbrannt und zerstört und ließen nur wenige Beweise für ihre Existenz zurück. Aus ähnlichen Gründen, bemerkt Martin, könnte die objektiven Beweise für alle Arten von Währungssystemen in der Geschichte – und besonders von Kreditsystemen, die schriftliche Berichte beinhalteten – für immer verloren gegangen sein und nur die Hartwährung in Form von Münzen hat bis heute überlebt. Als Ergebnis, stellen Martin und Graeber die These auf, dass uns vor allem ein Begriff von Geld geblieben ist, der materielle Waren, wie wertvolle Metalle, in den Vordergrund stellt.