Lenin schrieb „Was tun?“ Ende 1901 und Anfang 1902. Das Buch ist eine Weiterentwicklung der
Ideen aus dem kurzen Text „Womit beginnen?“.
Beide sollten zusammen gelesen werden. Das Werk entstand in der Auseinandersetzung mit reformistischen Strömungen in der russischen Arbeiterbewegung.
Lenin setzte sich darin für eine revolutionäre Partei mit soliden theoretischen Prinzipien ein.
Schon früh in der Geschichte des russischen Marxismus gab es eine, wenn auch zunächst unklare, Trennlinie zwischen zwei unterschiedlichen Strömungen. Die revolutionäre Strömung, stützte sich auf die Arbeiterklasse und verband die Perspektive eines revolutionären Sturzes des Zarismus mit dem Kampf um Arbeitermacht. Hingegen legte die reformistische Strömung zwar ein Lippenbekenntnis zum Marxismus ab, vertrat aber die Politik der Klassenzusammenarbeit und der Unterwerfung unter die Liberalen.
Das war im Wesentlichen die Grundlage der Meinungsverschiedenheiten zwischen Marxisten und sogenannten Ökonomisten. In verschiedenen Formen und mit anderen Namen wiederholte sich der gleiche Kampf viele Male in der Geschichte der (russischen) revolutionären Bewegung, und dauert bis zum heutigen Tag in der weltweiten Arbeiterbewegung an.
„Was tun?“ ist eine Polemik und rechnet mit den opportunistischen Strömungen ab. Der wesentliche Gedanke, der sich durch das Buch zieht, ist die Notwendigkeit, professionelle Revolutionäre auszubilden. In Lenins eigenen Worten: „Das Ideal eines Sozialdemokraten 1 [muss] nicht der Sekretär einer Trade-Union, sondern der Volkstribun sein.“ Worauf Lenin hinauswollte, war keineswegs eine Geringschätzung der Auffassungsgabe der Arbeiterinnen und Arbeiter. Im Gegenteil war es sein Hauptanliegen, das kleinbürgerliche Vorurteil zu bekämpfen, dass „Arbeiter die Theorie nicht verstehen können“ und dass sich die Parteiliteratur auf ökonomische Parolen und unmittelbare Forderungen beschränken müsse. Seiner Meinung nach war eine reichhaltige, agitatorische gesamtrussische Zeitung ein wesentliches Werkzeug, die Erfahrungen aller unterdrückten Schichten der Gesellschaft zu verallgemeinern und zu konkretisieren.
Lenin argumentierte, dass es notwendig ist, ausgehend von den unmittelbaren Problemen der Arbeiterklasse, die für verschiedene Teilforderungen kämpft, über das Einzelne hinauszugehen und die Verbindung mit dem Allgemeinen herzustellen. Angefangen beim Kampf bestimmter Gruppen von Arbeitern gegen einzelne Kapitalisten sollte man beim Kampf der ganzen Arbeiterklasse gegen die Kapitalistenklasse und ihren Staat angelangen.
Lenin zeigte die dialektische Wechselbeziehung zwischen Agitation, Propaganda und Theorie auf. Er erklärte, wie die kleinen Kräfte des Marxismus, indem sie die klassenbewussten Schichten der Arbeiterklasse für sich gewinnen, anschließend die Masse des Proletariats und durch letztere alle anderen unterdrückten Schichten der Gesellschaft für ihr Programm gewinnen können. Diese Strategie zusammengenommen mit dem unnachgiebigen Kampf für theoretische Klarheit, bestätigte sich in der epochemachenden bolschewistischen Revolution von 1917.
Lenin verstand die Entwicklung der revolutionären Partei als komplexen Prozess, der über Jahre und sogar Jahrzehnte verschiedene Stadien durchläuft. In der Partei grenzen sich Strömungen ständig voneinander ab, es kommt zu Umgruppierungen und sogar Spaltungen, bevor sie als eine Massenkraft auftritt. „Was tun?“ war Ausdruck einer solchen Abgrenzung.
Lenin polemisiert zu Recht gegen die Überhöhung der „Spontaneität“ der Massen durch die Ökonomisten. Jedoch unterläuft Lenin ein Fehler. Er übertreibt seine richtige Idee und beschädigt ihren wahren Kern. Er behauptet, dass das sozialistische Bewusstsein, den Arbeitern „nur von außen gebracht werden [konnte]. Die Geschichte aller Länder zeugt davon, dass die Arbeiterklasse ausschließlich aus eigener Kraft nur ein trade-unionistisches Bewusstsein hervorzubringen vermag, d.h. die Überzeugung von der Notwendigkeit, sich in Verbänden zusammenzuschließen, einen Kampf gegen die Unternehmer zu führen, der Regierung diese oder jene für die Arbeiter notwendigen Gesetze abzutrotzen u.a.m.“ (Lenin Werke, Band 5, S. 385 f.)
Diese einseitige und fehlerhafte Darstellung des Verhältnisses von Arbeiterklasse und sozialistischem Bewusstsein war keine Erfindung Lenins. Er übernahm sie von Kautsky, den er damals als Hauptverteidiger des orthodoxen Marxismus gegen Bernstein betrachtete. Lenin selbst erklärte später, er habe „den Stock zu weit gebogen“, um einen anderen Fehler zu korrigieren.
Angefangen bei den Chartisten, hat die Geschichte viele Male gezeigt, dass die Arbeiterklasse im Kampf eigenständig zu einem sozialistischen Bewusstsein gelangen kann. Trotz dieser Übertreibung enthält Lenins „Was tun?“ eine Fülle von Erkenntnissen über den Aufbau einer revolutionären Partei. Krupskaja, Lenins Frau und Mitstreiterin, drängte alle zum Studium des Buches, „die Leninist in Taten und nicht nur in Worten sein wollen.“
1 Heute wird der Begriff „Sozialdemokrat“ mit mildem Reformismus assoziiert, aber im frühen 20. Jahrhundert bezog er sich auf marxistische Organisationen. Wenn Lenin von Sozialdemokraten spricht, bezieht er sich auf Revolutionäre, die versuchen, das kapitalistische System der Ausbeutung und Unterdrückung zu stürzen.
I. Kapitel: Dogmatismus und „Freiheit der Kritik“
„Was tun?“ beginnt mit einem Zitat aus einem Brief von Lassalle an Marx:
„Dass die Parteikämpfe gerade einer Partei Kraft und Leben geben, dass der größte Beweis der Schwäche einer Partei das Verschwimmen derselben und die Abstumpfung der markierten Differenzen ist, dass sich eine Partei stärkt, indem sie sich purifiziert, davon weiß und befürchtet die Behördenlogik wenig!“
Aus parteiinternen Auseinandersetzungen geht neue politische Klarheit hervor, die der Partei größeren Zusammenhalt und Zuversicht verleiht. Marx verstand die revolutionäre Partei alslebendigen Organismus, der sich stets weiterentwickelt. Im Laufe der Zeit hatte die Bewegung alle möglichen Personen mit klassenfremden Ideen angezogen, die eine sehr negative Rolle spielten. Dieser opportunistische Druck, der auf der Bewegung lastet, spiegelt die Zwänge des Kapitalismus wider.
Die „Freiheit der Kritik“ war ein modischer Slogan der Ökonomisten. Sie versuchten, die Sozialdemokratie in gewerkschaftliche Bahnen zu lenken und sie von einer Partei der sozialen Revolution in eine demokratische Partei der Reformen umzuwandeln. Dieser so genannte „kritische“
Trend war eine Spielart des Opportunismus: die Freiheit, bürgerliche Ideen in den Kampf für den Sozialismus einzuführen.
Die Zeitung Rabotscheje Delo, die Bersteins Revisionismus offen verteidigte, war das wichtigste Sprachrohr dieser Losung. Als Ökonomismus bezeichnet Lenin den politischen Grundsatz, den Arbeitern den wirtschaftlichen Kampf zu überlassen (Arbeitsbedingungen, Löhne, etc.), während die marxistischen Intellektuellen und die Liberalen den politischen Kampf führen sollten. Das ist ein Lehrbuchbeispiel dafür, das politische Niveau der Organisation herabzusetzen. In der Hoffnung eine Abkürzung zu den Massen zu finden, werden nur die drängendsten alltäglichen Probleme und tagespolitische Fragen behandelt.
Lenin argumentiert, dass diese Tendenz lediglich eine neue Variante des Opportunismus sei. Die Einheit zwischen Revolutionären und Liberalen, würde klassenfremde Ideen und Kräfte innerhalb des Aufbaus der revolutionären Partei zulassen. Die Verteidiger der „Freiheit der Kritik“ führen jedoch die 1880er und 1890er Jahre als Beispiel dafür an, wie die marxistische Literatur mit der von „Rabotscheje Delo“ vertretenen Idee des Pluralismus aufblühte.
Lenin räumt ein, dass dank des Bündnisses zwischen den legalen Marxisten (i.d.R. bürgerliche Demokraten), vulgarisierte marxistische Ideen, die Ideen des Narodowolzentums 2 verdrängten. Aber er argumentiert, dass die Voraussetzung eines solchen Bündnisses sein muss, „dass die Sozialisten die volle Möglichkeit haben, vor dem Proletariat den feindlichen Gegensatz seiner Interessen zu den Interessen der Bourgeoisie zu enthüllen.“ Das wäre nicht so, wenn es nach dem Willen der „kritischen“ Strömung ginge, da sie die Idee der Arbeitermacht und der sozialistischen Revolution ablehnte. Die Ideen der Ökonomisten liefen darauf hinaus, die Bewegung dem „Eklektizismus und der Prinzipienlosigkeit“ unterzuordnen.
Friedrich Engels betonte die Bedeutung des theoretischen Kampfes, neben den ökonomischen und politischen Kämpfen. Lenin griff das auf und unterzog diejenigen, die die revolutionäre Politik verwässern oder aufgeben wollten, einer grundsätzlichen Kritik: „Jetzt möchten wir nur darauf hinweisen, dass die Rolle des Vorkämpfers nur eine Partei erfüllen kann, die von einer fortgeschrittenen Theorie geleitet wird.“ Daraufhin wurde ihm Kompromissunfähigkeit und Sektierertum vorgeworfen. Lenin warnte seine Genossinnen und Genossen davor, sich dem
Opportunismus unterzuordnen. Nach seinen berühmten Worten:
„Ohne revolutionäre Theorie kann es auch keine revolutionäre Bewegung geben. Dieser
Gedanke kann nicht genügend betont werden in einer Zeit, in der die zur Mode gewordene
Predigt des Opportunismus sich mit der Begeisterung für die engsten Formen der praktischen Tätigkeit paart.“
2 Anhänger der Narodnaja Wolja (Volkswille/Volksfreiheit). Das war eine sozialrevolutionäre Untergrundorganisation im zaristischen Russland. Sie ist aus der Volkstümmler-Bewegung (Narodniki) hervorgegangen. Sie versucht mit Terror gegen den zaristischen Staatsapparat, die Bauernmassen zu revolutionären Erhebungen zu bewegen. 1881 organisierten sie den erfolgreichen tödlichen Terroranschlag auf Zar Alexander II.
Diskussionsfragen:
- Welche Beispiele für Ökonomismus/Reformismus gibt es heutzutage?
- Warum ist die Anbiederung an das reformistische Milieu innerhalb der Arbeiterbewegung schädlich für den Aufbau einer marxistischen Strömung?
- Lenins Argumente gegen die „Freiheit der Kritik“ werden oft von Reformisten und Akademikern gleichermaßen kritisiert, weil sie angeblich die Saat des Totalitarismus säen würden. Wie sollte man auf diese Kritik reagieren?
- Inwiefern verzerrt Rabotscheje Delo die Aussage von Marx, dass „jeder Schritt wirklicher Bewegung wichtiger ist als ein Dutzend Programme“?
- Wie können wir opportunistische Tendenzen innerhalb unserer Bewegung am besten bekämpfen?
II. Kapitel: Spontaneität der Massen und Bewusstheit der
Sozialdemokratie
Lenin stellt fest, dass die Stärke der gegenwärtigen Bewegung in den Streikwellen sichtbar ist, die das Land erschüttern. Ihre Schwäche zeige sich am „Mangel an Bewusstheit und Initiative bei den revolutionären Führern.“ Das Erwachen der Massen in den 1890er Jahren zeigte, dass die Spontaneität der Bewegung Bewusstsein in einer embryonalen Form darstellt.
Das widersprach den vorherrschenden Meinungen. Die Ökonomisten beugten sich vor jener Spontaneität. Lenin kritisierte sie dafür. Dabei überspannte der den Bogen. Er behauptete, dass die Arbeiterklasse, sich selbst überlassen, nur ein gewerkschaftliches Bewusstsein erreichen kann. Sie könne nur einen Kampf für wirtschaftliche Verbesserungen innerhalb der Grenzen des Kapitalismus führen.
Das widerspricht der historischen Erfahrung. Zum Beispiel entwickelte sich die Chartisten-Bewegung in Großbritannien über ein gewerkschaftliches Bewusstsein hinaus. Die Bewegung startete mit partiellen Reformen und Petitionen und landeten bei der Idee des Generalstreiks und sogar eines bewaffneten Aufstands (der Newport-Aufstand). Das geschah lange vor Lenins Zeit und bevor das Kommunistische Manifest verfasst wurde.
Es ist richtig, dass die marxistische Theorie, der höchste Ausdruck des sozialistischen Bewusstseins, nicht von der Arbeiterklasse hervorgebracht wurde. Aber Lenin überspitzte diesen Punkt und landet bei einer einseitigen Position. Trotzdem bietet das Kapitel eine Fülle von Informationen über die Wechselbeziehung zwischen Klasse und politischer Führung.
Lenin argumentiert gegen den Versuch von Rabochaya Mysl, die Rolle des „bewussten Elements“, d.h. die Rolle der Sozialdemokraten, herunterzuspielen. Er wirft die Frage auf, wie man die Aussage verstehen soll, dass die Massenbewegung der Arbeiterklasse die Aufgaben bestimmen wird. Einerseits könnte dies als Kniefall vor der Spontaneität dieser Bewegung verstanden werden. Dann werden Sozialdemokraten auf die Nachhut der Bewegung reduziert. Andererseits könnte dies so verstanden werden, dass die Bewegung neue theoretische, politische und organisatorische Aufgaben für die Sozialdemokraten stellt. Die Ökonomisten neigten zur ersten Deutung. Sie glaubten, dass die Massenbewegung ihnen die Mühsal der revolutionären Arbeit abnimmt.
Für Lenin stellt diese Periode neue komplexere Aufgaben. Die Sozialdemokraten müssten Mittel und Wege finden, die Initiative und Energie der Massen zu bündeln und auf revolutionäre Bahnen zu lenken. Er wirft die Frage wie folgt auf:
„Worin besteht denn die Rolle der Sozialdemokratie, wenn nicht darin, der ‚Geist‘ zu sein, der nicht nur über der spontanen Bewegung schwebt, sondern diese Bewegung auch auf die Höhe ‚seines Programms‘ emporhebt? Doch nicht dann, im Nachtrab der Bewegung einherzutrotten.“
Die Spontaneität der Massen verlangt von den Revolutionären ein hohes Maß an Bewusstsein. Ohne eine unabhängige Ideologie können die Massen in ihren Kämpfen nicht erfolgreich sein. Deshalb argumentiert Lenin, dass die Herabwürdigung der revolutionären Ideen durch die Ökonomisten nur zur Stärkung der bürgerlichen Ideologie führt.
Diskussionsfragen:
- In was für einer Beziehung stehen die Arbeiterklasse und die revolutionäre Führung zueinander?
- Welche Beispiele gibt es dafür, dass die Spontaneität der Massen über das gewerkschaftliche Bewusstsein hinausgeht?
- Warum wäre es eine schlechte Idee, nicht in die Kämpfe der Lohnabhängigen einzugreifen und es einfach der spontanen Bewegung zu überlassen?
- Warum ist der dialektische Materialismus – die marxistische Methode – eine entscheidende Waffe gegen die bürgerliche Ideologie?
III. Kapitel: Trade-unionistische und sozialdemokratische Politik
Die Ökonomisten lehnen Politik nicht gänzlich ab, sondern haben nach Lenin, eine rein gewerkschaftliche Auffassung von Politik. Er lehnt die Idee ab, dass sozialdemokratische Aktivität lediglich darin bestehen sollte, für bessere Bedingungen für den Verkauf der Arbeitskraft zu kämpfen. Sozialdemokraten sollten sich nicht auf die Beziehung der Arbeiterklasse zu einer bestimmten Gruppe von Bossen beschränken, sondern müssen den Horizont der Arbeiterklasse über ihre Beziehung zu allen Klassen der modernen Gesellschaft erweitern.
In diesem Sinne argumentiert Lenin, dass sich die politische Bildung nicht auf „die Idee der Feindschaft der Arbeiterklasse gegen die Selbstherrschaft“ beschränken darf. Auch heute ist es nicht die Aufgabe von Revolutionären, die Lohnabhängigen darüber zu informieren, dass sie von ihren Bossen ausgebeutet und unterdrückt werden. Sie erleben dies täglich und wissen das ohnehin.
Stattdessen muss Agitation an „jeder konkreten Erscheinung“ der Unterdrückung betrieben werden, um politisches Bewusstsein zu entwickeln. Die bürgerlichen Politiker, die Kapitalisten, der Staat und seine Institutionen, müssen bei jedem Anlass entlarvt werden.
Lenin lehnt die von den Ökonomisten vertretene Losung ab, dem ökonomischen Kampf einen politischen Charakter zu verleihen. Er weist darauf hin, dass dies die Aufgabe der Gewerkschaften
und nicht der Revolutionäre ist. „Mit einem Wort, wie der Teil dem Ganzen untergeordnet ist, ordnet sie [die revolutionäre Partei] den Kampf für Reformen dem revolutionären Kampf für Freiheit und Sozialismus unter.“ Eine Steigerung der Aktivität und des Bewusstseins der Massen ist nur möglich, wenn Revolutionäre sich nicht auf die „politische Agitation auf ökonomischem Boden“ beschränken.
Damit grenzt sich Lenin hart von den Ökonomisten ab. Er ist der Meinung, dass die politisch bewussten Schichten aus den aktuellen Ereignissen und politischen Entwicklungen lernen müssen,
„jede andere Klasse der Gesellschaft in allen Erscheinungsformen des geistigen, moralischen und politischen Lebens dieser Klassen zu beobachten.“ Sie sollen sich nicht nur auf ihre eigene
Unterdrückung konzentrieren. Die Arbeit der Revolutionäre kann nur dann als „wahrhaft sozialdemokratisch“ bezeichnet werden, wenn sie eine allseitige politische Entlarvung und Agitation betreiben.
Lenin stellte fest, dass die Sozialdemokraten damals kläglich unvorbereitet auf die sich entfaltenden Ereignisse waren. Sie beschwerten sich darüber, dass sie „hinter der Massenbewegung
zurückbleiben.“ Die Massen der Arbeiterinnen und Arbeiter, die wegen der skandalösen Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen streikten, waren zu diesem Zeitpunkt aktiver als die Sozialdemokraten. Das ist problematisch, denn so konnte die Energie dieser Bewegungen von nichtsozialdemokratischen Tendenzen ausgenutzt werden, die versuchen würden, sie von den Vorzügen der bürgerlichen Demokratie zu überzeugen.
Vor diesem Hintergrund pochte Lenin auf die Notwendigkeit einer geschulten revolutionären Führung. Er sah in ihr die einzige Kraft, die in der Lage ist, den unbewussten Wunsch der Arbeiterklasse und anderer sozialer Schichten nach einer Umgestaltung der Gesellschaft im Sinne des Sozialismus bewusst zu machen
Diskussionsfragen:
- Der Iskra, Lenins damalige Zeitung, wird vorgeworfen, „die Revolutionierung des Dogmas über die Revolutionierung des Lebens“ zu stellen. Ist das eine zutreffende Einschätzung der Argumente und Schlussfolgerungen Lenins?
- Was ist der Unterschied zwischen einem Propagandisten und einem Agitator? Muss ein Revolutionär beides sein?
- Warum ist die Auffassung, „den ökonomischen Kampf als das weitest anwendbare Mittel zur Einbeziehung der Massen in den aktiven politischen Kampf zu betrachten“, sowohl reaktionär als auch schädlich?
- Was sind die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Ökonomisten und Terroristen?
- Schließt Lenins Forderung, dass Revolutionäre „Volkstribune“ sein sollten, die Arbeit innerhalb der Gewerkschaften aus?
IV. Kapitel: Die Handwerklerei der Ökonomisten und die Organisation der Revolutionäre
Lenin erklärt, dass der von den Ökonomisten gepredigte ökonomische Kampf keine gesamtrussische zentralisierte Organisation erfordert, die „sämtliche Erscheinungen der politischen Opposition, des Protestes und der Empörung“ vereint, und er erfordert keine professionellen Revolutionäre. Lenin wendet sich dagegen, auf laienhafte Methoden und Perspektiven zu beharren und hält daran fest, dass die Aufgabe der Sozialdemokraten darin besteht, die für den Sturz des Kapitalismus erforderliche Führung zu sein.
Zu der Zeit, als Lenin „Was tun?“ schrieb, musste die zentralisierte, revolutionäre Partei unter strenger Geheimhaltung und im Untergrund aufgebaut werden, weil der zaristische Staat seine Gegner erbarmungslos verfolgte und unterdrückte. Lenin ließ sich aber nicht zur Schwarzseherei herab und beugte sich auch nicht vor den Ideen der Ökonomisten: „Gerade jetzt kann der russische Revolutionär, geleitet von einer wahrhaft revolutionären Theorie und gestützt auf eine wahrhaft revolutionäre und spontan erwachende Klasse, sich endlich – endlich! – in seiner ganzen Größe aufrichten und all seine reckenhaften Kräfte entfalten.“
Lenin argumentierte für eine Organisation aus Mitgliedern, die ihre revolutionäre Tätigkeit zu ihrem Beruf machen sollten. Innerhalb der revolutionären Partei dürfe es keinen Unterschied zwischen Arbeitern und Studenten geben. Alle sind Genossen und Kommunisten. Alle Vorurteile mussten draußen blieben und waren nicht willkommen. Lenin behandelte das nicht als Klassenfrage, sondern um als politische Frage. Was die Partei betraf, so wurden Studenten, mit bürgerlichen Wurzeln, zusammen mit Arbeitern, als Genossen in den Ideen des Marxismus erzogen. Dabei sollten sie ihre früheren Klassenvorurteile politisch aufgeben und auf den Standpunkt des Proletariats wechseln.
Lenin schreibt: „Hinter dieses allgemeine Merkmal der Mitglieder einer solchen Organisation muss jeder Unterschied zwischen Arbeitern und Intellektuellen, von den beruflichen Unterschieden der einen wie der anderen ganz zu schweigen, völlig zurücktreten.“ Der Kern dieses Kapitels ist die Absage an die Herabsetzung des Revolutionärs auf das Niveau des Amateurs. Das sei, was die Ökonomisten verlangen würden. Stattdessen argumentierte Lenin, dass die Aufgabe der Partei darin besteht, „die Arbeiter auf das Niveau von Revolutionären zu heben.“ Nur auf dieser Grundlage kann die Arbeiterklasse einen erfolgreichen Kampf gegen ihre exzellent ausgebildeten Feinde (Polizei, Geheimdienste und Militär) führen.
Lenin betonte ausdrücklich, dass eine gesamtrussische sozialdemokratische Partei eine Notwendigkeit sei. Das würde der Agitation mehr Stabilität verleihen und ihr eine konsequente,
theoretisch feste Linie vorgeben. Für Lenin sind die 1890er ein Beweis dafür. So lange sich die Sozialdemokratie nur auf lokale Publikationen verließ, war es für die Polizei sehr leicht diese zu schließen und dadurch die Kontinuität der Arbeit zu beeinträchtigen. Die lokalen Organisationen sollten daher ihre Kräfte in eine gesamtrussische Zeitung stecken, um der Bewegung eine umfassende Presseagitation zu ermöglichen.
Diskussionsfragen:
- Reformisten widersprechen der Hauptidee Lenins in „Was tun?“. Sie sagen, die Notwendigkeit einer bolschewistischen Partei sei nur in den Bedingungen des zaristischen Russlands notwendig gewesen. Ist das so?
- Wie geht Lenin mit den „studentenfeindlichen“ Vorurteilen einiger seiner Kritiker um? Wie können reiche Studierende ihren Klassenhintergrund überwinden?
- Wie definiert Lenin einen „Berufsrevolutionär“?
- Werden wir in den kommenden Klassenkämpf in Europa, auf strikte Geheimhaltung setzen müssen?
- Was für einen Stellenwert hat Zentralismus für Marxisten?
V. Kapitel: „Plan“ einer gesamtrussischen politischen Zeitung
Das fünfte Kapitel erweitert die in „Womit beginnen?“ gestellten Aufgaben. Lenin legt einen konkreten Plan für eine revolutionäre gesamtrussische Organisation vor. Der Plan wird von
Nadeshdin kritisiert, der das folgende Argument anführt: „Es ist notwendig, zur Bildung starker politischer Organisationen an den einzelnen Orten zu schreiten. […] Wenn [diese] nicht […] an den einzelnen Orten herangebildet werden, welche Bedeutung hat dann eine sei es auch vorzüglich geleitete gesamtrussische Zeitung? […] Es liegt [den Leuten] aber viel näher, sich um eine konkretere Sache zu sammeln und zu organisieren! […] Großzügige Herausgabe lokaler Zeitungen, […] die ständige Arbeit der örtlichen Organisationen unter den Arbeitslosen […]“.
Diese Argumente kennen wir nicht nur aus der russischen Bewegung des frühen 19. Jahrhunderts. Dagegen spricht, dass die Zentralisierung unserer Propaganda mit einer großen Zeitersparnis einhergeht. Das ist aber von zweitrangiger Bedeutung. Die Hauptaufgabe einer gesamtrussischen Zeitung ist es, die Ortsverbände zu schulen, zusammenzuschweißen, Erfahrungen aus Klassenkämpfen auszutauschen und zu verallgemeinern, politische Analysen aus dem ganzen Land und darüber hinaus zusammenzuführen und zu diskutieren, usw.
Die Zeitung ist wie ein Baugerüst für eine bundesweite revolutionäre Partei: „Die Gründung einer gesamtrussischen politischen Zeitung, hieß es in der Iskra, muss die wichtigste Richtschnur sein, an Hand deren wir die Organisation (d.h. die revolutionäre Organisation, die stets bereit ist, jeden Protest und jedes Aufflackern der Empörung zu unterstützen) unbeirrt entwickeln, vertiefen und erweitern könnten.“
Nadeshdin beklagt, dass die Sozialdemokraten die Revolution selbst verpassen würden, wenn sie sich mit dieser „Bücherweisheit“ abfinden. Natürlich braucht die Vorbereitung einer revolutionäre Organisationen Zeit. Die Bolschewiki durchliefen Jahrzehnte sorgfältiger Vorbereitung vor ihrem Erfolg im Jahr 1917. Lenin behielt Recht, dass diejenigen, die landesweite politische Agitation zum „Eckpfeiler ihres Programms“ machen, das geringste Risiko haben werden, die Revolution zu verpassen.
Diskussionsfragen:
- Organisationen wie die Linksjugend [‘solid] sind ein Beispiel dafür, wie sich lokale Organisationen einer zentralisierten Propaganda verweigern. Inwiefern schwächt das ihre Fähigkeit, den Kapitalismus zu bekämpfen?
- Warum haben wir immer noch eine Zeitung, obwohl wir eine Website haben?
- Lenin zitiert Pissarew, der über die Kluft zwischen Träumen und Realität schrieb. Inwiefern fehlte der damaligen Bewegung die Art des Träumens, derer Lenin selbst „schuldig“ war?
- Lenin beschreibt die Zeitung als einen kollektiven Organisator. Was meint er damit?
- Schließt eine bundesweite Zeitung die lokale Agitation aus?
Leseempfehlungen
- Womit beginnen? – Lenin
- The revolutionary lessons of Lenin’s ‘What is to be Done?’ – Rob Sewell
- Der junge Lenin – Leo Trotzki
- Massenstreik, Partei und Gewerkschaften – Rosa Luxemburg
- Bolshevism – The Road to Revolution – Alan Woods