Die Debatte über Verstaatlichungen ist jetzt auch in Österreich angekommen: seit der deutsche Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert sich in einem Zeit-Interview offen als Sozialist bezeichnet hat und für die Kollektivierung von Wohnraum und Großkonzernen wie BMW argumentiert hat, hat sich auch die SJ-Vorsitzende Julia Herr für die langfristige Perspektive von Verstaatlichung von Großkonzernen ausgesprochen. Prompt attackierten die treuen Vertreter der KapitalistInnen sie dafür. Von Yola Kipcak.
>>>Über die Debatte in Deutschland, und darüber, was für SozialistInnen Verstaatlichung bedeutet, empfehlen wir diesen Artikel unserer deutschen Schwesternzeitung.<<<
ÖVP-Nationalratsabgeordneter Andreas Ottenschläger meinte zum Interview von Julia Herr: „Und dass man über Enteignungen laut nachdenkt, ist mehr als bedenklich, es ist ein Wahnsinn!“
Auch ÖVP-Spitzenkandidat Othmar Karas, der in den Medien gerne als der moderate, liberale EU-Freund porträtiert wird, zeigt hier klar, auf welche Seite er steht. In einer Presseaussendung lässt er ausrichten:
„Ein großer Teil Europas kämpft immer noch mit den Folgen kommunistischer Staatswirtschaft. Herrs Äußerungen sind eine Missachtung der historischen Erfahrung einer ganzen Hälfte unseres Kontinents.“
Was waren die Folgen der Privatisierung der „kommunistischen“ (richtig: verstaatlichten, denn demokratisch oder kommunistisch war die Gesellschaft nicht) Wirtschaft in der Sowjetunion tatsächlich?
Die Lebenserwartung fiel in Russland allein zwischen 1991 und 1994 von 68,9 auf 63,9 Jahre, Mitte der 1990er Jahre lag sie für Männer sogar nur noch bei 57,4 Jahren. Die Geburtenrate reduzierte sich von ca. 2 Kindern pro Familie auf unter 1,2.1 Eine IHS-Studie führte dies direkt auf wirtschaftliche Unsicherheit und Perspektivlosigkeit zurück.2
Das Wirtschaftsblatt schrieb 2011: „Während eine kleine Gruppe Superreicher die Schätze des Landes unter sich aufteilte, verfiel die Wirtschaft, insbesondere die Industrie, in den 90er-Jahren. Von 1991 bis 1996 halbierte sich die Industrieproduktion in Russland. Selbst 2010 lag die russische Industrieproduktion laut Statistikamt bei nur 83,8 Prozent des Niveaus von 1991 – im Fahrzeugbau liegt der Ausstoß sogar nur bei 49,6 Prozent.“
Auch in der DDR sah es nach der Wende nicht besser aus: „Zwei Jahre nach der Wiedervereinigung lag die Industrieproduktion in Ostdeutschland 73 Prozent unterhalb ihres Niveaus von 1989 (Windolf 2001, S. 396). Dabei brach die Beschäftigung in unterschiedlichen Branchen relativ unabhängig von einer gelungenen oder fehlgeschlagenen Privatisierung erheblich ein. Der Wirtschaftssoziologe Paul Windolf (2001, S. 411) schätzt, dass im Zeitraum von 1990 bis 1995 ca. 80 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung der DDR ihren Arbeitsplatz vorübergehend oder auf Dauer verloren haben.“3
Bis heute gibt es eine ungleiche Entwicklung zwischen Osten und Westen.
Es ist richtig, dass die Sowjetunion bereits vor ihrem Zerfall in einer Krise war. Aber das was hier zerfiel war kein Sozialismus oder Kommunismus, sondern eine bürokratische Diktatur, die sich jedoch auf eine verstaatlichte Wirtschaft stützte – das Erbe der Russischen Revolution, die degeneriert war. Entgegen der Behauptung der Bürgerlichen war nicht die verstaatlichte, geplante Wirtschaft das Problem, sondern die bürokratische Diktatur, die die gesellschaftliche Entwicklung und jede Kreativität erstickte. Schon der russische Revolutionär Leo Trotzki schrieb 1936 in seiner Analyse der Sowjetunion:
„In einer nationalisierten Wirtschaft setzt Qualität Demokratie für Erzeuger und Verbraucher, Kritik- und Initiativfreiheit voraus, d.h. Bedingungen, die mit einem totalitären Regime von Angst, Lüge und Kriecherei unvereinbar sind.“ (Trotzki, in: Verratene Revolution)
Die oben genannten Zahlen zeigen deutlich, dass die Wiedereinführung des Kapitalismus die Probleme nicht gelöst hat – im Gegenteil. Die Geschichte einer wohlhabenden, marktwirtschaftlichen Zukunft für den ehemaligen „Ostblock“ hat sich als Märchen herausgestellt. Die Restauration des Kapitalismus warf die Menschen mehr als ein Jahrzehnt zurück und kostete aufgrund von Wirtschaftseinbruch und Zusammenbruch des Sozial- und Gesundheitssystems Hunderttausenden das Leben. Auch von einer freien Demokratie ist in vielen der UdSSR-Nachfolgestaaten nicht zu reden – selbst dazu war der Kapitalismus nicht fähig.
Welche Demokratie wollen wir?
Über Julia Herrs Aussage „Nur im Parlament Politik machen funktioniert nicht.“ – man müsse auch Kampagnen, Aktionismus auf der Straße und Demonstrationen machen – wettert Karas:
„Wer Parlamente in Frage stellt, ist in schlechter Gesellschaft. Das haben bisher nur die FPÖ und ihre deutsche Schwesterpartei AfD gemacht. Hier zeigt sich, wie nah Linksextremisten und Rechtsextremisten beieinander liegen.“
Herr Karas hat hier wohl einige Geschichtsstunden verpasst und vergessen, dass es die Christlichsozialen, die Vorgängerpartei der ÖVP, waren, die 1934 das Parlament ausschalteten und den Austrofaschismus einläuteten. Erst den Parlamentsumbau 2017 nahm die Partei zum Anlass, das Porträt vom Putschisten Engelbert Dollfuß im Raum des ÖVP-Parlamentsklub abzuhängen. Einschnitte in demokratische Rechte sind auch für die heutige ÖVP kein Problem, wenn es den Interessen der Herrschenden dient; denken wir nur an die jüngste Debatte zur „Sicherungshaft “.
Doch wir müssen die ganze Wahrheit aussprechen: der bürgerliche Staat und die Demokratie, in der wir leben, dient in allererster Linie dazu, den Kapitalismus zu stützen, indem er die möglichst reibungslose Ausbeutung der arbeitenden Menschen durch die Unternehmen sicherstellt. Über tausend Fäden sind die großen Konzerne mit Freunden in der Politik verbunden. Das Regierungsprogramm von Schwarz-Blau liest sich wie eine Wunschliste der Industriellenvereinigung. Wie Marx im Kommunistischen Manifest richtig feststellt: „Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet.“
Dies werden wir nicht allein mit Demonstrationen und Aktionismus auf der Straße verändern können – dafür braucht es die Aktivität der Massen, die das alte System umkrempeln und den alten Staat zerschlagen, kurz: eine Revolution. Entgegen alter Vorurteile lehnen MarxistInnen die Teilnahme an Wahlen oder die Arbeit im Parlament aber nicht ab. Vielmehr müssen wir das Parlament als Bühne nutzen, um die Ideen des Sozialismus zu verbreiten und den Klassenkampf voranzutreiben. Dabei kämpfen wir für jede Reform, die das Leben der arbeitenden Menschen verbessert und stellen uns entschlossen gegen Verschlechterungen.
Das Ziel von MarxistInnen ist es, den derzeitigen bürgerlichen Staat durch eine tatsächliche Demokratie der arbeitenden Menschen zu ersetzen. VertreterInnen sollen nicht mehr verdienen als durchschnittliche FacharbeiterInnen. Deshalb ist die Arbeiterdemokratie, von der MarxistInnen sprechen, etwas anderes als die bürgerliche Demokratie, die in letzter Instanz immer die Interessen der KapitalistInnen schützen wird. Die Wirtschaft muss unter die Kontrolle der Gesellschaft gestellt werden, damit sie nicht für die Profitinteressen einer Minderheit, sondern für das Wohl der Menschen produziert. Und wir können nicht kontrollieren, was uns nicht gehört. Deshalb hängen Sozialismus, Verstaatlichung und wirkliche Demokratie eng zusammen.
Für eine demokratische Planwirtschaft unter Arbeiterkontrolle!
Es gibt keinen Grund, sich von der Stimmungsmache der Bürgerlichen einschüchtern zu lassen – die Realität zeigt, dass der Kapitalismus unfähig ist, die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Sie reagieren auf die Forderung von Verstaatlichung mit solcher Vehemenz, da es um ihre Fabriken, ihr Eigentum, geht, um das sie zittern.
Dennoch sprach sich SPÖ-Vorsitzende Rendi-Wagner in vorauseilendem Gehorsam gegen Verstaatlichung aus, und hielt fest, dass „Kollektivierung nicht in ihrem Vokabular“ sei. Damit entscheidet sie sich in der Debatte klar für die Unterordnung unter die Interessen des Kapitals.
Wir unterstützen den Ruf nach Verstaatlichung von Kevin Kühnert und Julia Herr. Die Debatte um Verstaatlichung zeigt deutlich, auf welcher Seite im Kapitalismus man steht: auf der Seite der privaten Profiteure von einem ausbeuterischen System, oder auf der Seite der Arbeiterklasse? Das ist die wirkliche Frage, die unsere Gesellschaft spaltet – nicht, welche Herkunft wir haben oder welcher Religion wir angehören.
Wir begrüßen also die Debatte, die vom Juso-Vorsitzenden aufgeworfen und der SJ-Vorsitzenden weitergeführt wurde. Dennoch stimmen wir nicht allen Aussagen der SJ-Vositzenden zu. Julia Herr erklärte zu Verstaatlichungen: „Ich glaube, das ist eine Forderung, die langfristig ist. Wir werden nicht von heute auf morgen alles verstaatlichen.“ (Kurier, 2. Mai 2019) In einem Interview mit oe24 meinte sie weiter: „Ich glaube, dass das [Verstaatlichung, Anm.] nicht nur am Wohnungsmarkt der richtige Weg ist, sondern auch bei der Wasserversorgung und beim Transport.“ (oe24, 3. Mai 2019).
Tatsächlich sind diese Infrastrukturbereiche jene, für die es zahlreiche internationale Beispiele für das Versagen der Privatwirtschaft gibt (Deutsche Bahn, die Bahn in Großbritannien, Brücken in Italien und Autobahnen in den USA, massive Spekulation mit Wohnraum usw. …). Doch es ist zu wenig, sich auf diese Sektoren zu beschränken.
Tatsache ist: Auch verstaatlichte Unternehmen agieren im Kapitalismus nach Profitlogik. Das heißt sie sind den Krisenzyklen des Marktes unterworfen, stehen unter Druck, Beschäftigte zu entlassen, wenn gespart werden muss usw. Daher fordern wir MarxistInnen, dass die Wirtschaft insgesamt unter Kontrolle der Arbeiterklasse geplant werden soll. Das ist möglich durch eine Verstaatlichung der Schlüsselindustrien, Banken und Großkonzerne unter Kontrolle der Beschäftigten. Auch das Grundsatzprogramm der Sozialistischen Jugend hält korrekterweise fest:
„Wir sehen in der Verstaatlichung von Banken und strategisch wichtiger Industrien einen wichtigen Schritt, um auf das Wirtschaftsleben planend Einfluss zu nehmen. Sozialistische Verstaatlichungspolitik darf sich aber nicht darin erschöpfen, einige Schlüsselunternehmen (vorübergehend) unter die Kontrolle staatlicher Bürokratie zu stellen, sondern muss vielmehr darauf abzielen, immer weitere Teile der Wirtschaft unter die direkte demokratische Verwaltung durch die arbeitenden Menschen stellen. … Wir sind überzeugt, dass wir Arbeitslosigkeit und Wirtschaftskrisen nur dann dauerhaft überwinden können, wenn wir das durch marktwirtschaftliche Profitlogik erzeugte Chaos der „Überproduktion“ durch eine planvolle Gestaltung von Investitionen und Produktion ersetzen. Investitionen und Produktion sollen nicht von Gewinnchancen, sondern von gesellschaftlicher Sinnhaftigkeit abhängig gemacht werden und der demokratischen Kontrollen aller unterliegen.“
Weltweit erleben wir täglich die Folgen eines Wirtschaftssystems, das nur für Profite produziert und dabei unfähig ist, die drängendsten Probleme unserer Gesellschaft zu lösen. Sozialistische Ideen werden, vor allem in der Jugend, immer beliebter. Den zehntausenden Jugendlichen und ArbeiterInnen, die den Status Quo satt haben, und eine Alternative suchen müssen wir deshalb marxistische, sozialistische Ideen mit Selbstbewusstsein präsentieren: Die Lösung der Krise der Menschheit und der Klimakrise ist nur möglich durch den Kampf um eine sozialistische Revolution, eine Verstaatlichung der Schlüsselindustrien und Banken und den Aufbau einer demokratisch geplanten Wirtschaft unter Kontrolle der arbeitenden Menschen.
[1] https://www.berlin-institut.org/fileadmin/user_upload/Russland/Kurzfassung_Russland.pdf