Im Kunsthistorischen Museum Wien (KHM) läuft gerade eine Ausstellung, für die Werke von Rembrandt und seinem Schüler Hoogstraten aus der ganzen Welt eingeflogen wurden. Sie sind Zeugnis der Epoche der bürgerlichen Revolution, wo in der Malerei Fragen von Individualität und Erkenntnis verhandelt wurden. Von Laura Höllhumer.
Kein anderer Künstler hat eine derartige Anzahl und Vielfalt an Selbstbildnissen geschaffen wie Rembrandt. So ist auch das erste Werk, das man beim Betreten der Ausstellung sieht, das „Selbstbildnis mit Hut und zwei Ketten“ von 1642.
Am Höhepunkt seiner Berühmtheit zeigt er sich hier im für das niederländische Bürgertum des 17. Jahrhunderts typischen schwarzen Gewand und mit goldener Kette. Die Kette war ein Zeichen des Adels und eine Ehrenbekundung an Künstler. Rembrandt hatte sie allerdings nie verliehen bekommen, sondern verleiht sie sich sozusagen selbst.
Die Kunsthistorikerin Daniela Hammer-Tugendhat fasst die Bedeutung dessen so zusammen: „Ich muss nicht geadelt werden, sondern mein Adel resultiert in meiner künstlerischen Leistung. Das ist natürlich eine zutiefst bürgerliche, anti-höfische Haltung.“
Das Gesicht ist durch Licht und Farbe deutlich vom dunklen Hintergrund hervorgehoben. Der Blick fixiert den Betrachter und man hat das Gefühl, selbst vom Künstler gemustert zu werden. Insgesamt vermittelt das Portrait den Eindruck einer differenzierten, reflektierenden Persönlichkeit.
All das war etwas radikal Neues. Das Portrait ist ein Produkt der Renaissance und des aufkommenden Bürgertums. Die aristokratischen Gutsbesitzer hingegen waren Vertreter ihres adeligen Geschlechts und ihres Bodens, dem sie ihre Stellung verdankten. Dementsprechend spielte in der feudalen Gesellschaft Individualität fast keine Rolle und in der mittelalterlichen Malerei gibt es auch kaum Darstellungen individualisierter Menschen. Das war weniger eine Frage des Könnens, sondern der gesellschaftlichen Relevanz. Rembrandt perfektionierte die Porträtkunst.
Kapitalismus im Aufschwung
Mit dem Aufstieg der Handelsstädte des neuzeitlichen Hollands und dem wirtschaftlichen Erfolg reicher Kaufleute tritt das Individuum jedoch voll hervor. Mit Talent und etwas Glück konnte im „Goldenen Zeitalter“ jeder großen Reichtum erwerben – und ihn genauso schnell wieder verlieren.
Die Niederlande erkämpften 1581 im Zuge eines revolutionären Krieges die nationale Unabhängigkeit vom feudalen, von den Habsburgern regierten Spanien, was den Boden für eine sprunghafte kapitalistische Entwicklung legte. In der bürgerlichen Republik hatten Adel und Klerus jeden Einfluss verloren.
Auch die Stellung des Künstlers änderte sich. Er war kein Hofkünstler mehr, sondern produzierte hauptsächlich für den Markt. Es war eine Stellung, die mehr Freiheit, aber auch mehr Unsicherheit brachte, wovon auch Rembrandt ein Lied singen konnte.
Die späten Selbstportraits, die in der Ausstellung präsentiert werden, zeigen einen veränderten Menschen. Der Blick ist schwer zu deuten, transportiert aber große Offenheit, Schmerz und Verletzlichkeit. Rembrandt versucht das Unsichtbare, sein Inneres sichtbar zu machen. Seine Malweise mit der Vielzahl an Schichten korrespondiert damit.
Individuum und Erkenntnis
Die Gemälde der holländischen Meister waren Teil einer breiten gesellschaftlichen Debatte über die Rolle der Persönlichkeit und die Möglichkeiten von Erkenntnis. Die naturalistischen Stillleben, der zweite Schwerpunkt der Ausstellung, spiegeln das für die damalige Epoche neue, wissenschaftliche Herangehen an die Wirklichkeit wider.
Die Ausstellung „Farbe und Illusion“ im KHM schafft es jedoch nicht, das zu vermitteln. Nicht die Erkenntnis der Wirklichkeit durch die Kunst steht im Fokus. Dem Besucher wird vielmehr vermittelt, der Inhalt der Gemälde beschränke sich auf „illusionistische Täuschung und virtuelle Realität“, also visuelle Tricks, um den Betrachter zu täuschen.
Das ist symptomatisch für die Ideologie der heutigen Bourgeoisie. Sie hat die Ideale ihrer Jugend längst aufgegeben. Die heute dominante Philosophie der Postmoderne lehnt Wissenschaftlichkeit generell ab und dementiert sogar, dass es überhaupt handlungsfähige Individuen gibt.
Der Marxismus greift das Beste aus der Geschichte auf. Aus der Epoche der bürgerlichen Revolution insbesondere das Verständnis, dass der Mensch die Wirklichkeit erkennen und verändern kann. Aber nicht nach eigenem Gutdünken, sondern indem er die Natur und Gesellschaft und ihre Gesetze studiert.
Rembrandt steht wie kein anderer für eine Malerei, die das Individuum in den Mittelpunkt rückt. Während individuelle Verwirklichung im Kapitalismus immer nur einer kleinen Minderheit möglich ist, kämpfen wir für ein neues „Goldenes Zeitalter“, in dem alle Menschen Zugang zu Kunst und Kultur haben und ihre Individualität voll entfalten können.
(Funke Nr. 228/09.11.2024)