In der heutigen Ausgabe der „Kronen-Zeitung“ erschien ein Bericht über den Mord eines Familienvaters in Los Angeles an seinen Kindern und seiner Ehefrau. Der Artikel „Nur ein Menschenleben“ von Rosa Luxemburg, vor 110 Jahren verfasst, könnte aktueller nicht sein…
“Aus Verzweiflung über seine finanzielle Lage hat ein Vater in Kalifornien seine fünf Kinder und deren Mutter erschossen. Danach nahm sich der Mann das Leben. Die Eheleute hatten kürzlich ihre Anstellung in einem Krankenhaus in Los Angeles verloren, berichtete die „Los Angeles Times“ in ihrer Mittwoch-Ausgabe. (…)
Ein ähnliches Familiendrama als Folge der Finanzkrise hatte im vergangenen Oktober Schlagzeilen gemacht. Als die Börsenkurse fielen und er sein einst stattliches Vermögen verlor, erschoss ein arbeitsloser Finanzberater in Los Angeles seine Ehefrau, seine drei Söhne sowie seine Schwiegermutter. Anschließend tötete der 45-Jährige sich selbst. Er hatte drei Briefe am Tatort mit Hinweisen auf sein Motiv hinterlassen.”
Kronen-Zeitung, 28.1.2009
Rosa Luxemburg: Nur ein Menschenleben
„Leipzig, 4. Mai
In der Schönhauser Allee Nr. 54 hat am 26 v.M. der Handelsmann Wilhelm Histermann im Alter von 38 Jahren seine acht und sechs Jahre alten Töchter Margarete und Erna getötet und dann sich selbst erhängt. In einem Brief, den er auf dem Tisch gelassen, teilte er mit, dass die Not und die Arbeitsunfähigkeit infolge der zunehmenden Blindheit ihn zwängen, auf diese Welt zu verzichten, dass er eine bessere finden hoffe und die Kinder in ein besseres Jenseits mitnehme, um niemand die Last ihrer Erhaltung aufzuerlegen. – Die Leichen wurden nach dem Schauhaus abgeholt, der Brief ist aus dem Polizeigewahrsam an das Gericht übergangen.“
Berliner Lokalnotiz
Wieder fiel einer, von dem gilt, was ein polnisches Sprichwort sagt: Bis die Sonne aufsteigt, frisst uns der Tau die Augen.
In dem Augenblick, als er mit dem Todes- und Mordgedanken rang, drang zu ihm durch das offene Fenster ein gemischter Chor menschlicher Lebensstimmen. Unten im Hofe klopfte der Bursche des Herrn Leutnants den Teppich und schäkerte dabei mit der rotwangigen Magd des Hauswirtes. Der Spengler im Nachbarhause hämmerte eintönig wie ein Specht mit hellem metallischem Klang. Eine Drehorgel begann die Trinkarie aus der „Traviata“ und unterbrach sie plötzlich bei der barschen Verweisung des Portiers. Von der Straße drang ins Zimmer das Rasseln der vorüberfahrenden Pferdebahn. Das Großstadtleben keuchte und polterte ringsumher. In der gleichen Stadt, auf derselben Straße, in demselben Hause, Wand an Wand, nur einen Schritt entfernt, wimmelten die Menschen, ging eifrig jeder seinen Tagesgeschäften nach, lief jeder seine Lebensfährte, und keine Seele kümmerte sich um dies mit dem Verbrechen, mit dem Tode ringende Menschenleben, niemand warf einen Blick auf das Elend, auf den Untergang dreier lebender Wesen. Nur eine Wand, nur einige Schritte trennten den Unglücklichen von seinen Mitmenschen, und doch lag zwischen ihm und ihnen ein unüberbrückbarer Abgrund. Es waren dieselben Menschen, sie sprachen dieselbe Sprache, waren vom gleichen Lande, und doch, wären sie vom anderen Weltteil, von anderer Rasse, wären sie vom Monde, er konnte ihnen nicht fremder, nicht gleichgültiger, unbekannter sein. Die „Gesellschaft“, die Zusammenfassung der Einzelmenschen zur „höheren Einheit“, das „organische Ganze“ war in jenem Augenblicke eine freche Lüge, ein Phantom, sie existierte nicht, sie war nicht da, „die Gesellschaft“, das verlöschende Menschenleben mit seiner schrecklichen Qual bebte ganz allein da, mit niemandem verbunden, von keinem Ganzen umfasst, an niemand gegliedert und gesellt, von allen getrennt und verlassen, auf sich selbst angewiesen, mitten im Menschengewühl wie ein Ertrinkender im fernen Ozean, wie ein im Luftraum wirbelndes Stäubchen. Von der ganzen Menschheit abgefallener Splitter, rang er in der Einsamkeit, in der geistigen und leiblichen Finsternis, und starb hilflos in seiner unumschränkten „individuellen Freiheit“, fiel ein „Freier“ im Kampfe ums Dasein, brach, ein großer Herr, ein Kulturmensch, auf seinem Elendslager zusammen, wie ein von allen verstoßener Hund auf einem Kehrichthaufen verreckt.
Und als der schreckliche Frevel gegen die Natur, als der Kindermord und der Selbstmord geschehen war – da wurde die „Gesellschaft“ zur Wahrheit, die Fiktion zur Realität. Sie schritt gravitätisch heran, die „Gesellschaft“, mit Schutzmannsuniform und Säbel, sie machte ihre Rechte als das „Ganze“, als die „höhere Einheit“ geltend: Sie nahm die Menschenleichen in Beschlag, sie protokollierte das ausgespielte dreifache Lebensdrama und eröffnete eine Untersuchung, um über den geschehenen Frevel ihr Urteil zu fällen.
Als der antike Sklave, von seinem Herren an das Kreuz geschlagen, in unsäglicher Qual sich krümmte, als der Leibeigene unter der Rute des Fronaufsehers oder unter der Last der Arbeit und des Elends zusammenbrach, da lag wenigstens das Verbrechen des Menschen am Menschen, der Gesellschaft am einzelnen offen, entblößt, schrecklich in seiner Nacktheit, himmelschreiend in seiner Brutalität. Der gekreuzigte Sklave, der gemarterte Leibeigene starb mit dem Fluche auf den Lippen, und sein verlöschender Blick traf hasserfüllt und Rache verkündend seine Peiniger.
Erst die bürgerliche Gesellschaft breitete über ihre Verbrechen den Schleier der Unsichtbarkeit. Erst sie sprengte alle Bande zwischen den Menschen und überließ den einzelnen seinem Schicksal, seinem Elend und seinem Verbrechen, um sich seiner erst nach seiner Entmenschung – geistigen oder leiblichen, durch Mord oder Selbstmord – zu erinnern. Erst sie zwang den Menschen, sich selbst zu entleiben und seine Kinder zu morden – im hellen Sonnenlicht, mitten auf lärmender Marktgasse, mitten im eintönigen stumpfsinnigen Gepolter und Gerassel der Alltäglichkeit, die nicht eine Sekunde bei dem Gefallenen hält, die nicht eines Blickes seine Leiche würdigt. Erst die bürgerliche Gesellschaft hat ihrem Massenmord den Schauder genommen, weil sie ihn alltäglich gemacht, bei den Opfern wie bei den Peinigern die Sinne abgestumpft hat, das Drama des menschlichen Daseins durch die menschliche Trivialität, den Schrei eines Untergehenden durch die Arie der Drehorgel, die Leiche eines Gefallenen durch den Staub der Großstadt deckend.
Und wir selbst, überfliegen wir nicht mit gelangweiltem Blick jeden Tag die „vermischten Nachrichten“ auf vorletzter Seite unserer Tageszeitung, diesen großen Müllkasten, in dem der Abfall der bürgerlichen Gesellschaft – Diebstahl, Mord, Selbstmord, Unfall – tagtäglich abgeladen wird? Gehen wir nicht in stumpfsinniger Ruhe an die Arbeit und von der Arbeit ins Bett? Und glauben wir nicht im stillen, weil uns der Friseur mit näselnder Stimme behaglich von einem Einbruch im gegenüberliegenden Haus erzählt, weil die Züge der elektrischen Bahn mit mechanischer Regelmäßigkeit durch die Straßen rasseln, weil die Bäume in den Anlagen knospen und blühen, wie wenn alles in schönster Ordnung wäre, weil jeden Abend in der Oper die Vorstellung ruhig in Szene geht, glauben wir denn nicht selbst im stillen, dass die Geschichte noch eine Weile in diesem Trab weitergehen könne, dass nichts Besonderes geschehen und dass wir allenfalls unseren Schoppen in Seelenruhe noch trinken können?
Und doch fällt in jedem Augenblick irgendwo neben uns ein Opfer, unverschuldet, hilflos, verlassen, mit einem furchtbaren Rätsel im Herzen, mit einer schrecklichen Frage auf den Lippen, mit einem erstaunten, hoffnungslosen Blick auf dies millionenköpfige und doch kopflose, mit Millionen Herzen schlagende und doch herzlose, Millionen Menschen umfassende und doch unmenschliche, taube, blinde Ungeheuer – die bürgerliche Gesellschaft!
Es gibt eine unheimliche slawische Volkssage vom Wij, die also lautet: Es war einmal eine menschenbewohnte Stätte, in der böse Geister sich eingenistet hatten. Unsichtbar und nur wie leichte Schatten unter den Menschen huschend, trieben sie ihr Unwesen, schändeten und töteten und tranken Menschenblut. Unzählig und furchtbar waren ihre Verbrechen, so furchtbar, dass man sie nicht einander zu erzählen wagte, und denjenigen, denen man sie flüsternd berichtete, wurden die Haare weiß vor Grauen, und sie selbst wurden zu Greisen. Und kein Mittel, keine Rettung gab es gegen die bösen Geister, da man sie nicht sah und nicht treffen konnte, ob man sie wohl um sich fühlte und ihren unheimlichen Flug, ihre schreckliche Berührung spürte. Da verlautete es, nur eins könne die Macht der bösen Geister brechen, wenn der Wij, der in tiefstem Erdengrund verborgen lebende eiserne Mann mit den langen Augenlidern bis zum Boden, die bösen Geister erblicken und zeigen würde. Man ging den Wij suchen, fand ihn und führte den eisernen Mann mit schwerem Schritt und geschlossenen Augen zu der Wohnstätte der Bösen. „Hebt mir die Augenlider“, sagte Wij, und seine Stimme war wie das Knarren von verrostetem Eisen. Man hob mit Mühe seine schweren eisernen Augenlider, die bis zu seinen Füßen herabhingen, er blickte auf und zeigte mit seinem eisernen Finger auf die böse Geisterschar, die im selben Augenblick sichtbar wurde und mit erschrockenem Flügelschlagen gebrochen zu Boden fiel.
Der „eiserne Mann“, der Mann der eisernen Muskeln, des eisernen Pfluges, des eisernen Hammers, des eisernen Rades – der Mann der Arbeit ist gefunden, er ist aus dem dunklen Erdengrund, wohin ihn die Gesellschaft verbannt hat, an die sonnige Erdoberfläche getreten. Man muss ihm nur die schweren Augenlider heben, auf dass er sieht und seine eiserne Hand streckt, damit die unsichtbaren bösen Geister, die die Menschheit seit Jahrtausenden plagen, ohnmächtig zu Boden sinken.
Dieser Artikel von Rosa Luxemburg erschien am 4. Mai 1899 in der Leipziger Volkszeitung, Nr. 101, einer Zeitung der SPD