Ein Kommentar zur Vorratsdatenspeicherung und zur Rolle der Internet-Bewegung „Anonymous“ von Patrick Mellacher.
Kein Aprilscherz – ab heute wirst du überwacht!
Ab heute tritt die Vorratsdatenspeicherung in Kraft. Damit wird 6 Monate lang protokolliert, wer mit wem, von wo aus, wann, für wie lange und in welcher Form kommuniziert. Mit den gesammelten Daten können Bewegungsprofile erstellt und die Lebensgewohnheiten der gesamten Bevölkerung nachvollzogen werden. Man geht den nächsten Schritt in Richtung Überwachungsstaat. Der österreichische Ableger der Internet-Bewegung Anonymous sorgte im Vorfeld für Aufsehen, indem es im Rahmen einer „Gegenüberwachung“ die Veröffentlichung von 10.000 E-Mails aus den Accounts von PolitikerInnen versprach, die „die Republik erschüttern“ sollten. Die Aktion entpuppte sich allerdings als schlechter Aprilscherz. Grund genug, um Informationsfreiheit und die Formen des Widerstands gegen zunehmende Überwachung zu thematisieren.
Die Vorratsdatenspeicherung reiht sich nahtlos in eine Liste von Maßnahmen ein, die den Datenschutz und die Privatsphäre angreifen: die Novelle des Sicherheitspolizeigesetzes, ACTA und flächendeckende Videoüberwachung. In einer geplanten Richtlinie will die EU zudem unter dem Deckmantel der Bekämpfung der Cyberkriminalität drakonische Strafen gegen InternetaktivistInnen verhängen.
Die Politik der kleinen Verschlechterungen wird seit geraumer Zeit auf dem Gebiet der Bürgerrechte durchgeführt. Man will die Bevölkerung in kleinen, verträglichen Dosen an stetig mehr Überwachung gewöhnen. Der erbitterte Widerstand der Jugend gegen diese Agenda zeigt, welchen Stellenwert das Internet in dieser Bevölkerungsgruppe hat. Sehnte man sich in den 1970ern und 1980ern nach Freiräumen, hat man diese im neuen Jahrtausend schon gefunden: Das Internet bietet den Menschen die Möglichkeit die kapitalistischen Heilsversprechungen von Freiheit, Glück, Überfluss und Selbstverwirklichung einzulösen, die sie im realen Leben in diesem System nicht erreichen können.
Doch dunkle Wolken ziehen über der Internet-Community auf: Durch zunehmende Kommerzialisierung werden frei erhältliche Angebote an den Rand gedrängt. Die lebendige Kommunikation zwischen Erdteilen wird mehr und mehr überwacht und in Bahnen gelenkt, die sich zur profitablen Verwertung eignen. An die Stelle des Monopols der bürgerlichen Medien setzen sich Monopole von Sozialen Netzwerken. Die behördlichen Schließungen von Seiten wie kino.to, Hosting Services wie megaupload.com und Tauschbörsen, die das wichtigste kulturelle Angebot für viele Jugendliche darstellen, führten in der Vergangenheit oft zu einem Sturm der Entrüstung und Frustration. Einer der wichtigsten Gründe für die Beteiligung am Widerstand gegen ACTA und Vorratsdatenspeicherung war und ist die Angst davor, in Zukunft auf das kostenlose kulturelle Angebot im Internet verzichten zu müssen.
Neben der Rolle des Internets als Rückzugs- und Freiraum, die man als Renaissance des Biedermeier sehen kann, birgt das Internet auch ein subversives Element: Die Anonymität und Massenwirksamkeit werden sowohl von offenen Diktaturen als auch von bürgerlichen Demokratien gefürchtet. Erst vergangene Woche verschärfte die VR China die Internetzensur und sperrte Kurznachrichtendienste und Instant Messaging Systeme wegen der Verbreitung von „schädlichen“ und „illegalen“ Informationen.
Neben der schnellen Verbreitung von Informationen über die „echte Welt“ bietet das Internet auch gute Gelegenheiten zum virtuellen Protest. In dieser Hinsicht spielt derzeit die Bewegung Anonymous weltweit eine führende Rolle. Ihre ersten Sporen verdiente sich Anonymous im Kampf gegen die Sekte Scientology. In einer Serie von spektakulären Angriffen auf Kreditkartenfirmen, die Contentindustrie und offizielle Webseiten von Regierungen konnte sich die Bewegung als Rächerin der Internetgeneration gegen Repression durch Staaten und Großkonzerne etablieren.
Zunächst griff die Bewegung auf eine große Anzahl an AktivistInnen zurück, um Aktionen durchzuführen. Die reale Wirkung, die Seite einer Behörde oder eines Verlags mit der Hilfe von DdoS-Attacken, wo sich Menschen zusammenschließen um über ihre Internetanschlüsse die Zielwebsite mit Anfragen zu überfluten und so lahmzulegen, ist allerdings begrenzt. Aus diesem Grund verlagerten sich die Aktivitäten zusehends auf kompliziertere Angriffe. In diesem Prozess benötigte man keine große Basis von AktivistInnen mehr und entzog sich zunehmend der Kontrolle von Unten. So steckt die Bewegung im Prozess einer Degeneration zu einem kleinen und verschworenen Zirkel, dessen AktivistInnen keinem anderen als sich selbst verpflichtet sind.
Anonymous Austria, das nie über eine breite Basis von AktivistInnen verfügte, verkörperte von Anfang an den Typ einer elitären Kleinstorganisation. So lehnt man dezidiert den Begriff „Hacker-Kollektiv“ ab, der einzige offizielle Twitter-Account der Gruppe wird zudem von einer Einzelperson kontrolliert. Von diesem aus äußert man sich verächtlich über die Menschen, die von der Gruppe heute enttäuscht wurden.
Diese Einstellung darf nicht verwundern: Schon das Erkennungsmerkmal der Bewegung, die aus dem Film „V wie Vendetta“ bekannte Guy Fawkes-Maske, zeugt von einer fatalen Fehleinschätzung von Prozessen der gesellschaftlichen Veränderung. In dem Film weckt der Protagonist V, mit eben jener Maske und Kriegsmaterial bewaffnet, die Bevölkerung eines dystopischen Englands mit der Hilfe von Terroranschlägen auf und stürzt so die Diktatur. In dieser Revolution spielt das Volk eine passive und untergeordnete Rolle – es ist in keinster Weise an seiner Befreiung beteiligt. Eine Revolution, in der sich die Bevölkerung von Unterdrückung und Ausbeutung befreit, sieht anders aus. Anonymous Austria agiert in ähnlicher Manier und wundert sich nun, warum sich nicht mehr Menschen am Widerstand gegen die VDS beteiligten.
Die Alternative zu einem Widerstand, der von einer kleinen Gruppe getragen wird, ist ein Widerstand auf breiter Basis. In einer solchen Bewegung muss sich die Frage der Wählbarkeit ihrer VertreterInnen stellen – und ihrer Abwählbarkeit, falls sie den Ansprüchen nicht genügen. Entscheidungen müssen transparent und demokratisch erfolgen. Nur so kann die nächste Enttäuschung vermieden werden.