„Poor things“ entführt den Zuschauer in eine träumerische Fantasie eines futuristischen Viktorianismus, welche unter Regisseur Yorgos Lanthimos mit meisterhaft atmosphärischer Kinematographie und herausragendem Schauspiel gemalt wird. Von Miriam Schaller.
Der Film im Steampunk-Stil dreht sich um Bella Baxter, eine junge Frau, die von Wissenschaftler und Vaterfigur Godwin das Gehirn eines Fötus eingepflanzt bekommt. Unberührt von der Außenwelt wächst sie in seiner Villa auf, wo sie als wissenschaftliches Experiment behandelt wird. Als sie mit dem Studenten McCandles verlobt wird, lebt sie zwar in einem erwachsenen Körper, aber ihr Verhalten ist das eines Kleinkinds. Ihre kindliche Naivität verzaubert auch einen Anwalt mittleren Alters, mit dem sie durchbrennt.
Ihre sexuellen Erfahrungen werden als Befreiung aus dem goldenen Käfig dargestellt, denn abgeschnitten von der Gesellschaft lernte sie nicht, sich als „normale“ unterdrückte Frau zu benehmen. Trotzig-komisch widersetzt sie sich ihrem Liebhaber, der versucht sie in ihre Rolle zu zwingen. Um seine Kontrolle über sie zu bewahren, entführt er sie auf ein Kreuzfahrtschiff, wo Bella nicht nur philosophische Ideen kennenlernt, sondern auch Armut sieht. Sie versucht all ihr Geld der hungernden Bevölkerung Alexandrias zu geben, tatsächlich landet es in den Händen von zwei Matrosen. Die zentrale Lehre daraus ist zynisch: Die menschliche Natur ist unbelehrbar, die Klassengesellschaft kann nicht gestürzt werden.
In Geldnot wird das Paar vom Kreuzfahrtschiff geschmissen. Um sich über Wasser zu halten, beginnt Bella in einem Bordell zu prostituieren. Diese Episode spiegelt die in der Linken weit verbreitete Verklärung der Prostitution als „Sexarbeit“, als Akt weiblicher Selbstbestimmung, wider. Sie lernt dort auch eine Sozialistin kennen und kommt zu dem Schluss, dass sie ihre eigenen Produktionsmittel, ihren Körper, besitzt. Blöd nur, dass sie über diese nicht bestimmen darf – sondern die Madame und die Freier, die sie alle wie ein Objekt behandeln.
Als sie erfährt, dass Godwin im Sterben liegt, flüchtet sie nach London zurück. Ganz pragmatisch beschließt sie, in die für sie bestimmte bürgerliche Familie mit dem einstigen Verlobten zurückzukehren und Godwins Werk auf dem Gebiet der experimentalen Chirurgie weiterzuführen. Der Film endet mit der Darstellung ihres gemütlichen, bourgeoisen Lebens im Garten ihrer Villa, umgeben von der Sozialistin, ihrem aktuellen Ehemann und dem auf allen Vieren grasenden Ehemann aus ihrem früheren Leben, dem sie zur Strafe für sein autoritäres Verhalten das Gehirn einer Ziege eingepflanzt hat.
Der Weg der Protagonistin ist gezeichnet von den vielfältigen Formen der Frauenunterdrückung – der Film suggeriert, dass die Lösung im Individuum liegt. Die schaurig-schöne Ästhetik ist durchtränkt von postmoderner Ideologie. Am Ende des Films wird klar, welche Rolle Bella wirklich spielt: eine bürgerliche Frau, welche sich Selbstverwirklichung leisten kann. Am selben Platz wie am Anfang des Films, abgeschottet in einer Villa, muss man ja auch nicht an die ausgebeuteten Klassen in der Welt da draußen denken. Besonders ekelhaft, wenn die Bilder der hungernden Kinder im fiktiven Alexandria denen im realen Gaza gleichen.
(Funke Nr. 223/24.04.2024)