Schutzzoll oder Freihandel?

Der Ausbruch des Krieges in der Ukraine im Februar 2022 hat die Ära der Globalisierung endgültig beendet. Russland wurde mit Sanktionen in historisch einmaligem Ausmaß belegt. Vor allem die USA unter Donald Trump, aber auch die anderen Großmächte errichten untereinander Handelsschranken oder drohen damit. Welche Haltung sollte die Arbeiterbewegung dazu einnehmen? Von Sandro Tsipouras.
Die europäischen „Experten“ reagieren mit Empörung auf das Ende des Freihandels. Auf der anderen Seite gibt es Überlegungen, ob eine aktive Schutzzollpolitik nicht nützlich sein könnte. Beide Herangehensweisen vereint der Irrtum, die Regierung eines Staates könnte willkürlich politisch entscheiden, wie sie sich zum Weltmarkt verhalten will.
Im Mittelalter war Europa ein Fleckenteppich aus winzigen, isolierten Märkten. Der aufkommende Kapitalismus schuf an ihrer Stelle wenige große Märkte, die Millionen von Menschen umfassten: die modernen Nationalstaaten. Nur in der Donaumonarchie und dem Zarenreich verzögerte sich die Durchsetzung dieses Modells bis ins 20. Jahrhundert.
Je produktiver der Kapitalismus wurde, desto mehr drängte es die Kapitalisten der stärksten Nationen dazu, die Grenzen des nationalen Marktes zu überschreiten – weil sie mehr Abnehmer für ihre Waren oder mehr Arbeiter für ihre Fabriken brauchten. Daraus entstand der Weltmarkt und schließlich der Imperialismus. Der Imperialismus ist die höchste und letzte Stufe des Kapitalismus – ein System, in dem Staaten Werkzeuge der wirtschaftlichen Expansion ihrer Konzerne sind und die mächtigsten Staaten (mit den produktivsten Unternehmen) die Welt unter sich aufteilen.
Freihandel und Protektionismus haben sich zusammen mit den Aufwärts- und Abwärtsbewegungen der Weltwirtschaft entwickelt. So leitete die Wirtschaftskrise von 1873 in Deutschland und Österreich („Gründerkrach“) eine Phase des Protektionismus ein, um die heimische Industrie und Landwirtschaft vor Importen aus dem produktiveren Ausland (damals Großbritannien) zu schützen.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts setzte wiederum die britische Industrie immer deutlicher auf protektionistische Maßnahmen um sich wiederum vor dem aufsteigenden Rivalen Deutschland und den USA zu schützen. Nach der Wirtschaftskrise 1929, in den frühen 1930er Jahren setzten viele Länder auf massive Zollschranken und Maßnahmen, um den Binnenhandel zu begünstigen. Der Welthandel brach innerhalb drei Jahren um etwa 30% ein, was die Krise weltweit enorm vertiefte.
Die Konkurrenz zwischen den Staaten ist eine höhere Ebene der Konkurrenz zwischen den einzelnen Großunternehmen. Freihandel und Protektionismus sind zwei verschiedene Taktiken für die Kapitalisten und ihren Staat, sich am Weltmarkt durchzusetzen. Weil das Kapital nicht aufhören kann, zu expandieren, ist der Protektionismus vor allem dafür da, sich fit und konkurrenzfähig zu machen, bevor man erneut in den Ring steigt und „Freihandel!“ fordert. Wer sich nicht öffnet, muss dann damit rechnen, dass er dazu gezwungen wird.
Die Entwicklung, die rückblickend oft als „Globalisierung“ bezeichnet wird, begann nach dem 2. Weltkrieg mit einem weltweiten Nachkriegsaufschwung („Wirtschaftswunder“). Die kapitalistische Welt vereinte sich hinter den USA, um der Sowjetunion die Stirn zu bieten. Die Führungsmacht der „Freien Welt“, forcierte den Freihandel, um ihre im Krieg geschaffene industrielle Überkapazität auszulasten und sich am Wiederaufbau zu bereichern. Dazu wurden die Vorläufer der EU und WTO (Welthandelsorganisation) gegründet.
In den 1990er wurde durch die Wiedereinführung des Kapitalismus in der Sowjetunion und in China der Weltmarkt enorm vergrößert. Rohstoffabbau und Industrieproduktion konzentrierten sich dort, wo sie am billigsten waren. Die Globalisierung der Lieferketten und Produktionsprozesse ermöglichte die Entwicklung einer ganzen Reihe moderner Technologien vom Smartphone bis zum E-Auto. China wurde immer mehr zum Hauptprofiteur dieses Prozesses und überholte 2010 die USA als führendes Industrieland. Jetzt erbringt es 30% der weltweiten Industrieproduktion.
Die Trendwende kam nach der Finanzkrise 2008: Erst Obamas „Buy American“-Politik, dann Trumps Handelskrieg gegen China, schließlich die Pandemie und der Ukraine-Krieg beendeten die Ära des freien Handels. Die einmalige Rolle des Staates in der chinesischen Wirtschaft, ermöglichte es dort, trotz Krise und Pandemie die Produktivität seiner Industrie immer weiter zu steigern. Jetzt wird China zum Opfer seines eigenen Erfolgs: Obwohl die Arbeiter aller Länder sich über billige chinesische Waren freuen würden, sind sich die Kapitalisten einig, dass billige Waren von dort eine Gefahr für ihren eigenen Profit und Macht sind.
Freier Handel heißt: Freizügigkeit für Arbeitskräfte, billige Importgüter und Lohndruck durch internationale Konkurrenz. Protektionismus heißt: dichte Grenzen, teure Importgüter und Lohndruck durch sinkende Produktivität. Gegen den Lohndruck hilft nur der Klassenkampf – sich einen höheren Anteil am Profit der Kapitalisten zu erkämpfen.
Eine produktive Wirtschaft ist auf dem Weltmarkt durchsetzungsfähig und setzt auf Freihandel. Eine schwache Wirtschaft setzt auf Handelsschranken. Die Expansion der Produktion nach 1945 führte zur erwähnten Globalisierung. Die weltweite Überproduktion seit 2008 beendet sie. Gegen diese Stagnation hat der Kapitalismus jedoch kein Rezept. Die Wurzel der kapitalistischen Krise liegt in der Produktion, nicht im Handel. Es wird zu viel produziert, als dass alle Waren profitträchtig auf den Markt gebracht werden können.
„Was ist also unter dem heutigen Gesellschaftszustand der Freihandel? Die Freiheit des Kapitals“, und sonst nichts, wusste Marx schon 1847 (Rede über den Freihandel). Über Propaganda für den Freihandel spottete er nicht weniger bissig: „Es ist besser, von seinen Landsleuten, als von Fremden ausgebeutet zu werden … Das hieße doch zuletzt an die Philanthropie des Kapitals appellieren, als ob das Kapital als solches Philanthrop sein könnte. Im allgemeinen können die sozialen Reformen aber auch niemals durch die Schwäche des Starken bewirkt werden; sie müssen und werden ins Leben gerufen werden durch die Stärke des Schwachen.“ (K. Marx, Die Schutzzöllner, die Freihandelsmänner und die arbeitende Klasse)
Eine internationale Zusammenarbeit im Interesse der Arbeiterklasse erfordert, dass sie die Macht ergreift, die Kapitalisten enteignet und eine demokratische sozialistische Planwirtschaft aufbaut. Wenn Technik, Wissenschaft, Industrie und natürliche Grundlagen in Einklang gebracht werden, können die Lebensgrundlagen des Planeten und die Bedürfnisse der Menschheit in den Mittelpunkt der Produktion rücken. Freihandel oder Protektionismus aber sind nur zwei Taktiken der Kapitalisten auf dem Weltmarkt, um den eigenen Profit abzusichern.
Der Reformismus geht von der Illusion aus, dass Löhne und Arbeitsplätze von der Höhe des Profites abhängen. Deswegen will er den Erfolg der Kapitalisten und macht sich Sorgen um Profitmasse, Investitionsquote, Exportüberschuss und sonstige Messwerte der Profitmacherei. Es bringt uns aber nichts, den Kapitalisten dabei unter die Arme zu greifen. Die Kapitalisten versuchen so oder so – mit oder ohne Zölle oder Freihandelsabkommen –, den im Inland und Ausland produzierten Reichtum möglichst für sich zu behalten. Ob die Arbeiterklasse von ihrer Arbeit leben kann, hängt nicht am Erfolg ihrer Ausbeuter, sondern am Erfolg ihres Kampfes gegen die Ausbeuter.